Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
25. Brief
Würzburg, 25. 5. 1853
Liebe Eltern!
In der vergleichenden Anatomie haben wir jetzt die Polypen vor. Ich halte
mir in einem Gläschen eine kleine Kolonie von diesen allerliebsten Tierchen,
und zwar vom grünen Wasserpolypen ( Hydra viridis ), die nur
stecknadelkopfgroß sind und bei 120facher Vergrößerung etwa fast wie
Seesterne aussehen und die sonderbarsten und merkwürdigsten
Lebenseigenschaften haben. Sie sitzen mit dem Stiel fest und können ihre
Arme lang ausstrecken und ganz einziehen, fressen Infusorien und pflanzen
sich wie Pflanzen fort, indem sie seitlich Knospen treiben. Wenn man ein
Tierchen in beliebig viele Stücke zerschneidet, so wird aus jedem wieder ein
Tier. Überhaupt kann man mit ihnen die interessantesten und schönsten
Experimente anstellen auf sehr einfache Art. In der Physiologie haben wir
ein paar Hunden Speicheldrüsenfisteln und Magenfisteln angelegt. Man erhält
so reinen Parotispeichel und reinen Magensaft unmittelbar aus dem lebenden
Tiere, was zwar sehr graulich ist, womit aber dann sehr wichtige Experimente
über die künstliche Verdauung gemacht werden. Sonst gefällt mir der
Köllikersche Vortrag, obgleich der Stoff an sich viel interessanter ist,
lange nicht so gut, als in der Anatomie; es ist alles nur angelernt. - . . .
Euch und alle andern Verwandten, Tante Berta usw.
grüßt Euer Ernst H.
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Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999
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