Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
17. Brief
Würzburg, 8. 2. 1853.Dienstag: Fastnacht!
Liebe Eltern!
. . . Hier ist seit 8 Tagn so ein toller Trubel, daß man (d. h. die andern
Leute) gar nicht zur Besinnung kommt. Bei uns in Norddeutschland hat man
wirklich gar keine Idee, was so eine schöne Faschings- und Fastenzeit zu
bedeuten hat. Seit Weihnachten ist hier wenigstens jeden dritten Tag ein
Ball gewesen und namentlich in den letzten Wochen waren die meisten meiner
Herren Kommilitonen büchstäblich fast jeden Tag mit einem Ball oder einer
großen Kneiperei beschäftigt, so daß sie in der letzten Zeit ordentlich zu
jammern anfingen und meinten: "Solche Strapazen könnten doch auch den
stärksten Helden auf den Hund bringen". Dienstags war wöchentlich beim
Regierungspräsidenten Soiree, Mittwochs im Theater, Donnerstag wieder wo
anders, Sonnabends auf er Harmonie usw. usw. Die Krone aller dieser
Geschichten sind aber die sogenännten "Bevölkerungsbälle", welche unter
diesem höchst zweideutigen Namen, den sie leider nur mit zu viel Recht
führen, sowohl in den niedrigsten als in den höchsten Kreisen bekannt sind.
Es sind dies Maskenbälle, welche in dem größten Lokale der Stadt
stattfinden, und deren männliches Personal außer einigen Ladenbengels und
Referendaren usw. hauptsächlich vom größten Teil der Studentenschaft (über
400!) gebildet wird, über deren weibliches Personal sich aber nichts weiter
sagen läßt, als daß das Nobelste davon Köchinnen, Dienstmädchen usw. sind.
Wie toll es hier zugehen muß, konnte ich daraus entnehmen, daß meine
sorgsame Wirtin mit wahrhaft mütterlicher Ängstlichkeit und Sorglichkeit
mich warnte und bat, doch um keinen Preis dahin zu gehen. Mich tangieren
natürlich alle diese Geschichten gar nicht, ebensowenig als alle andern
Soireen und Bälle, Saufereien, Mummereien usw., die jetzt an der
Tagesordnung sind. Jedoch habe ich mich heute sehr über einen Maskenzug
amüsiert, der von einem Studentenkorps, der Bavaria, arrangiert und wirklich
ausgezeichnet gut ausgedacht war. Die Kerle, lauter hübsche, stämmige
Burschen, dem Äußern nach in der ganzen Stadt bekannt, sahen in ihren
Vermummungen wirklich äußerst possierlich und barock aus. Den Vortrab
bildeten mehrere als Narren und Bajazzos Verkleidete, welche mit ihren
Fächern und Narrenkappen tüchtig und zum allgemeinen Jubel das Volk
durchpeitschten, welches alle Straßen bis zum Ersticken gedrängt erfüllte,
und so dem eigentlichen Zuge Platz machten. Dieser bestand zunächst aus vier
ganz kostbaren Musikanten, von denen zwei als Zithermädchen eine höchst
anmutige Rolle spielten, und die eine wahrhaft herz- und ohrenzerreißende
Katzenmusik aufführten. Diesen folgte ein als Stiefelfuchs Verkleideter,
welcher den Leuten tüchtig mit der Wichsbürste im Gesichte herumfuhr, und
auf diesen kam der Held des Tages, Don Quichotte, wortgetreu nach Cervantes
ausstaffiert und auf einer Rosinante, die ihresgleichen suchte, sitzend,
gefolgt von einem ebenso getreu konterfeiten Sancho Pansa, auf einem Esel
sitzend, und endlich einer gleichfalls auf so einem Grauschimmel reitenden
Dulzinea. Dies zarte Frauenzimmer wurde von dem stärksten und
vierschrötigsten Burschen des ganze Korps dargestellt, dessen Gesicht Kreuz-
und Querhiebe von allen Gattungen aufzuweisen hatte, und dessen 6 1/2 Fuß
langer Kadaver bis auf die Erde herabreichte. Sodann folgten mehere
Notabilitäten der Stadt, namentlich der kürzlich wegen der
Offiziersgeschichte abgesetzte Universitätspolizeidirektor, welche ganz
köstlich naturgetreu nachgeahmt waren. Sodann folgte der zweite Akt: wie Don
Quichotte verwundet ist und von zwei Dirnen seines Dorfes nach Hause
geschafft wird: auch diesen Don Quichotte, der in einem Bette, mit einem
Lutschbeutel im Munde, von zwei derben, nach der hiesigen komischen
Landestracht der Bauernmädchen ausgeputzten Burschen auf einer Karre gezogen
wurde, war ganz vortrefflich. Es folgte nun noch eine Masse anderer, nicht
minder köstlicher und hochkomischer Gruppen, unter denen sich namentlich der
Gott des Bieres, zusammen mit der Bierkönigin und einem besoffenen
Trunkenbold auf einem großen Fasse reitend, sehr gut ausnahmen. Das Faß
wurde von zwei alten Gäulen gezogen, dabei aber fortwährend abgezapft und
dabei das Bier entweder gleich hinuntergestürzt oder den Leuten über die
Köpfe gegossen. Zuletzt folgte noch ein Wagen, in dem eine kostbar
ausstaffierte, wirklich prächtig ausstaffierte und persiflierte Familie
reisender Engländer und Engländerinnen saß: auf dem Bocke der eigentliche
Stifefelfuchs der Bavaria , höchst naturgetreu einen Pavian vorstellend, und
hinten drauf ein ganz schwarzer Teufel mit einem langen Schwanz und einer
Mistgabel, mit welchem Instrumente er tüchtig die hinten nachfolgende Menge
traktierte und so den Zug schloß. Mit welchem Jubel und wahrhaft betäubenden
Wonnegeschrei übrigens der ganze Zug von der gesamten Bevölkerung begleitet
wurde, ist kaum zu beschreiben. Da sah ich zum einmal recht den süddeutchen,
schon recht eigentlich an den Süden erinnernden Volkscharakter. Noch jetzt
tönt selbst bis zu meiner stillen Klause ein Toben und Lärmen, das gar nicht
endet und wohl diese ganze Nacht nicht enden wird. Morgen ist dann aber
dafür Aschermittwoch. Da gehen, wie mir meine fromme Wirtin erzählt, alle
Leute in die Kirche und lassen sich Asche aufs Haupt streuen und vom
Geistlichen auf alle Weise heruntermachen und malträtieren, um dadurch ihre
Frömmigkeit zu beweisen! Das ist überhaupt hier eine schöne Frömmigkeit!
Hauptsächlich besteht sie darin, daß zu jeder Viertelstunde fast 5 Minuten
lang alle Glocken geläutet werden, so daß einem oft vor lauter Bimmeln Hören
und Sehen vergeht und man meint, die Leute hätten nichts anderes zu tun als
Glocken zu ziehen. Solche Frömmigkeit ist aber den Pfaffen gerade recht und
die suchen sie auf alle Weise zu fördern. So bekam ich hier jetzt öfter den
"Münchner Volksboten" in die Hand, das eigentliche Organ der Hierarchie
Bayerns, in welchem alle Sachen so jesuitisch verdreht und aus schwarz weiß
und aus weiß schwarz gemacht wird, daß ich mich ganz scheußlich ärgere und
das Ding oft zerreißen möchte. So stand z. B. letzthin drin: "Es wäre für
jeden Christen eine wahre Gottesfreude, zu sehen, wie auch das preußische
Königshaus sich immer mehr von der ketzerischen zu der allein wahren
Religion bekehre; dies sehe man schon daraus, daß die ganze Umgebung des
Prinzen und der Prinzessin von Preußen sowie auch der künftige König selbst
in Koblenz eifrige Zuhörer und warme Bewunderer der Jesuiten seien!!!" Als
ob man diese Teufelsbrut nicht hören könne, ohne ihre Anhänger und Jünger zu
sein!! In dieser Weise wird alles verdreht und die Pointe von allem ist
immer, daß auf alle Weise zum Kriege und Hasse gegen die norddeutschen
Ketzer (Protestant und radikaler Rationalist ist ihnen dasselbe!) angefeuert
wird. Das Schlimmste dabei ist, daß dieses Schandblatt durch eine
eigentümliche populare Handhabung des Tons und der Tatsachen ein sehr weit
verbreitetes Ansehen und Anhang sich verschafft hat. Übrigens sollen die
"heiligen patres et fratres Jesu" nächstens auch hier ihr Wesen treiben
wollen; natürlich auch hier mit großem Erfolge! . . .
Schenk, der selbst Katholik ist, dem aber der Unsinn und die
Nichtswürdigkeit des katholischen Pfaffentums höchst zuwider ist und der so
gleichsam notgedrungen Rationalist ist (was er gewiß nicht sein würde, wenn
er Protestant wäre), hat einen ganz vortrefflichen Ausdruck für ihr Treiben
gefunden, wie es überhaupt wahrhaft ergötzlich ist, ihn über das hiesige
Pfaffentum räsonnieren zu hören. (So fragt er mich z. B. oft: "Nun Herr
Haeckel, der Sie aus dem gottlosen ketzerischen Norddeutschland kommen,
haben Sie hier noch nicht die wahre Frömmigkeit gelernt?!") Als ich nämlich
Mittwoch früh bei ihm war, kam eine große Prozession mit Fackeln vorbei
(Mariä Lichtmeß!), in deren Mitte der Bischof oder, was er sonst ist, ein
dicker, feister, wohlgenährter, in Gold und Silber gekleideter Pfaffe ging,
über den vier Chorknaben einen großen samtenen Baldachin trugen. Als ich von
ferne das Bimmeln und Singen hörte, fragte ich, was das wäre, worauf Schenk
ganz trocken antwortete: Ach, da kommt wieder einmal der Bonze ! (ganz
kostbar gewählter und trefflich bezeichnender Ausdruck!)
Ich selbst habe in dieser Woche einmal wieder zwei recht glückliche
Pflanzentage gehabt, Mittwoch und Sonntag, wo ich von früh 9 Uhr bis abends
9 Uhr in nichts andrem als in Pflanzen gelebt habe. Ich habe nämlich, mit
Steudner, Schenk die Dubletten seines Herbariums (namentlich sehr schöne
monokotyledone Pflanzen von seiner letzten walachisch- siebenbürgischen
Reise) aussuchen und verpacken helfen, wobei für uns auch mancher gute
Brocken mit abgefallen ist. Die Flora ist hier selbst auch sehr schön; wie
soll das aber im Sommer werden, wenn ich nicht laufen kann?! - . . .
Schenk erzählt mir jetzt im Kurs auch immer viel von den Montenegrinern, für
die er sich sehr interessiert, da er durch ihr Ländchen gekommen ist. Es ist
noch ein recht kräftiges und kerniges Gebirgsvolk griechischer Religion. Er
meint, daß die Geschichte zu einem allgemeinen europäischen Kriege führen
könne, und daß die sehr verhaßten, nichtswürdigen Türken dabei zugrunde
gehen würden. Übrigens habe ich auch aus Berghaus gesehen, daß die Zahl der
türkischen Kolonien in der Türkei und Griechenland äußerst gering ist, und
daß sie eigentlich lediglich auf die größeren Militärstationen beschränkt
sind. Wenn Österreich nur wollte (meint Schenk), so würde in einem Tage die
ganze Walachei und Moldau und in einer Woche die ganze Türkei in seinen
Händen sein - vorausgesetzt, daß Rußland (welches die Montenegriner
unterstützt) damit einverstanden wäre, und daß Frankreich nicht für die
Türken einen Rückhalt böte. Das letztere, was jetzt wirklich geschehen soll,
ist übrigens eine höchst interessante Tatsache, die sich in der Geschichte
oft wiederholt hat. Man braucht nur an Franz I. von Frankreich zu denken,
welche die Türken gegen Karl V. unterstützte . . .
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Erstellt von Christoph Sommer am 30.06.1999
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