Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
36. Brief
Würzburg, 26. 10. 1853.
Liebste Eltern!
. . . Ich fuhr vorgestern mittag von Z. ab mit dem Wagen des Rat Voigt aus
Gesell, wo ich abends um 7 Uhr ankam. Ich besuchte erst den dortigen
Apotheker Warnekroo, einen sehr netten und gebildeten jungen Mann, an dem
mir der Doktor einen Brief mitgegeben hatte. Dann ging ich auch zu Frau Rat
Voigt, welche mich ganz schrecklich freundlich aufnahm und verpflegte, auch
partout wollte, daß ich zu Bette gehen sollte, was ich natürlich nicht
annahm, da die Post um 1 Uhr weiterging. Ich verdämmerte die Nacht sehr
gemütlich in der warmen Stube (während es draußen fror) bei einer hellen
Lampe und einem wertvollen botanischen Werk (Krombholz', "Abbildungen der
Schwämme" und Reichenbachs "Abbildungen der Gräser"), das mir der Apotheker
geliehen hatte. Früh um 4 Uhr kam ich in Hof an, von wo der Zug um 6 Uhr
abging. Die ganze Reise verlief ohne Merkwürdigkeiten, ausgenommen, daß ich
zu derselben Strecke, zu der ich zu Ostern 2 Tage und 3 Nächte gebraucht,
jetzt nur 1 1/2 Tag nötig hatte. Ich war bereits um 11 Uhr in Bamberg, um 1
Uhr in Schweinfurt und um 6 Uhr hier. Meine Wirtin empfing mich natürlich
mit aller Zärtlichkeit und Freude, die ihrer echt bayrischen, gemütlichen
Gutmütigkeit zu Gebote stand. Sie hatte schon seit 14 Tagen jeden Tag mich
erwartet, mir schönes Obst gekauft und u. a. alle Schränke usw. mit den
üppigsten Äpfeln und Weintrauben garniert, die ich mir nebst herrlichen
Pflaumen heute bereits habe trefflich schmecken lassen. Das Obst ist hier
ganz ausgezeichnet, wie alle Jahre, und ich will es recht genießen. Wie
schade, daß Ihr es nicht mitgenießen könnt; es würde mir dann noch einmal so
delikat schmecken. Ich schickte Euch gar zu gerne ein Kistchen mit
Weintrauben, wenn nur nicht das Porto so exzessiv teuer wär'; auch würden
sie wohl etwas zu sehr durcheinander geschüttelt werden. Eins der ersten
Worte meiner Wirtin war: "O, Herr Doktor, über Ihre Kinderle werde Sie sich
recht freue!" Es ergab sich, daß sie darunter meine Laubfroschfamilie
verstand, deren Mitglieder von 1/2 Zoll Länge auch wirklich zu stattlichen
Burschen von 1-1 1/2 Zoll herangewachsen und eine den ganzen Tag hell
tönende Stimme erhalten hatten. Dafür hatten sie aber auch täglich Fliegen
bekommen, die apart für sie en gros vom Bäcker geholt werden! . . .
Mein gestriger moralischer Katzenjammer hat schon heute einige Linderung
erfahren, wovon zum Teil die bereits heute gemachten Antrittsvisiten Ursache
sind. Es waren derer nicht weniger als fünf, und zwar: 1) bei Herrn Prof.
Schenk, der mich wider Erwarten sehr freundschaftlich und wohlwollen
empfing; 2) bei Herrn Prof. Kölliker; 3) bei Herrn Prof. Müller (einem
jungen, sehr schüchternen, aber tüchtigen extraordinarius, der zusammen mit
K. das Kränzchen dirigiert); 4) bei Herrn Dr. Gsell- Fels, einem sehr
reichen jungen Schweizer, Dr. philos. , der jetzt Medizin studiert,
verheiratet und Büchernarr in einer Extension ist, wie ich sie noch nie
gesehen. Alle neusten und kostbarsten Werke muß er gleich haben. Ich suche
mir auch sein Wohlwollen möglichst warm zu halten, um seine exzellente
Bibliothek benutzen zu können, die er mir ganz zur Disposition gestellt hat;
5) bei Herrn Dr. Leydig, einem sehr talentvollen, tüchtigen, netten und
liebenswürdigen jungen Privatdozenten, der sich fast nur mit mikroskopischem
Beobachten, namentlich der Gewebelehre und Entwickelung der Tiere,
namentlich Salamander, beschäftigt. Mit diesem Dr. Leydig, stehe ich auf
sehr freundschaftlichem Fuße, was wohl daran liegen mag, daß unsere Naturen
manche verwandte Seiten zeigen; auch haben wir uns schon mehreremal unser
Herz (nämlich das naturwissenschaftliche) ausgeschüttet. So ist er z. B.
(trotzdem der in seinem Fach ein sehr tüchtiger und geschickter Beobachter
ist) in seinem Äußern, namentlich hinsichtlich seines Umgangs mit Menschen,
ziemlich unbeholfen und nicht selten so täppisch fast wie ich (woran wohl
die überlangen Knochen seiner Extremitäten schuld sein mögen); ferner zeigt
er gegenüber einer ungeheuren Liebe und Hingebung zur reinen
Naturwissenschaft, namentlich der Anatomie und Physiologie, einen ebenso
großen Abscheu gegen die Medizin überhaupt, vor allem aber gegen die
ärztliche Praxis (er ist übrigens auch Dr. med.). Ferner liebt er
ebensowenig wie ich den Trubel und die Faxen der zivilisierten Menschheit,
ist am seligsten bei seinen Beestern und seinem Mikroskop, ist auch
hypochondrisch, usw. usw. usw.
So schimpfte er z. H. heute, wo ich ihn unwohl antraf, sehr über die
Scharlatanerie der Medizin, die andern Leuten zu helfen verspreche, aber
sich selbst nicht einmal helfen könne. Er ist der Sohn ganz armer Eltern und
hat sich aus den dürftigsten Verhältnissen so tüchtig herausgearbeitet; er
war so arm, daß er während seiner Studienzeit ein ganzes Jahr nur von Brot
hat leben müssen. Infolgedessen ist seine Stellung sehr abhängig; um nur
nicht zu verhungern, muß er vor mehreren Professoren, die nicht halb so
tüchtig sind als er, ergebene Kratzfüße machen und mühevolle Arbeiten für
sie ausführen . . . Auch heute klagte er mir wieder sein Leid und wie sehr
abhängig doch die Stellung eines armen Privatdozenten sei. Als ich ihn heute
verließ, schenkte er mir zwei von seinen kleinen neuesten Abhandlungen, über
die Anatomie und Histologie eines Fisches ( Polypterus bichir) und einer
Blattlaus (Coccus herperidum ), wie er mir auch schon vor seiner Abreise die
Beschreibung eines von ihm neu entdeckten, niedlichen Schmarotzerkrebses
(Doridicola agilis) geschenkt hatte. Ich denke, mit diesem netten Mann noch
recht bekannt zu werden und viel von ihm zu lernen . . .
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Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999
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