Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
29. Brief
Würburg, 8. 7. 1853.
Ich benutze den Abend von Mimmis Geburtstag, um wieder ein Stündchen mit
Euch zu plaudern. Die ganze Feier dieses Familienfestes hat für mich darin
bestanden, daß ich heute mittag mit meiner Wirtin deren vielgeliebte Gans
verspeist habe, welche sie wochenlang für den heutigen Tag genudelt hatte.
Es ist nämlich heute zugleich hier der letzte (wirklich der letzte, schade !
schade!) Feiertag in diesem Sommer, das Fest des heiligen Kilianus, für die
hiesige Stadt ein Hauptfest. Besagter Heiliger hat nämlich einmal seine Füße
in einer hiesigen Quelle gewaschen, und seitdem springt diese Quelle, über
welcher nachher eine große Kirche erbaut wurde, alle Jahr nur einmal, und
zwar am heutigen Tage! während sie sonst das ganze Jahr versiegt ist!! Und
diese Quelle besitzt an diesem Tage die wunderbarsten Eigenschaften, macht
Sehende blind (oder vielmehr ungekehrt!) usw. !!! Da ist denn wieder einmal
das ganze Landvolk von Unterfranken in großen Prozessionen in die Stadt
gezogen und bietet alles auf, um ein Fläschchen dieses köstlichen
Heilwassers (nämlich abgestandenen Regenwassers, welches der Küster tags
zuvor in das sonst leerstehende Wasserbecken gefüllt hat) zu erangeln. Es
ist wirklich ein ergötzlicher und doch trauriger Anblick, dies verdummte
Bauernvolk, wie es sich mit dem andern Pöbel um ein paar Tropfen Wassers
drängt, stößt, schlägt usw. und überselig ist, wenn es damit ein Kreuz auf
die Stirne machen und sich die Augen einreiben kann. Diese Macht der Pfaffen
und des Aberglaubens ist hier noch fabelhaft . . .
Deinen Geburtstag, liebes Mutterchen, habe ich still für mich, im Geiste bei
Euch, verlebt; Nachmittag machte ich einen Spaziergang auf die höchste
Spitze des Nikolausbergs, auf welchem das Käppele steht, und welcher der
höchste Punkt in der ganzen Umgegend ist. Ich war noch nie so hoch herauf
gelangt und wurde nun durch eine ganz prachtvolle Aussicht erst über ganz
Franken und weiter, namentlich den Main hinunter, herrlich überrascht. Nach
Norden erschien am Horizont der Spessart, nach Westen die Rhön mit ihren
höchsten Spitzen, nach Osten die Fränkischen Gebirge. Ganz herrlich machte
sich das Maintal mit seinen unzähligen Windungen und Biegungen, die ich weit
hinunter übersehen konnte; ach, wie sehnlich wünschte ich Euch her, um mit
mir den herrlichen Genuß zu teilen. Wenn man so etwas allein genießt, ist es
doch immer nur die halbe Freude; auch die Beleuchtung war ganz einzig,
gigantische Wolkenschatten über die Berge verstreut. Und zu allem diesem
kamen nun noch reizende botanische Bescherungen, wie ich sie lange nicht
genossen. Zuerst fand ich einen niedlichen Waldmeister mit blauen Blüten
( Asperula arvensis ), dann eine schöne, ebenfalls noch nie gefundene
Doldenpflanze (Turgenia latifolia ), dann ein sehr merkwürdiges Farnkraut
(Botrychium Lunaria) mit einer Fruchtähre oder Traube, und endlich einen
reizenden, wilden, rosenroten Flachs (Linum tenuifolium). So viel Schätze
auf einmal waren mir lange nicht geboten worden. Ich war ganz selig. Ich
verlief mich übrigens in dieser Seligkeit, diesem Suchen, Schauen und
Bewundern ziemlich weit in eine mir vorher ganz unbekannte Gegend und bekam
schließlich ein tüchtiges Gewitter auf den Hals, dessen donnernder Widerhall
in den Schluchten und Tälern sich gar nicht übel machte. Aber auch diese
Durchnässung sollte nicht umsonst für mich sein. Als ich wieder auf dem
Gipfel des Nikolausberges gelangte, breitete sich vor mir und zu meiner
Rechten (nach Süden und Osten) ein prächtiger doppelter Regenbogen aus,
dessen unteres Ende tief zu meinen Füßen hinabreichte und auf der Mainbrücke
zu stehen schien. So hatte ich vom Berge aus den Anblick eines Regenbogens
im Tal, hinter dem in weiter Ferne wiederum blaue Berge als Hintergrund
dienten, ein merkwürdiges Schauspiel, das ich erst einmal, und zwar auf dem
Inselsberg im Thüringer Wald, gehabt hatte. Wenn Ihr noch mit mir diese
Freuden hättet teilen können, so wäre dieser Nachmittag der vergnügteste
hier verlebte gewesen! Aber das Beste kommt noch. Als ich seelenvergnügt
nach Hause sang und sprang, sah ich, an einer Mauer der Vorstadt angekommen,
wie die Sträflinge die Fläche derselben von Unkraut säuberten. Unter diesem
war mir schon lange ein schönes, großes, schwefelgelbes Fingerkraut
aufgefallen, das ich gar zu gern in der Nähe beschaut hätte, und als ich
jetzt eins herunterholen konnte, fand sich's, denkt Euch meine freudige,
staunende Überraschung! daß es Potentilla recta war, die Schenk in der
ganzen Flora von Würzburg vergeblich gesucht zu haben angibt, und an der er
so schon oft genug, ohne es zu ahnen, vorübergelaufen war. Natürlich lief
ich schnurstracks mit meinem köstlichen Funde zu ihm und teilte ihm meine
Entdeckung mit. Das Gesicht hättet Ihr sehen sollen! Anfangs schien der
stumm überrascht; dann sagte er halb ärgerlich, halb freundlich: Sie sind
doch halt'n Teufelskerl; wo habe 's das wieder aufgegabelt?" - - -
Meinen Stolz und meine Freude könnt Ihr Euch denken! - Schon am Sonntag
wanderten wir mit einem netten Schweizer (Kaufmann, den ich schon in Berlin
kennengelernt hatte) hinaus und ich mußte ihm meinen neu entdeckten Fundort
zeigen; dann gingen wir noch einmal auf den Nikolausberg, wo ich noch eine,
mir ganz neue, große Seltenheit, die langbegehrte Althaea hirsuta, fand. O
gaudium! -
Ich habe übrigens jetzt ein nettes Paket Heu, das ungefähr 4 Bänden meines
Herbariums entspricht, zusammengebracht, teils aus der Flora Herbipolitana,
teils aus dem hiesigen Botanischen Garten, und bekomme oft ordentlich Angst
vor dem Transport desselben nach Berlin! - Aber diese pflanzlichen Genüsse
werden zum Teil noch durch die tierischen überwogen. Hierunter verstehe ich
die vergleichende Anatomie, welches wirklich eine einzige Wissenschaft! Wir
sezieren jetzt tüchtig Schnecken, Muscheln usw. . . .
Für Deinen Bericht über Dein Studium, die Geographische Gesellschaft usw.,
lieber Vater, den besten Dank. Wenn Herr Dingel in Stuttgart in seiner
Schrift über Frankreich die Franzosen so heruntermacht, so bin ich mit ihm
einverstanden. Ich kann das übermütige, glatte Volk nicht ausstehen und
zanke mich mit Schenk darüber, der sie in Schutz nimmt. Ich kann mich nicht
mit ihrem falschen, geschliffenen Wesen befreunden . . . .
 Inhaltsverzeichnis
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Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999
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