Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
26. Brief
Würzburg, 1. 6. 1853
Liebe Eltern!
Erst heute komme ich dazu, Euch einmal wieder zu schreiben, da die
wundervollen Polypen, Quallen, Korallen usw. mich die ganze vorige und
jetzige Woche von früh 5 bis abends 10 beschäftigt und mir das größte
Vergnügen gemacht haben. Meine zoologische Passion, die mich schon als
kleinen Jungen die Naturgeschichte der Tiere noch vor der der Pflanzen mit
ganz besonderm Interesse treiben ließ und meine Lieblingsbeschäftigung war,
ist jetzt wieder recht lebhaft erwacht und bereitet mir nun natürlich einen
weit höhern Genuß, da mir die Kenntnis der Anatomie nun auch den Weg zur
Erfahrung des wundervollen innern Baus der Tiere geöffnet hat. Man wird
wirklich ganz unwillkürlich bei jedem Schritt von Erstaunen und Bewunderung
der göttlichen Allmacht und Güte hingerissen, und ich kann es nicht
begreifen, wie grade Leute, die sich mit diesen herrlichen Wundern
beschäftigen und ihren Einzelheiten nachgehen, die schaffende weisheitsvolle
Gotteskraft bezweifeln und ganz wegläugnen können. Außer der vergleichenden
Anatomie beschäftigt mch auch die Physiologie sehr, so daß ich, obwohl
weniger Kollegien als je, doch auch fast ebenwenig freie Zeit habe. Das
schlechte Wetter, das die ganze Zeit in strömenden Regenmassen sich Luft
machte, kam mir so sehr zustatten, indem es mich nicht in die schöne
Frühlingsnatur hinauslockte, die ich sonst mit ganzer Wonne genieße. Vorigen
Sonnabend nahm ich wieder an einer botanischen Exkursion teil, die ungefähr
5 Stunden dauerte und mein Knie doch etwas anstrengte, was es ein paar Tage
durch starkes Musizieren kundgab; jetzt ist es wieder auf dem alten Punkte.
Wir suchten in einem Walde hinter Versbach die schönste deutsche Orchidee,
das herrliche Cypridedium calciolus; ich war so glücklich, von den vier
Exemplaren, die von dieser außerordentlich schönen und seltnen Pflanze nur
gefunden wurden, zwei zu finden. Eine einzige, höchstens zwei sehr große
Blumen stehen einzeln am Ende des schlanken, vielblättrigen Stengels. Vier
Blumenblätter sind schön dunkelpurpurrot, schmal und wellig und stehen in
Form eines Kreuzes einander gegenüber. In der Mitte zwischen diesen sitzt
ein kleines, meistens kahnförmiges Blumenblatt und darunter ein sehr großes,
das prächtig goldgelb gefärbt, hohl und ganz wie ein Holzschuh oder wie ein
rundlicher Nachen gestaltet ist. Deshalb heißt diese herrliche Pflanze auch
"Frauenschuh". Wie ich mich über diesen längstersehnten Fund freute, könnt
Ihr Euch kaum denken. Auch außerdem fanden wir eine der schönsten und
größten Orchideen, die dunkelbraune, weiß punktierte Orchis fusca, und ich
war noch so glücklich, von einer sehr gemeinen Wickenart (Vicia sepium), die
innen blau blüht, Exemplare mit gelben Blüten zu finden. Auf dem Rückweg
fanden wir noch eine reizende kleine Primel mit weißen Blüten: Androsace
septentrionalis . . .
Mit Bertheau, Lavalette und Steudner, die jetzt täglich zusammen Whist
spielen, komme ich jetzt wenig zusammen, aus verschiedenen Gründen. Sie sind
mir im ganzen gar zu üppig, und wenn ich mit ihnen kneipen gehe, tun sie
nichts, als mich ermahnen, Bier zu trinken und mich zu verlieben, was sie
für das einzige Rettungsmittel halten, mich zum Menschen zu machen, und
wovon mir eins so greulich und überflüssig erscheint wie was andre. Auch bei
Schenk bin ich so ziemlich in Ungnade gefallen, da ich sein langstieliges
Kolleg nicht angenommen habe, worauf er sich sehr gespitzt haben muß. -
Am vorigen Donnerstag war hier "Fronleichnamsfest", wirklich ein
Hauptspektakel, von dem mir meine Wirtin schon wochenlang vorher nicht genug
zu erzählen wußte und das mir fast greulich großartig vorkam. In meinem
Leben hatte ich noch keine solche Prozession gesehen. Sie dauerte von 8-12
Uhr. Das Landvolk der ganzen Umgegend war dazu herbeigeströmt, die ganze
Stadt war festlich mit Girlanden und Fahnen geschückt, alle Straßen mit
Blumen bestreut, die Halle des Juliusspitals in einen Tempel mit Altären
verwandelt, das ganze Militär in Gala konsigniert, dazu auch noch die
sogenannte "Landwehr", etwa das, was Berliner Bürgerwehr und Merseburger
Schützen zusammen sind, nur noch zehnmal unmilitärischer, spießbürgerlicher
und lächerlicher. Es fanden sich darunter wirklich die allerkomischsten und
groteskesten Figuren, die sich in der himmelblauen Uniform mit der schweren
Tschako ganz einzig machten; z. B. Schneidermeister mit langen Bärten,
Tischler mit Bärenmützen als "Beilesleit" usw. Der Zug selbst war das
Bunteste und Abenteuerlichste, was man sich denken kann; in vieler Hinsicht
vom Erhabenen zum Lächerlichen und Verächtlichen nur ein Schritt. Die
verschiedenen Aufzüge mit ihrer äußeren Pracht, ihrem eigentümlichen
Charakter boten so viel Auffallendes dar, daß man ein ganzes Buch darüber
schreiben könnte. Unter anderm zogen alle Gewerke mit ihren Fahnen,
Insignien und Standarten auf, dann alle Schulen in besonderen Festkleidern,
der Magistrat und die Regierung in Ziviluniform, Kapuziner in ihrer braunen
Eremitentracht und allerlei Mönchsvolk, die große Zahl der katholischen
stud. theol. , dann lange Reihen kleiner und großer Mädchen in weißen
Kleidern und mit Blumen geschückt. Dazwischen überall singende und
schreiende Gruppen von Priestern, welche mit Glöckchen klingelten, Weihrauch
räucherten usw. Von Zeit zu Zeit wurde angehalten und an eigens dazu
errichteten Altären Messe gelesen, wobei alles auf die Knie fiel und wir
sehr scheel angesehen wurden, daß wir nicht das gleiche taten. Unter einem
Baldachin gingen oder wurden vielmehr getragen der Bischof und andere höhere
Geistliche, glanzvoll in Gold und Purpur gekleidet, dann nicht minder
wohlgenährte, fettglänzende, fortwährend Prisen schnupfende, violette
Domherren, die mich lebhaft an Merseburger dito Individuen erinnerten.
Dazwischen kam dann von Strecke zu Strecke eine goldne Madonna oder ein
silberner Heiliger in Lebensgröße, mit allerlei Kettchen und Ringelchen und
Kleinödchen behangen, wie ein Kinderspielzeug klingend und rasselnd,
getragen von vier weißgekleideten Jungfrauen (ja nicht im wahren Sinne des
Wortes zu nehmen!); dann wieder lange Reihen Andächtiger, die einem wie ein
Marktschreier sich gebärdenden Vorbeter nachsangen, sich dabei aber ganz
gemütlich unterhielten, lachten und sich an der Pracht des Zuges ergötzten .
. .
Sehr gut machten sich auch die Professoren in ihren Fakultätstalaren, die
Mediziner grün, die Juristen rot usw. Die Katholischen müssen sämtlich
mitgehen, weshalb Schenk ein paar Tage vorher bedenklich "erkrankt", viele
andere Mediziner verreist waren.
Zu all dieser Augenlust sollte man auch was Ordentliches hören, weshalb den
ganzen Vormittag von der Festung herab die Kanonen gelöst wurden, was sich
von unten ganz prächtig ausnahm. Kurz, es war ein Getümmel und Spektakel,
wie er sich gar nicht beschreiben läßt . . .
Um eure große Viehausstellung bei Krolls beneide ich Euch; die hätte ich
sehn mögen, lieber als diesen Jahrmarkts- und Fastnachtsspektakel von
Prozession . . .
Nun noch ein Wort zu Dir, meine liebste Mutter, wegen Deines Wunsches, mich
den Winter in Berlin zu haben. Wie sehr dies auch mein eigner Wunsch ist, so
kann derselbe doch unmöglich schon nächsten Winter erfüllt werden . . .
Grade nächsten Winter werde ich hier die Kollegia zu hören haben, um
derentwillen die meisten allein herkamen, und die überhaupt sonst fast gar
nicht und nirgends so klassisch wie hier gelesen werden. Hierher gehört vor
allem der mikroskopische Kursus bei Kölliker, auf den ich schon jetzt
brenne; sodann die allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie von
Virchow, für die die andern schwärmen. Endlich sollen noch zwei junge, sehr
tüchtige Professoren herkommen an Stelle des alten Pathologen und des alten
Chirurgen, die jetzt pensioniert werden. Außerdem habe ich auch schon auf
das Präparieren der Arterien und Nerven für den Winter abonniert, was in
Berlin nur äußerst schlecht und unbequem geht. Es würde also, wenn ich
nächsten Winter nach Berlin ginge, wo ich von allem diesem nichts habe,
wieder ein neuer Mißgriff rücksichtlich meiner Kollegia sein, wie ich deren
sehr viele getan habe. Viel besser wäre ich diesen Sommer dort geblieben und
hätte den klassischen Johannes Müller gehört, was mich ewig reuen wird. Viel
wahrscheinlicher ist es, daß ich nächsten Sommer zu Euch komme, da ich wohl
keinesfalls nach Heidelberg oder Bonn gehen werde. Doch das Nähere hierüber
läßt sich ja alles viel besser mündlich auseinandersetzen. Wenn ich einmal
wieder nach Berlin jetzt gehe, gehe ich wohl nicht wieder fort. Überdies
wird der nächste Winter verschwunden sein, ehe ich mich umsehe. Es sind bloß
4 Monate. Und die Hälfte davon, zwei ganze Monate und noch mehr, sind wir ja
vorher in Rehme und Ziegenrück zusammen. Wie ich mich schon jetzt auf diese
herrliche Herbstleben freue, ganz besonders in Ziegenrück, könnt Ihr Euch
kaum denken. In betreff der Bücher, die wir dort zu Hause lesen wollen,
liebe Mutter, hatte ich mir folgendes gedacht: Ich bringe Humboldts
"Ansichten der Natur", Schuberts "Spiegel der Natur" (der Dir ja so gefiel)
und Schleidens "Pflanze" vielleicht!) mit; Du, dachte ich, solltest Goethes
"Wahrheit und Dichtung", noch was von Schiller, Goethe oder Lessing
(vielleicht "Laokoon") mitbringen und Immermanns "Münchhausen", falls Du ihn
irgendwo auftreiben kannst. Ich möchte ihn sehr gern einmal lesen, da er als
der klassischste und beste deutsche Roman allgemein gepriesen wird. Außerdem
bringe ich auch Vogts "Zoologische Briefe" mit, die Dich gewiß auch
stellenweis interessieren werden. Solltest Du hiermit nicht einverstanden
sein, so schlage mir andres vor; ich würde dann Reisebeschreibungen
vorschlagen, auf die ich jetzt auch periodisch versessen bin und die ich mit
Leidenschaft schmökern würde, wenn ich Zeit hätte. Vielleicht könntest Du
irgendwo die ausgezeichneten Reisen von Darwin, Pöppig, Tschudi oder
Humboldt geborgt bekommen oder was von Kohl. Vielleicht könnte Vater so was
von Karo mitbringen, der z. B. Tschudis "Reise nach Peru", auch
"Münchhausen" hat. Nun, Ihr könnt das ja noch lange überlegen. - . . .
Ich bleibe immer mit derselben innigen Liebe Euer treuer alter Junge
Ernst H.
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Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999
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