Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
30. Brief
Würzburg, 18. 7. 1853.
. . . Aus meinem gewöhnlichen stillen Alltagsleben bin ich vorige Woche ganz
unvermutet einmal in die große Menschenwelt hineingeraten. Wie ich dazu
gekommen bin, weiß ich selbst noch nicht. Am Sonntag den 10ten nämlich
veranstaltete die Krone der hiesigen Professoren: Virchow, Kölliker, Müller,
Scanzoni, Scherer usw., eine große Landpartie in den Guttenberger Wald.
Jeder derselben hatte einige Freunde, namentlich junge Doktoren und
besonders begünstigte Studenten, dazu eingeladen, welche er als seine Gäste
dort abfütterte usw. Da ist nun Kölliker, weiß Gott auf welche Weise, auf
den Gedanken geraten, auch mich unter seinen Gästen einzuladen; wie ich
erschrocken bin, könnt Ihr Euch denken. Indes lief die Geschichte doch
besser ab, als ich dachte. Früh um 7 Uhr brach die Partie auf, etwa 75
Personen stark, worunter zu meinem noch größern Schrecken etwa ein Drittel
junge Mädchen waren. Indes habe ich auch diese Klippe (nämlich die Aufgabe,
diese Damen zu unterhalten) glücklich zu umsegeln gewußt, so daß ich den
ganzen Tag mit keiner ein Wort gesprochen . . .
Im Walde selbst war es sehr nett. Da es ein sehr besuchter
Hauptvergnügungsort der Würzburger ist (erst gestern war wieder eine Partie
von 1000-1100 Personen dort!), so sind dort verschiedene Hallen, Bänke und
Tische mitten im Walde errichtet, auf einem freien, etwas erhöhten Platze,
der rings von prächtigen alten Bäumen umgeben ist. Auf einem der größten ist
oben eine Galerie angebracht, zu der man auf Treppen hinaufsteigt, und von
der man eine weite Fernsicht über den sehr großen Wald hat.
Da packten nun die respektiven Professorenfrauen die sämtlichen Schätze
ihrer Küche und Speisekammer vor den schmachtenden Gaumen aus und suchten
diese zu erquicken, wobei eine die andere Professorin zu übertreffen suchte.
Nur Frau Professor Kölliker, übrigens eine sehr schöne und noble Dame, hatte
in diesen Wettstreit sich nicht hervorzutun gesucht. Es ist nämlich eine der
sehr wenigen, aber desto mehr schlimmen und schwachen Seiten Köllikers, daß
er etwas sehr knickerig ist (horridum exemplum! ), und so kam es, daß wir
Gäste Köllikers (unter denen auch meine meisten Bekannten, Bertheau, Hein,
Gerhard, Passow, Lavalette usw. waren, was nachher zu manchen Späßen
Veranlassung gab) mitten in diesem Schlaraffenleben der andern, wo es von
Milch und Honig träufte, ziemlich im Trockenen saßen; namentlich muß ich
gestehen, daß durch die schmalen Kosthäppchen und Rippchen mein Appetit eher
gesteigert als verringert wurde; und doch nahm ich mir noch weniger als die
andern! Indes wurden diese kleinen Leiden bald vergessen, als ich nachher
eine klare Quelle im Walde, prächtige Erdbeeren fand und dann ein paar
schöne, mir ganz neue Blumen, Rosa arvensis und Campanula Cervicaria.
Nach dem Frühstück sowie auch nach dem Mittagessen suchte das ganze Volk
sich die Zeit auf die leidlichste Weise mit allerlei Spielen und
Belustigungen zu vertreiben, als da sind: Blindekuh, Plumpsack, Tanzen,
Singen, Schießen, Kegeln, Spazieren usw. Daß ich grade keine große Rolle
dabei spielte, werdet Ihr mir wohl glauben. Indes habe ich doch mein
möglichstes getan, um nicht zu sehr hinter den andern zurückzubleiben.
Jedoch war ich schließlich herzlich froh, als endlich um 8 Uhr abends vier
verschiedene Omnibusse und mehrere andre Wagen Anstalt zur Rückfahrt
machten. Fast hätte ich einem Freiburger Schweizer beigestimmt, der das
Bummeln den ganzen Tag so satt hatte, daß er sagte: er mochte lieber 8 Tage
Anatomiediener sein, als alle Sonntage so schmählich totschlagen. Das beste
von der ganzen Geschichte war noch, daß ich dabei Virchow kennenlernte, dem
ich noch alte Grüße von Georg Reimer bestellte, an den er mir herzliche
Gegengrüße bestellt hat. Dann amüsierte mich der herzliche, offene,
süddeutsche Ton, der auf der ganzen Partie herrschte, bei der die zarten
jungen Damen mit den Herren Bier tranken, schossen, kegelten usw. . . .
Am letzten Sonntage (gestern) war ich zum erstenmal auf der Festung oben.
Dieselbe ist nämlich nur an zwei Festtagen jährlich dem Publikum geöffnet;
gestern war die Ursache dazu das "ewige Gebet", eine sonderbare Einrichtung
der katholischen Kirche, wonach das ganze Jahr ohne irgendwelche Pause in
ganz Bayern an irgendeinem Orte gebetet werden muß (d. h. Worte ohne Sinn
abgeleiert), wobei natürlich ein Ort nach dem andern an die Reihe kömmt.
Dies ewige Gebet kam nun gestern auch auf die Festung herauf. Ich hatte eine
sehr schöne Aussicht oben erwartet, sowie ich auch die interessante
Einrichtung der Festungswerke zu sehen dachte, sah aber von allem diesem
nichts, aus dem einfachen Grunde, weil überall Wachen ausgestellt waren,
welche einen hinderten, anderswohin als nach der schauerlich schön
verzierten Kapelle - oder aber nach dem Bierkeller beim Hausmeister - seine
Schritte zu lenken. Der letztere zog auch mit seinem ausgezeichnet gut sein
sollenden Biere die meisten Leute herauf. Ich danke ergebendst für diesen
Genuß. -
Das herannahende Ende dieses Sommersemesters, welches mir rascher als je ein
andres vergangen ist, gibt sich schon jetzt auf eine grauenhafte Weise zu
erkennen. Die Professoren, die bis jetzt noch nicht den vierten Teil des
Pensums durchgenommen haben, verdoppeln ihre Stunden und nehmen doch den
Rest äußerst flüchtig und ungenau durch; dies gilt namentlich auch von
Kölliker, der sich bei den niedersten Tieren, was mir allerdings sehr lieb
war, so lange aufgehalten hat, daß er jetzt noch nicht einmal zu den
Insekten gekommen ist. Von eigentlichem Fergtigwerden ist daher keine Rede.
Ich bin jetzt auch mit Kölliker etwas näher bekannt geworden. Ich brachte
ihm nämlich vorige Woche Eier von einer Maulwurfsgrille (Gryllotalpa), die
ich im Botanischen Garten aufgegabelt hatte. Er forderte mich auf, dieselben
sowie die Entwicklung der jungen Tierchen aus dem Ei zu untersuchen und
stellte mit dazu ein Mikroskop zur Verfügung, mit dem ich jederzeit auf
seinem Zimmer in der Anatomie arbeiten könne. Das tue ich denn jetzt auch
täglich früh ein paar Stunden. Die Geschichte ist höchst interessant und
könnte zu Resulaten führen, wenn ich nur nicht so schrecklich ungeschickt,
auch im Präparieren, wär! - . . .
Den besten Gruß schickt Euer alter
Ernst H.
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Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999
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