Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
27. Brief
Würzburg, 18. 6. 1853
Liebe Eltern!
. . . Ich gehe fast alle Abend mit meinem Danziger Freunde Hein, einem sehr
netten Menschen, der mir fast zu verständig, klar und besonnen ist, heraus
über die Brücke, ein Stückchen oberhalb der Stadt, wo die Badeanstalt sehr
hübsch grade am Fuße der Festung liegt. Dann stürzen wir uns mit wahrer
Wonne in die (vorläufig noch sehr lehmgelben und an die Unstrut erinnernden,
später vielleicht einmal grünen) Mainfluten, duschen tüchtig und gehen
nachher nach Sibirien ! Dies ist einer der wenigen Orte, wo man hier kein
Bier, sondern Milch in allen Gestalten (wir halten uns vorzüglich an die
saure, wie man hier sagt: "gestockte" Milch) bekommt; man sitzt in einem am
Bergabhang gelegenen Grasgarten, in einem Seitentale südlich von der
Festung, dieser grade gegenüber, und das beste ist, daß fast gar keine
Menschen hinkommen und man höchstens ein paar Vögel singen hört. Es ist dies
ganz allerliebst und mein Hauptvergnügen. Weitere Spaziergänge mache ich
jetzt nicht, da es so lange dauert, ehe man über die heißen Kalkberge in
Schatten kömmt und dies auch meinem Knie nicht gut zu tun scheint. Auch bin
ich mit der Zeit sehr beschränkt; namentlich bei der vergleichenden Anatomie
vergeht einem der Nachmittag, man weiß nicht wie. - Kölliker hat jetzt die
Seesterne und Seeigel durchgenommen, und ich habe auf einmal schreckliche
Lust bekommen, an die See zu gehen, um diese prächtigen Beester zu
untersuchen und ihren herrlich künstlichen Bau in natura kennenzulernen. Das
ist doch immer noch was anderes als die Abbildungen, obwohl diese auch sehr
gut sind. In meinem Heft steigen sie schon wieder in die Hunderte. Wenn ich
nur erst mein Mikroskop hätte! Jedenfalls ist es jetzt hohe Zeit, Herrn
Schieck einmal zu treten. Du bist wohl einmal so gut, liebes Mütterchen, und
fragst ihn, "ob mein Mikroskop in Arbeit sei, und bittest, daß er es ja bis
anfangs August fertigmache, wie er versprochen hat. Ich brauche es den
Winter bei Virchow im Kurs ganz notwendig!" Sage ihm dies ausdrücklich; sei
aber sehr höflich und bewundere auch recht die prachtvollen, ausgesuchtesten
Original-Kupferstiche, mit denen der originale Mann sein ganzes Zimmer
austapeziert hat und die sein einziger Stolz und Steckenpfert sind. Sei aber
so gut und gehe selbst hin, da ich ihn gebeten hate, Dir das Mikroskop zu
geben, wenn es fertig ist. Mutter soll es dann ja mit nach Rehme bringen.
In der Physiologie werden jetzt viel Experimente gemacht, die aber meistens
mißlingen, zum Teil durch die Schuld des Anatomiedieners, wobei es oft sehr
lustige und lächerliche Szenen gibt. So hatte er neulich eine Katze mit
Milch füttern sollen, weil uns Kölliker das Übergehen des Milchsafts in die
Chylusgefäße des Darms zeigen wollte; er behauptete auch, das getan zu
haben, hatte aber statt dessen die Milch selbst getrunken; als nun die Katze
geöffnet wurde, waren im Darme bloß etwas Brot und Kartoffeln, kein Tropfen
Milch, was sehr lustige Szenen gab. Außerdem fanden wir noch einen Bandwurm
von einer Elle Länge. Trotzdem dies eigentlich ganz hübsche Tierchen sind,
so glaubte ich doch am selbigen Abend noch deutlich das Knabbern eines
solchen Beestes in meinem eigenen tractus zu fühlen. Dies dürft ihr jedoch
als eine hypochondrische Anspielung annehmen. -
Vorige Woche mußte auch mein armer Leib zu einem Experiment in der
Physiologie herhalten. Kölliker wollte nämlich zeigen, wie rasch der
Speichel die Stärke (Mehl) in Zucker umwandle und spuckte deshalb ein
Probiergläschen halb voll; zugleich ersuchte er einen von uns, auf dieselbe
Weise ein zweites Probiergläschen zu füllen, und da ich grade am nächsten
saß, traf mich dies edle Los. Kaum war nun der Speichel ein paar Minuten mit
dem Kleister in Berührung gewesen, so hatte die "Saliva Haeckeliana", wie
sie Kölliker nannte, die ganze Stärke in Zucker verwandelt, während sein
eigner Speichel viel schwächer gewirkt hatte; natürlich gab es nun wieder
viel zu Lachen und zu Necken. - - . . .
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Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999
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