Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
16. Brief
Würzburng, 30. 1. 1853.
Liebe Eltern!
Eure Geldsendung, die ich gestern erhalten habe, kam mir ebenso überraschend
und unerwartet, als sie im Grunde unnötig ist. Der Umstand nämlich, daß ich
Euch gleich im ersten Monat meines Hierseins fast an 100 Taler gekostet
habe, hat mir einen solchen Schrecken eingejagt, daß ich mir vorgenommen
habe, in den drei übrigen nur 50 zu kosten. Ich habe nämlich ein paar
Kameraden gesprochen, die mir versicherten, mit 150 Taler per Semester
bequem auszukommen; und ich sehe gar nicht ein, warum ich es besser haben
soll als andere, namentlich, wenn ich dabei an meine Halleschen Freunde
denke, die noch nicht 50 Taler brauchen. Zu diesem Zwecke habe ich nun
verschiedene Reduktionen vorgenommen und durchgeführt in meinem état! -
Abends gehe ich höchstens einmal die Woche aus, und esse zu Hause für 2
Kreuzer Brot und dazu das delikate Pflaumenmus und die treffliche Wurst, die
Du, liebe Mutter, mir zu Weihnachten geschickt. Trotzdem ich von letztern
beiden Viktualien seit Neujahr fast jeden Abend gelebt, sind sie doch erst
zu drei Vierteln vertilgt. Zu Mittag esse ich auch nicht mehr für 21 Kr.,
sondern für 15 Kr. Dieser edle Mittagstisch erinnert mich immer an den, von
dem Papa oder Großpapa während ihrer Studentenzeit in Halle erzählten; in
manchen Stücken übertrifft er sie wohl noch. Das beste ist noch, daß man
eine tüchtige Portion Suppe bekommt, die ihr mir ja zum besondern Studium
empfohlen habt, und die auch leidlich gut ist; dafür ist nachher das
Rindfleisch, aus dem sie gekocht wurde, desto trockner, der reine
Faserstoff! Die Delikatesse des Sonntagsbratens zu beschreiben, ist meine
Feder zu schwach; nur das will ich erwähnen, daß er stets aus einem Stück
"Hasenrippchen" besteht, das in allen möglichen Regenbogenfarben opalisiert
und an dem selbst ein Schiecksches Mikroskop kein Fetttröpfchen nachweisen
könnte. Das Gemüse dazu besteht aus angesäuertem Kohl (NB. an dem einige
Mediziner immer den spezifischen Geruch der Hippursäure erkennen wollen!)
der einem namentlich behagt, wenn man vorher 2 Stunden Eingeweidelehre bei
Kölliker gehört und selbst seziert hat. Übrigens muß ich doch diesem
trefflichen Tische auch seine wahren Verdienste anerkennen und gebührend
würdigen, dazu vor allem, daß er Euer verwöhntes Leckermaul in einen
"Allesdurchesser" verwandelt hat, über den Ihr Euch freuen werdet (nur saure
Niere und Buttermilchsuppe sind noch ausgeschlossen!) und er das Motto
"Hunger ist der beste Koch" bewahrheitet. Zweitens dient er aber auch
wesentlich dazu, meine hoffende Freude auf Ostern zu vermehren. Jedesmal,
wenn ein saurer Bissen nur mit Widerwillen herunter will, denke ich: "Habe
nur Geduld, lieber Magen, wie trefflich wird dann Mamas Küche zu Ostern
schmecken!", und dann träume ich mich so in diese Schlaraffenzukunft hinein,
daß ich mit der Portion, wenn mein Verdauungsapparat sich auch noch so sehr
dagegen sträubt, im Umsehn fertig bin. Endlich werden diese Tafelfreuden
auch noch durch ein in demselben Saal speisendes Studentenkorps, die
Rhenania, erhöht, welches alle unangenehmen Eindrücke durch ein überlautes
Schreien, Toben Brüllen, Singen usw. übertäubt, das seinesgleichen sucht.
Uns andere Studenten ("Kamele"), die nebenan am Trompetertische sitzen,
ignorieren sie völlig und strafen uns mit ihrer Geringschätzung, was uns
ganz lieb ist. Übrigens geben sie uns auch viel zu lachen durch ihre
barocken und komischen Streiche. U. a. haben sie den gesamten Hühnerhof des
Wirts so abgerichtet, daß dieser während des Essens zum Fenster über das
Dach hereinkömmt und sich selbst sein Teil holt, wobei es köstliche Szenen
gibt. -
Endlich fühle ich auch wirklich, daß mir diese magere Kost recht gut
bekömmt, und daß ich eigentlich gar nicht zu meinem Vorteil verwöhnt bin.
Außerdem habe ich auch noch andere kleine Ersparnisse eingeführt (z. B. seit
Weihnachten keinen Tropfen Wein getrunken usw.), so daß ich wirklich hoffe,
mit den 50 Talern, die Ihr mir Anfang darüber geschickt habt, auszukommen;
indes würde ich zur Reise Ostern doch noch Geld gebraucht haben und dazu
kann des jetzt überschickte noch verwandt werden; habt also den besten,
herzlichsten Dank dafür! . . .
Dir, lieber Vater, noch meinen besonderen Dank für Dein Referat über Sydows
Unionsverträge. Ich bin im ganzen ganz mit diesen Ansichten einverstanden;
jedoch habe ich mir ein Bild von der Persönlichkeit Christi entworfen, das
doch gewissermaßen noch göttlicher ist, indem ich mir ihn eher als das Wesen
Gottes, in menschliche Hülle eingekleidet, damit der uns dadurch
zugänglicher werde, denke. Indes glaube ich, daß uns dies hier noch ein
Rätsel ist, was erst jenseits gelöst wird, und lege auch deshalb kein
Gewicht auf die verschiedenen kleinen Unterschiede und Differenzen, welche
sich bei den wahren Christen hinsichtlich der Ansichten über die Person
Christi finden; im Grund haben doch kaum zwei Ansichten ganz dieselbe
Vorstellung davon; sie wird sich immer nach der Individualität modifizieren
. . .
Tausend Dank und Grüße von Eurem alten
Ernst H.
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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999
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