Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
12. Brief
Würzburg, 25. 12. 1852
Innigeliebte Eltern!
Hoffentlich habt Ihr meine kleine Sendung ebenso zur rechten Zeit erhalten
wie ich Eure große; daß Ihr Euch aber auch nur halb so sehr über die meinige
gefreut habt, als ich über die Eurige, muß ich mit Recht bezweifeln, da ich
kaum glauben kann, daß jemand ein schöneres und erwünschteres Geschenk
bekommen hat als ich von Euch, und sich mehr darüber freuen kann . . .
Was soll ich vom Berghaus sagen? - Als ich zuerst das große, dunkle Buch im
Grunde der Kiste durchschimmern sah, erriet ich wunderbarerweise sogleich im
ersten Augenblick das Rechte! Während ich eilig die Hindernisse, die noch
darauf lagen, wegräumte, kam mir dieser Gedanke aber doch viel zu kühn vor,
und ich schämte mich fast, einen so unbescheidenen und doch so herzlichen
alten Wunsch wieder auszusprechen, meinte dann, es wäre Reineke Fuchs von
Kaulbach oder so was ähnliches. Doch wie soll ich Euch mein Erstaunen und
Entzücken schildern, als ich das verwirklich sah, was ich kaum zu hoffen
gewagt. Es wäre überflüssig, Euch meine unendliche Freude und meinen innigen
Dank dafür zu schildern. Ihr wißt selbst, meine besten Eltern, wie sehr der
Besitz dieses klassischen Werks ein wirklicher Lebenswunsch für mich von
jeher gewesen, und noch ist. Nur das will ich Euch gestehen, daß ganz
besonders in der letzten Zeit, seit sich der traurige und doch notwendige
Gedanke des Umsattelns weiter ausgebildet hatte, und mir in Bildern der
Zukunft das Studium der Mathematik, insbesondere aber der Physik, sowie der
künftige Lehrerberuf, vorschwebte, Berghaus' physikalischer Atlas einer der
wichtigsten Brennpunkte war, auf welchen sich meine nächsten Wünsche für die
Zukunft konzentrierten, und auf den ich immer wieder zurückkam. Oder habe
ich gar in einem meiner letzten Briefe den alten, lieben Wunsch wieder
ausgesprochen? Soviel mir erinnerlich, habe ich ihn nur im stillen genährt,
da ich in meiner Niedergeschlagenheit an die Erfüllung dieses Wunsches
ebensowenig wie an diejenige andrer Hoffnungen zu denken wagte. Noch heute
früh, als ich erwachte, mußte ich mich von neuem besinnen, ob es nicht nur
ein schöner Traum sei, und als ich mich dann von der wirklichen Anwesenheit
des geliebten Buchs überzeugt, stürzte ich mich mit erneutem Entzücken
hinein. Doch ich versuche vergeblich, Euch meine Freude und die Hoffnungen,
die ich von dem Gebrauch des Meisterwerks, von dem Genuß, den es mir
gewähren wird, hege, zu schildern; viel besser werdet Ihr dies selbst
fühlen, meine einzigen Eltern, da Ihr ja meine kleine Seele durch und durch
versteht und erkennt. Nur das muß ich Euch noch sagen, daß ich ganz
insbesondre für meine Persönlichkeit den größten Nutzen und Genuß davon
haben werde. Es steckt in mir ein sozusagen reales, sinnliches Element, das
mich Gedanken und Tatsachen viel leichter auffassen und behalten, dieselben
viel fester einprägen läßt, wenn sie durch Bilder versinnlicht, als wenn sie
bloß in Worten trocken und nackt hingestellt werden. Ich sehe dies z. B.
sehr deutlich in der Anatomie, wo ich mühsam auswendig gelernte Sachen in
ein paar Tagen verschwitzt habe, dagegen das, wovon uns Kölliker eine wenn
auch noch so flüchtige Zeichnung gegeben hat, ganz fest sitzen habe und
behalte. Wie mir in dieser Beziehung der ausgezeichnete physikalische Atlas
zustatten kommt, und wie er mir wirklich "etwas fürs Leben" im eigentlichen
Sinne des Worts sein werden wird, könnt Ihr kaum denken. Eine große, große
Freude wird es mir auch sein, wenn ich mit Dir, liebster Vater, die
prächtigen Tafeln der Geograhie durchgehen und Dir dazu (das klingt
hochtrabender, als es gemeint ist!) physikalische Erläuterungen geben kann.
Das wird eine rechte Freude sein, wenn wir dann so gemeinschaftlich
studieren; hoffentlich geschieht es recht bald! Vorläufig ist es mir sehr
lieb, daß die Herrn Professoren wider alles Erwarten und ganz unverhofft
(dies Jahr zum erstenmal!) die nächste Woche in eine Ferienwoche umgewandelt
haben. Da kann ich mich dann schon tüchtig darin umsehen! - Auch für die
andren Geschenke seid schönstens bedankt: die Mundvorräte werdem mir
trefflich zustatten kommen und wieder für mehrere Wochen Abendbrot liefern.
Ich habe sie mir aber auch schon jetzt vortrefflich (noch eben wieder mit
meinen beiden Hausgenossen, den v. Franqués aus Wiesbaden) schmecken lassen,
namentlich da ich am Donnerstag (vorgestern) Fasttag gehalten hatte. Ich
habe nämlich vor, von Zeit zu Zeit Fastübungen, zum bloßen, puren Spaß,
anzustellen, als Vorbereitung teils zu dem künftigen Real- oder
Gymnasial-Lehrerberuf, teils zu etwa (jedoch nicht wahrscheinlich!) zu
machenden Reisn. (NB. Letzterer Gedanke kommt mir jetzt manchmal wieder der
Quere, besonders wenn ich in meinem Berghaus schwärme!) Weber hat es in
solchen Hungerübungen schon ziemlich weit gebracht; er fastet jetzt
regelmäßig 36 und mehr Stunden, und das zum bloßen Vergnügen, selbst wenn er
genug zu essen im Schrank hat und es gar nicht nötig hätte. Ich habe es
übrigens vorläufig im Hungerüben bloß mit 24 Stunden versucht, indem ich von
Donnerstag früh (nach Genuß des Morgenkaffees) bis Freitag zu derselben
Stunde weder einen Bissen Speise, noch einen Schluck Trank (nicht einmal
Wasser!) genossen habe, wobei ich mir sehr wohl befand, zu geistiger
Tätigkeit angeregt fühlte und keine weitere Folgen verspürte als etwas
gesünderen Appetit am folgenden Tag - . . .
Das Andenken von Großvater ist mir natürlich auch sehr wert; namentlich sind
mir die Haare seines teuren Hauptes eine liebe Erinnerung; was das Gold
betrifft, so kennt Ihr meine Meinung darüber; es hat für mich stets etwas
sehr Ängstliches. Um jedoch gehorsam zu sein, und das kostbare Geschenk
nicht unnütz liegen zu lassen, habe ich es gleich gestern abend und heute
früh gebraucht, und die Nadel vorn unter dem Halstuch angesteckt, was meinen
Bekannten gleich auffiel. Dabei schielte ich aber immer von Zeit zu Zeit
beklommen herunter, um zu sehen, ob sie noch dasitze . . .
Heute früh habe ich eine recht gute Predigt von einem älteren Pfarrer, der
mich im Äußern wie im Vortrage sehr an unsern lieben Onkel Bleek erinnerte,
gehört. Er stellte das Weihnachtsfest uns als einen Tag des Wunders, der
Ehre und der Gnade dar. Sie hat mir recht gefallen und war sehr einfach und
eindringlich. In den katholischen Kirchen soll in dieser Nacht sehr viel
Spektakel los gewesen sein, Musik, Aufzüge und dergleichen mehr. Nach der
Kirche ging ich im Hofgarten, welcher einem Merseburger Schloßgarten in
vergrößertem Maßstabe gleich und sich längs der Wälle hinzieht, spazieren.
Die Luft war so mild (es weht hier seit mehreren Tagen ein ganz warmer
Südwest; von Schnee noch keine Spur), die Bäume begannen schon so hübsch
auszuschlagen (sogar die Gageen guckten mit ihrem linealen, saftgrünen
Keimblatt schon 3/4 Fuß aus der Erde heraus), daß es mir fast ganz heimlich
war und in meinem Innern einmal wieder rechter Frühling wurde. Da habe ich
denn Gott recht innig gedankt, daß er mir so vortreffliche Eltern und
Verwandte geschenkt, und habe auch wieder rechtes Vertrauen gefaßt, daß er
es noch gut mir mir machen wird. In mancher Hinsicht fange ich doch den
Nutzen an einzusehen, den meine Trennung von Euch trotz alles Schweren hat.
Man wird viel eindringlicher und öfter auf sich selbst an- und dadurch zu
Gott hingewiesen. Der Glaube wächst dadurch unwillkürlich und überwindet den
Kleinmut, der zur Verzweiflung hinführen will. Auch die heutige Predigt wies
darauf schön hin, wie man nur durch den rechten Glauben an das
fleischgewordene Wort zum eigenen Frieden gelangen kann. -
Sonntags werde ich jetzt leider meist nicht mehr die Predigt besuchen
können, da grade um diese Zeit Demonstration der Kryptogamen im Botanischen
Garten ist, wozu keine andere Stunde aufzufinden war . . .
 Inhaltsverzeichnis
Brief 11................................Brief 13
Diese Seite ist Teil von Kurt Stübers online library
Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999
|