Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
35. Brief
Ziegenrück, 13. 10. 1853.
Liebe Eltern!
. . . Wir befinden uns hier fortdauernd sehr munter und vergnügt; ich fühle
mich jetzt gesünder und sorgloser als seit langer Zeit, woran die Ursache
gewiß ebensosehr in der Abgeschlossenheit von allen äußern Menschentrubel
als in der unerschöpflichen Herrlichkeit der Natur in dem hiesigen
Bergparadies liegt; ja, die Hypochondrie ist jetzt stellenweis so in den
Hintergrund gedrängt, daß ich wieder mit einer besonderen Art von Lebenslust
und Sinn für die Zukunft in mein künftiges Leben, mag es nun fallen, wie es
will, neugierig hineinzublicken wage, was mir seit langer Zeit vergangen
war. Item, es ist hier mein Tusculanum! Wir haben nach Eurer Abreise, je
nachdem die undurchdringlichen Nebel in den Tälern sich morgens senkten oder
aufstiegen, abwechselnd noch mehrere wunderschöne Herbsttage, die sich von
denen während Eures Hierseins nur durch größere Kälte, bunte Wälder und
Herbstlichkeit unterschieden, und gelingen Landregen gehabt. An einem der
erstern Tage, der wirklich ganz frühlingsmäßig war, machte ich mit Karl
einen Ausflug nach der Hakenmühle, nach der wir Papa so gern einmal
hingebracht hätten. Es ist allerdings ewas weit (wir gingen um 3 Uhr
nachmittags aus und kamen erst abends um 7 Uhr wieder), aber der Weg dahin
(über das Conrod und den Lasterberg, immer weiter westlich in die Schluchten
hinein, längs der Saale hin) ist auch überaus lohnend; und wie herrlich
liegt erst die Mühle selbst! in einer ganz engen, beiderseits von hohen
Waldrändern eingeschlossenen, ganz einsamen Schlucht der Saale, über welche
ein schwindliger Steg zu den Felsen des andern Ufers hinüberführt! Es ist
ein sehr ansehnliches, hohes und mit vielen Nebengebäuden versehenes Haus,
das einen in dieser Einsamkeit überrascht. . . .
Eine fast noch entzückendere Partie als diese (vorigen Sonnabend) machte ich
vorgestern (Dienstag, den 11ten). Karl hatte nämlich früh Termin in der
"Liebsten" (Liebschütz). Ich begleitete ihn früh um 7 Uhr über die Hemmkuppe
und die Liebschützer Höhe (wo Papa ja wohl auch die schöne Aussicht nach
Süden und Osten, namentlich in das Saaltal nach Lobenstein zu gesehen hat),
auf welcher ich noch lange allein gemütlich herumbummelte und Moose und
Flechten suchte. Dann ging ich auf dem alten Weg zurück und rutschte (halb
kullerte ich) den nördlichen, der Hemmkuppe zugekehrten steilen Abhang
herunter, wo ich unten an einen allerliebsten Bach gelangte, der sich hier
in die Saale ergoß. Dann kletterte ich den steilen Abhang längs der Saale
hin und gelangte so nach 2 Stunden an den Anfang des überaus herrlichen
Ottergrunds, dessen Pracht mir schon Karl so schön geschildert hatte, der
aber noch alle meine Erwartungen übertraf und sich dreist mit den schönsten
und wildesten Bergbächen des Thüringer Waldes, ja sogar des Harzes
vergleichen kann. Denn abgesehen von der reichen Flora der zierlichen Moose,
dir mir den ganzen folgenden Tag Material fürs Mikroskop lieferten, besitzt
dieser überaus schöne Ottergrund, der alle andern Naturschönheiten
Ziegenrücks in sich vereint, eine solche Fülle und Abwechslung von
prachtvollen Bäumen, düstern Bergabhängen, lieblichen Wiesengründen und
romantischen Felspartien an dem Ufer seines wild über Blöcke dahintosenden
und niedliche Kaskaden bildenden Bergbaches, daß ich mich kaum nach mehreren
Stunden davon trennen konnte . . .
Am Sonntag haben wir mir Doktors "Steins Leben" zu lesen angefangen.
Vorgestern abends waren wir unten, da der Frau Doktor Geburtstag war. Wir
waren sehr vergnügt. Es sind doch ganz umgängliche Leute. Ich werde jetzt
viel von ihnen mit meiner Misogynie aufgezogen. So veränderte der Doktor,
als er mich gestern im Moose so vertieft fand, die Schöpfungsgeschichte
folgendermaßen: "Und Gott sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein
sei; und er schuf um ihn Laubmoose und Lebermoose und Flechten und ein
Mikroskop!"
Ich habe jetzt mit sehr viel Interesse und Nutzen die populäre Astronomie
von Rauch, die Du, liebe Mitter, mir mitbrachtest, gelesen. Es ist ein sehr
lehrreiches, vor allen sehr faßlich und verständlich für Laien geschriebenes
Buch, das gewiß auch Dir, lieber Vater, die Hauptzüge der Astronomie
vollkommen klar machen wird, was Du ja immer gewünscht hast. Lies es nur
einmal. Ich hatte vorher auch kaum eine Idee davon und bin durch einmaliges
Lesen dieses Buches sehr aufgeklärt worden.
Wenn Ihr Georg Quincke noch seht, so grüßt ihn herzlich und sagt ihm, er
möchte doch, wenn es anginge, in Königsberg Physiologie bei Helmholtz hören.
Er gilt in Würzburg für den exaktesten der jetzigen Physiologen, der
namentlich alle in das Gebiet der Physik schlagenden Kapitel der Physiologie
mit großer mathemathischer Genauigkeit behandelt hat . . .
Sehr viel haben wir an unsre arme, arme Tange B. gedacht und ihre Leiden von
Herzen bedauert. Aber wenn ihr das nur etwas hülfe! Es ist doch gar zu hart
und grausames Leid, nachdem es ihr im Sommer so viel besser gegangen, nun
wieder ganz elend und flach dazuliegen. Da möchte man wirklich oft den
lieben Gott fragen, wie er so etwas zugeben kann! -
Wir grüßen sie alle recht von Herzen und lassen ihr baldige Linderung der
Qual wünschen, wozu Gott helfen möge! . . .
Die besten Grüße von Eurem alten Ernst H.
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Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999
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