Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
39. Brief
Würzburg, Mittwoch 16. 11. 1953
Mein liebster Vater!
Dem Wunsche Mutters gemäß, die gern alles liest, was ich schreibe, und die
mir schrieb, ich möchte alle nach Berlin an Dich gehenden Briefe über
Ziegenrück schicken, erhälst Du auch Deinen Geburtstagsbrief diesmal nicht
direkt von hier aus. Es ist dies nun schon das drittemal, daß ich an diesem
Hauptfeste der Haeckelschen Familie persönlich nicht teilnehmen kann, Dir
selbst, mein lieber Vater, nicht mit einem Kuß und einem Händedruck alles
das sagen kann, was ich für Dich in Herz und Sinn trage und was noch so
viele Worte doch nicht hinlänglich ausdrücken können. Aber auch so, denke
ich, bauche ich nicht viel Worte zu machen über die innigen und treuen
kindlichen Gesinnungen der herzlichsten Kindesliebe, die ich für Dich hege,
und die grade an Deinem Geburtstage, als unserm höchsten Freudenfeste, sich
zu besonderer Innigkeit steigern. Du weißt selbst, wie sehr ich mit Euch,
liebste Eltern, mit meinen lieben Geschwistern, mit unserm ganzen teuern
Familienleben innig verwachsen bin, ja, wie ich vielleicht zu einseitig und
weltscheu im Zusammensein mit Euch mein höchstes Glück finde. Bei jeder
neuen Trennung von Euch muß ich auch diesen Trennungsschmerz immer neu
empfinden. Ich hatte nun gehofft, das Heimweh würde sich allmählich ganz
geben. Aber immer und immer wieder, wenn ich diesen engen und heimischen
Familienkreis verlassen habe, wird mir so weh ums Herz, ich bekomme eine so
kindische und unnütze Furcht und Scheu vor der Außenwelt, daß ich mich oft
selbst darüber schämen muß. So muß ich auch jetzt, nach diesen seligen
ungetrübten Tagen der Freude, die ich in seliger Stille mit Euch verlebte,
gar so sehnsüchtig nach diesem Elysium zurückdenken, obwohl mich der Trubel
und die Ruhlosigkeit meiner neuen Zeiteinteilung auch kaum einen Augenblick
zum Bewußtsein meiner Einsamkeit kommen lassen. O, wie schön ist doch das
Familienleben, durch nichts zu ersetzen. Ich habe das jetzt so recht wieder
bei meinem lieben glücklichen Bruder gesehen, über dessen Glück (auch über
das Kommende) ich mich wirklich mehr freue, als ich es über ein eignes tun
könnte. Was für eine hohe Freude muß es auch für Dich jetzt sein, noch
hoffentlich glücklicher Großvater zu werden; ich gratuliere Dir dazu noch
ganz besonders zu Deinem Geburtstag und wünsche recht von Herzen, daß Du
noch an Deinen Enkeln die Freude Deines Alters erlebst und zur Freude der
Enkel sowohl wie der Kinder noch recht lange und glückling als jugendlich
frisches und muntres Familienhaupt fortlebst. Das einzige schmerzliche
Gefühl (was mir aber auch oft sehr bittere und düstere Gedanken macht), das
ich beim Ausspruch dieses Wunsches, ist das, daß ich selbst, mein lieber
Vater, Dir bis jetzt noch so wenig Hoffnung und Freude verursacht habe, und
daß mir dies wirklich um so weniger zu gelingen scheint, je mehr ich mir
dazu alle mögliche Mühe und Sorge mache. Dessen kannst Du versichert sein
und weißt es auch, daß es mein aufrichtiges und beständiges Streben ist, ein
recht tüchtiger und braver Mann zu werden. Aber grade je mehr ich mit allen
Sinnen und Gedanken darauf bedacht bin, destoweniger sehe ich irgendeinen
Erfolg oder eine Aussicht dazu. Grade in dem wichtigsten Punkte, in der
Einrichtung und Ausführung meines ganzen Lebensplans, stehe ich jetzt noch
so ratlos und tatlos da wie nur je. Es wird jetzt, wie Du Dich vielleicht
erinnerst, grade ein Jahr sein, daß ich Dir in der ersten Abneigung, die mir
die Einsicht in das Studium der Medizin einflößte, in einem langen Briefe
die Unmöglichkeit, Arzt zu werden und Medizin zu studieren,
auseinandersetzte. Du suchtest mich damals mit mancherlei, zum Teil auch
wohl ganz richtigen Gründen zu beschwichtigen, und diese hielten auch den
Sommer über, wo ich mich mehr mit der reinen Naturwissenschaft beschäftigte,
vollkommen vor. Ich hatte den bestimmten Vorsatz, das Studium, so schwer es
mir auch werden würde, durchzusetzen. Jetzt aber, lieber Vater, stehe ich
wieder auf demselben Standpunkt wie vor einem Jahr, wenn auch aus andern
Gründen. Es liegt dies einfach daran, daß ich jetzt, wo ich einen tiefen
Einblick in das Wissen und Treiben der praktischen Medizin zu tun anfange,
die wahre Natur dieser edlen Kunst zu begreifen anfange. Früher war es, ich
gestehe es gern zu, mehr ein äußerer, von reizbarer Nervenschwäche
herrührender Ekel, der mir diese Seite des ärztlichen Lebens so traurig
erscheinen ließ. Jetzt ist dieser zum größten Teil überwunden und würde sich
vielleicht mit der Zeit noch mehr geben, wenngleich ich glaube, daß ich eine
unbesiegbare Scheu vor vielen Krankheitsäußerungen nie überwinden werden. -
Aber eine ganz andere Ursache ist es, die mir jetzt mit voller Gewißheit die
Unmöglichkeit, als Arzt zu wirken, vor Augen stellt. Dies ist nämlich die
ungeheure Unvollkommenheit, Unzuverlässigkeit und Ungewißheit der ganzen
Heilkunst, die es mir diesen Augenblick (es mag allerdings zu einseitig
sein) fast unglaublich erscheinen läßt, daß ein gewissenhafter, sich selbst
überall zur strengsten Rechenschaft ziehender Mann mit dieser "Kunst", die
in hundert Fällen diese Wirkung, in hundert gleichen die grade
entgegengesetzte hervorbringt, seinen Nebenmenschen quälen und mit ihnen
gleichsam ins Blaue hinein experimentieren könne. In dieser Beziehung
verhält sich die Medizin extrem entgegengesetzt der Mathematik. Hier ist
alles in bestimmte, unveränderliche, ausnahmslose Formeln gebannt, dort ist
von alledem nichts; jeder handelt noch seinem eignen Gutdünken; dem einen
fällt dies, dem andern jenes ein; dort stirbt vielleicht ein Patient einem
wissenschaftlich höchst ausgebildeten Arzte unter der Hand, während er hier
von einem Quacksalber kuriert wird. Ich frage Dich selbst: Muß so nicht
jeder Arzt in jedem Augenblick, wenn er an seine Pflicht und an sein Tun
denkt, mit sich selbst in schweren Konflikt, in traurigen Zweifel geraten? -
Wenn ich meinen Bekannten dies exponiere, so lachen sie mich aus! Frage ich
sie, was sie dagegen meinten, so sagen sie, ich sei nur tauglich, um
natürliche Pflanzenfamilien zu schaffen und Moose zu mikroskopieren, oder
Infusorienkrankheiten zu behandeln usw. Überhaupt scheinen auch sie sämtlich
einig zu sein, daß ich zu nichts weniger als zum Arzt passe. Schon das ist
ein großer Nachteil für mich, daß ich nicht von Jugend auf medizinische
Gespräche mitangehört, mit einem Worte, mich in diese ganze Sphäre etwas
hineingelebt habe, in welchem Falle sich meine meisten andern Bekannten,
überhaupt, fast alle Studenten der Medizin befingen, sollten sie sich dies
medizinische Begriffs- und Denkvermögen auch erst in den Kneipen erworben
haben. Dadurch, daß ich viele Ausdrücke, die hier gang und gäbe sind und die
die andern verstehen, ohne noch Pathologie gehört zu haben, ganz und gar
nicht kenne und mit den gewöhnlichsten medizinischen Redensarten usw. noch
gar nicht vertraut bin, geht mir zum Beispiel ein großer Teil des
Virchowschen Kollegs verloren. Frage ich über so ewas andere, um mir
Auskunft zu holen, so meinen sie, daß mir das doch nichts hülfe; ich könnte
doch höchstens Professor werden; zu was Ordentlichem tauge ich gar nicht
usw. Andre sind dabei wenigstens aufrichtiger und meinen: "Wenn Du Professor
werden willst, ist das grade, wie wenn ein kleiner Junge König werden will."
Dabei spreche ich gar nicht "Professor werden" und denke auch nicht daran.
Nur kein Arzt! Lieber will ich den kleinen Jungens in der Klippschule das
Einmaleins lehren. Eine andre Frage ist's freilich, ob ich das nun einmal
begonnene Studium der Medizin auch trotz der gewissen Aussicht, es nie
praktisch verwerten zu können, fortführen soll. Fast bleibt mir nichts
andres übrig, da Ihr es nun einmal wünscht, und da es zu einer Umkehr, etwa
zur Mathematik, um diese als Hilfswissenschaft der Naturwissenschaft zu
treiben, fast wohl schon zu spät ist. Wenn ich ganz frei über mich selbst
jetzt zu disponieren hätte, würde ich doch vielleicht noch das letztere tun,
oder noch lieber mich mit aller mir zu Gebote stehenden Kräften einzig und
allein auf das Studium der reinen Naturwissenschaft werfen, alle Zeit, die
mir außer Essen, Trinken, Schlafen und Denken an Euch noch übrigbleibt
einzig und allein darauf verwenden, mich ganz ex fundamento in ihr heimisch
zu machen; und dann denke ich, müßte ich, bei der größten Liebe und Lust und
der mir möglichsten (was freilich nicht viel sagt) Ausdauer es doch zu etwas
Tüchtigem bringen. Die einzige Frage, und zwar die sehr schwere, wäre
freilich, ob meine Kräfte dazu ausreichen. Nun bedenke aber dazu das ganze
Feld der angewandten medizinischen Wissenschaft in seiner ungeheuren
Ausdehnung, welches in der neuesten Zeit so ungeheuer ausgebildet und
erweitert ist, daß die meisten in 4 Jahren sich nur einen ganz
oberflächlichen Überblick erwerben können, bedenke den fabelhaften Wust von
barbarischen Mitteln, Formen usw., die an sich schon ein Gedächtnis in
Anspruch nehmende Massen rohen, halb unnützen, halb zweifelhaften,
empirischen Materials - mir nebeln wirklich die Sinne, wenn ich daran denke,
daß ich diesen ganzen ungeheurn, wüsten Kram, der noch dazu für mich
speziell so manches Ekelhafte und Widerliche besitzt, zu dessen Aneignung
ein halbes Leben gehört, wenn ich bedenke, daß ich dieses ganze ungeordnete
Chaos mir ganz zu eigen machen soll - und zwar wozu? Um nichts und wieder
nichts!! Denn einmal als Naturforscher große Reisen zu machen, hätte die
Sache noch einigen Sinn. Aber so!? - Schade, schade, daß ich Dir nicht
mündlich dies und vieles andre explizieren kann und schriftlich läßt sich
die Sache nur so halb und unvollkommen darstellen! -
Nun vor allem eine herzliche Bitte, liebster Vater. Sei nicht im geringsten
unwillig oder betrübt darüber, daß ich Dir so ganz offen und unverhohlen
meine ganzen Empfindungen und Gedanken über diesen höchst wichtigen
Gegenstand offenbart habe. Ich denke doch, es ist besser, ich spreche die
Gesinnungen ganz offen aus, wenn sie Dich auch eben nicht erfreuen können
(was mir herzlich leid und wehe tut), als daß ich sie Dir von Anfang an
verberge und nachher Dir plötzlich andere zeige. Wenn Du es für das beste
hälst, will ich ja gerne mit allen mir möglichen Fleiße (wenn auch ohne Lust
und Aussicht auf Erfolg) das Studium der Medizin weiter fortreiben. Nur muß
ich mich dann später, wenn es zu meinem entschiedenen Nachteil ausschlägt,
vor jeder Verantwortung und vor jedem Vorwurf verwahren. Daß ich es mir
übrigens angelegen sein lasse, die bestimmte Zeit gehörig zu benutzen,
kannst Du aus folgendem Lektionsplan ersehen (pro Woche errechnet): 8-10
Sezierübungen (12), 10-11 materia medica (5), 11-1 praktisch (!) chemische
Arbeiten im Laboratorium (8), 1-2 Mittagessen auf der Harmonie (auf Deinen
ausdrücklichen Befehl; das Essen ist zwar teuer [21 Kr.], aber sehr gut, und
ich lasse es mir so vortrefflich schmecken, daß meine Freunde meinen, der
Wirt profitiere an mir keinen Kreuzer). 2-3 physiologische Chemie (2), 3-4
allgemeine Pathologie und Therapie mit besonderer Rücksicht auf
pathologische Anatomie, bei Virchow (5), 4-5 theoretische Geburtshilfe bei
Scanzoni (dem ersten deutschen Geburtshelfer) (5), von 5-6 ist die einzige
freie Stunde am Tage; von 6-8 habe ich noch mikroskopischen Kursus in der
Untersuchung normaler tierischer Gewebe bei Kölliker, Freitags und Samstags,
an sich zwar höchst interessant und mir ganz besonders, jedoch aus dem
Grunde weniger, weil ich fast alle die Sachen schon selbst mit meinem
Mikroskop präpariert habe. Auch ist die Anleitung ohne systematische Regel
und Ordnung; ich werde dabei nicht viel Neues profitieren. Alle diese
Kollegia kosten zusammen nur 78 fl. Davon allein 25 das Laboratorium, 15 das
Präparieren der Arterien, 12 der mikroskopische Kurs usw. über die einzelnen
werde ich Dir später noch ausführlich schreiben. Sehr geistreich ist die
Vorlesung von Scherer (einem der berühmtesten organischen Chemiker) über die
medizinische Chemie, wo er die fabelhaftesten physiologischen und
pathologischen Vorgänge im Leben des menschlichen Körpers auf die
anorganischen, chemischen Gesetze zurückführt. Die materia medica (das
einzige und erste Kolleg, das ich systematisch schieße, weil es gar zu
schlecht ist) oder Heilmittellehre höre ich bei einem gewissen Rinecker,
einem vollkommenen und ausgebildeten Hampelmann, Hanswurst, Scharlatan oder
was Du sonst willst, dabei ein gräßlicher, oft ganz sinnloser Schwadroneur,
Schwefler und Räsoneur, mit den komischsten Deklamationsbewegungen seinen
schauerlichen Vortrag begleitend. Das einzige Gute an dem Kolleg ist, daß es
sogleich in der ersten Stunde vollkommen geeignet ist, dem künftigen Arzt
vollständig alle etwaigen, wenn auch nicht rosenfarbigen Illusionen zu
vertreiben, die er sich etwa über seinen künftigen Beruf als Messias der
leidenden Menschheit, über die Medizin oder Kunst zu heilen, machen könnte.
Herr R. erklärt gleich bei der Eröffnung des Kollegs mit einer wirklich
erstaunlichen und lächerlichen Naivität und Offenheit, daß sich doch niemand
einbilden möge, die Ärzte seien dazu da oder beschäftigten sich damit, die
Zahl der Krankheiten zu vermindern und sie zu vertreiben. Im Gegenteil, je
höher die Medizin rationell steige, desto mehr vermehrten und vergrößerten
sie sich. Die ganze Behandlung der Kranken sei eigentlich nur ein ganz
unsystematisches Experimentieren, ein irrationelles Versuchen mit dem
menschlichen Organismus, ein unnützes und wenigstens sehr zweideutiges
Probieren, Hin- und Herraten usw. "Geht's mit dem Mittel nicht, geht's mit
dem!" usw. Dabei erzählt er die gräulichsten Zoten und Geschichten, wie
junge, nicht ganz sattelfeste Ärzte durch unüberlegte Dosen gesunde Leute
krank und unglücklich gemacht haben, kurz, daß mein Herz und Gewissen
schlägt, wenn ich daran denke. Daß eine solche Vorlesung geeignet ist, auch
einen, der von vornherein mehr Neigung zur Medizin hat als ich, dieselbe
gänzlich zu vertreiben, kannst Du mir glauben. Mir ist dabei manches neue
Licht aufgegangen. Ich begreife jetzt wenigstens, wie die meisten Ärzte die
Chirurgie, die mir früher das Schrecklichste war, wegen ihrer materiellen
Sicherheit bei weiten diesem planlosen Spielen mit dem menschlichen Leben
vorziehen können. Und diese materia medica, die Heilmethode ist es, auf die
ich noch am meisten bei meiner ärztlichen Wirksamkeit gehofft hatte!!
Das Hauptkollegium in diesem Semester ist die allgemeine pathologische
Anatomie bei Virchow, weswegen (sowie wegen der Sezieranstalten) ich auch
allein hier geblieben bin. Dies Kolleg ist so einzig in seiner Art, daß ich
Dir unmöglich jetzt schon ein vollständiges Bild davon geben kann. Jetzt nur
einiges Äußerliche darüber. Das Kolleg behandelt größtenteils Sachen, die
noch gar nicht gedruckt sind und die von Virchow selbst erst neu entdeckt
sind. Aus diesem Grunde ist auch der Andrang dazu ein ganz ungeheurer. Der
sehr große, amphitheatralische Hörsaal mit weit über 100 Plätzen ist
vollständig gefüllt. Während die andern Kollegien meist periodisch
geschwänzt werden, sucht hier jeder womöglich auch nicht einmal zu fehlen,
weil er hier Dinge hört, die er sonst nirgends erfährt und liest. Trotzdem
aber fast alle hier anwesenden Mediziner das Kolleg fleißig besuchen, möchte
ich doch dreist behaupten, daß kaum der zehnte Teil ihn nur einigermaßen
versteht. Wenigstens gilt dies von der überschwenglich philosophischen
Einleitung, die er jetzt gegeben hat, und die das Phänomen des Lebens, der
Krankheiten und des Todes behandelt. Der Vortrag Virchows ist nämlich
schwer, aber außerordentlich schön; ich habe noch nie solche prägnante
Kürze, gedrungene Kraft, straffe Konsequenz, scharfe Logik und doch dabei
höchst anschauliche Schilderung und anziehende Belebung des Vortrags
gesehen, wie sie hier vereinigt ist. Aber andrerseits ist es auch, wenn man
nicht gespannteste Aufmerksamkeit, eine gute philosophische und allgemeine
Vorbildung mitbringt, sehr schwer, ihm ganz zu folgen, den roten Faden, der
sich so schön durch alles hinzieht, zu behalten; namentlich wird das klare
Verständnis sehr erschwert durch eine Masse dunkler, hochtrabender
Ausdrücke, gelehrter Anspielungen, allzu häufigen Gebrauch von Fremdwörtern,
die oft sehr überflüssig sind, usw. Die meisten der Kommilitonen schauen nur
starr und wie vernichtet dieses Wunder an; freilich fällt von so einem
Reichtum für jedem ein Bissen ab; aber wieviel Kleinodien gehen da verloren.
Mir selbst wird es nur mit der größten Anstrengung und auf eine Weise
möglich, das in der Stunde mit fast stenographischer Eile (daß mir nachher
die Hand ganz lahm ist) Wort für Wort fast sinnlos und mechanisch
Nachgeschriebene nachher einigermaßen zu ordnen, zu verdauen und anzueignen.
Ich setze mich nämlich, sowie ich um 5 Uhr aus dem Kolleg komme, hin und
suche mit Anspannung aller mir zu Gebote stehenden Geisteskräfte durch
sorgsames Durchdenken und Ausarbeiten des empfangenen Stoffs mir Verständnis
und Vertrautheit mit diesem Reichtum tiefer Gedanken zu erwerben. Freilich
kostet das viel Schweiß und Zeit; unter 3-4 Stunden werde ich nicht mit der
einen Stunde fertig, und kaue und verdaue ich den ganzen Abend bis um 11
daran. Aber dann merke ich auch den sichtbaren Nutzen. Übrigens scheint mir
nur der Anfang zu unendlich schwer gewesen zu sein. Jetzt, wo er mehr ins
Spezielle, namentlich die mikroskopische Betrachtung der Veränderungen, die
die Gewebe des Körpers durch die Krankheiten erfahren, kömmt, wird er weit
angenehmer und leichter verständlich als in der wirklich ganz philosophisch
gehaltenen, aber gedankenschweren Einleitung, die das Wesen des Lebens, der
Krankheit und des Todes behandelte und mich im höchsten Grade interessierte,
wenngleich ich keineswegs ganz damit einverstanden bin. Virchow ist nämlich
durch und durch Verstandesmensch, Rationalist und Materialist; das Leben
betrachtet er als sie Summe der Funktionen der einzelnen, materiell,
chemisch und anatomisch verschiedenen Organe. Der ganze lebende Körper
zerfällt danach in eine Summe einzelner Lebensherde, deren spezifische
Tätigkeiten an die Beschaffenheit ihrer Elementarteile, also in letzter
Instanz an die Zellen, aus denen der ganze Körper besteht, gebunden ist. So
ist die Seelentätigkeit die inhärierende Eigenschaft der lebenden
Nervenzelle, die Bewegung das Resultat des Baues der Muskelfaserzelle usw.
Mit der normalen physikalischen und chemischen Beschaffenheit dieser
feinsten mikroskopischen Formelemente ist also ihre gesunde Lebenstätigkeit
unabänderlich verbunden. Mit ihr steht und fällt sie. Die von diesen Zellen
als sebstständigen, aber einfachsten Wesen ausgehende Lebenskraft ist es,
welche die toten oder vielmehr latenten Kräfte der Materie, die
schlummernden Kräfte der feinsten materiellen Teilchen, der Moleküle, zur
Tätigkeit erweckt, vorerst gleichsam in ihren Dienst nimmt, um den
Organismus zu bauen. Das Leben ist also das Resultat der einzelnen
Zellenkräfte und der mit ihnen verbundenen Molekülenkräfte usw.
Wie leid tut es mir, daß ich Dir nicht diese ganze, wirklich höchst
geistreich durchgeführte Ansicht von Virchow mitteilen und vollständig
exponieren kann. Aber schriftlich geht das eben nicht. Du findest übrigens
diese durchaus materialistische Anschauung jetzt ziemlich allgemein unter
den ersten Naturforschern Deutschlands verbreitet. Mich interessierte sie in
der Schärfe und Klarheit, mit der ich sie hier durch und durch erkennen
lernte, außerordentlich, und wenngleich ich namentlich ihre Konsequenzen
nicht alle teilen kann, so frappierte mich doch eben die Konsequenz, mit der
die Schlüsse durchgeführt waren. Übrigens ließ sich Virchow grade über den
Hauptpunkt, nämlich das Verhältnis der Seele zu diesem organischen Komplex
selbstständiger, aber an die Materie gebundener Lebensherde, nicht näher
aus. Jedoch werde ich dabei nicht viel verloren haben. Nach seiner
Betrachtungsweise des Lebens und Todes kann man freilich mit der Seele bis
jetzt nicht viel anfangen. Den Tod definiert er nämlich als "das
Zurückkehren der chemischen Elemente, welche sich bei der Konstitution des
Organismus zu den kompliziertesten, zusammengesetztesten und feinsten und
höchsten Atomenkomplexen vereinigt habe, zu den höchst einfachen, binären
Verbindungen (Wasser, Kohlensäure, Ammoniak usw.) der anorganischen Natur".
Diese rationalistisch materielle Anschauungsweise der ganzen
Lebenserscheinungen ist übrigens durch und durch Virchows ganzem Wesen
entsprungen. Überall tritt in seinem ganzen Wort und Werk Dir der absolute
Verstandesmensch mit klarer und schneidender Schärfe entgegen; tiefe
Verachtung und höchst feinwitzige Verspottung Andersdenkender, religiöser
Rationalismus oder noch mehr, politischer Radikalismus usw. (bekanntlich ist
V. wegen seiner radikalen politischen Ansichten aus Berlin, wohin er sehr
gern möchte, förmlich verbannt!), dabei außerordentliche Festigkeit des
Charakters. Mich erinnert er mit seiner klaren logischen Schärfe, mit dem
feinen, aber beißenden Witz, mit dem hohen Selbstbewußtsein oft sehr an
Hiecke. In der Ausführung des Vortrags übertrifft er ihn fast noch. -
Außerordentlich hat mich die Definition der Krankheit angesprochen, die
Virchow in der Einleitung gab. Er betrachtet nämlich alle pathologischen
Erscheinungen als durchaus nicht spezifisch oder qualitativ, sondern
vielmehr nur quantitativ von den normalen physiologischen verschieden. Das
Außerordentliche, scheinbar Naturwidrige ( praeter naturam liegende) der
ersteren besteht entweder nur darin, daß normale Vorgänge sich übermäßig
vergrößern und erweitern, oder darin daß eine Bildung an einem andern Orte
des Körpers und zu einer andern Zeit auftritt, als sie es normal eigentlich
sollte. Das Pathologische, Krankhafte ist also durchaus nicht etwas
Besonderes, Eigentümliches, sondern vielmehr nur ein Überhandnehmen, die
Grenzen des Gewöhnlichen Überschreiten des Normalen, Heterotopien oder
Heterochronien derselben. Grade mich spricht diese Auffassung sehr an, weil
ich bisher immer das Gegenteil davon geglaubt, nämlich die Krankheiten für
etwas ganz abnormes, für sich Bestehendes, als besondere feindliche Kräfte
angesehen hatte, woher sich auch zum Teil mein übergroßer Ekel und Abscheu
dagegen datiert. Dies sind sie nun aber nach Virchows überzeugender
Argumentation nicht. Keine eigentümlichen Kräfte walten in ihnen, die
äußeren Krankheitserscheinungen sind vielmehr nur die Äußerungen der
normalen Lebenskraft, welche sie als Reaktion gegen die von außen
einwirkenden, ihr entgegentretenden äußern Krankheitsreize ( noxae) ausübt.
Übrigens darfst Du ja nicht denken, daß ich dadurch, und daß ich mit dem
Begriff der Krankheit nun etwas mehr ausgesöhnt bin, etwa nur im geringsten
mehr Lust hätte, mich mit ihnen abzugeben. Davor muß ich mich eifrigst
verwahren. Auch wird das schöne Virchowsche Kolleg wenig dazu beitragen, da
es sich fast gar nicht mit den Krankheiten selbst beschäftigt, sondern nur
mit den chemischen und physikalischen Veränderungen, namentlich aber (was
mir immer das Interessanteste ist) mit den histologischen mikroskopischen
Formveränderungen, welche die Gewebe des menschlichen Körpers und ihre
Elemente durch allgemeine Krankheitsreize erleiden, wie z. B. Entzündung
usw. Also wird das Kolleg ein sehr interessantes, naturwissenschaftliches;
aber durchaus eigentlich nicht medizinisches, wie denn V. auch durchaus kein
Arzt oder Freund der Ärzte und ihrer Praxis ist, sondern nur ein sehr
tüchtiger Naturforscher, Chemiker, Anatom, Mikrokopiker usw.
Nächst diesem in seiner Art einzigen Kollegium, das es wohl wert ist, daß
man ganz allein um seinetwillen ein ganzes Semester hierbleibt, sind es
vorzüglich die praktischen anatomischen und chemischen Arbeiten, die mich
viel beschäftigen. An dem Sezieren habe ich jetzt sehr viel Geschmack
gewonnen, da ich jetzt erst die feineren Gegenstände, nämlich Arterien,
Venen und Nerven, an Spirituspräparaten ausarbeite. Bis jetzt hatte ich bloß
Muskeln, Eingeweide und dergleichen präpariert, was ziemlich grob und
langweilig ist. Diese feinen Bauverhältnisse des menschlichen Körpers,
welche die höchste Weisheit, womit sie in - und durcheinander gefügt sind,
die größte Bewunderung erregen, sind dagegen höchst interessant. Auch die
ganz genaue und sorgfältige Präparation derselben das einzige Mittel, um
sich eine topographische Kenntnis des Körperbaus (was grad' das Wichtigste
ist) zu erwerben. Ich nehme mich daher jetzt sehr zusammen, um meine
Flüchtigkeit und Ungeduld zu überwinden und habe auch (freilich mit viel
Zeitaufwand, seit 14 Tagen täglich 2 Stunden) wider mein eignes Erwarten mit
Geduld und Sorgfalt ein so schönes Präparat eines Arms zuwege gebracht, daß
meine Bekannten sich ebenso wie ich selbst darüber wunderten, und daß
Kölliker sagte: "Sie verfolgen ja die Nerven bis in die feinsten
Primitivfasern" (die man nämlich nur bei 300maliger Vergrößerung sehen
kann). Kein einziger Nerv, keine Arterie ist durchschnitten worden und das
Ganze so übersichtlich, daß ich Lust hätte, es als Andenken in Spiritus
aufzubewahren. Dabei habe ich noch eine spezielle Freude gehabt. An der Hand
findet sich nämlich eine sehr merkwürdige Varietät, die Kölliker selbst noch
nie gesehen hatte (der ramus dorsalis nervi ulnaris fehlt ganz und wird
durch den ramus superficialis nervi radialis vollkommen ersetzt, der quer
über die Hand wegläuft und alle fünf Finger versorgt. Gleichzeitig hört die
Vena basilica über die Hand auf und wird durch die Vena cephalica
vertreten). Auf diese Art bekomme ich jetzt eine ganz genaue Kenntnis des
menschlichen Körpers, wie man sie durch keine Vorlesung und kein Buch sich
erwerben kann, und wie sie mir als Naturwissenschaftler von höchstem
Interesse ist, wenn ich sie auch keineswegs praktisch zu verwerten wünsche
(etwa als Chirurg usw.). Auch macht es die Hand viel geschickter. -
Viel Freude macht mir auch das chemische Arbeiten in Scherers Laboratorium.
Bis jetzt analysiere ich nur unorganische Stoffe. Da mische, menge, mansche,
plansche, glühe, sprühe ich denn so, daß es nur eine Art hat. Als chemisches
Habit ist dabei der alte Überrock, den ich von Dir mitgenommen hatte, wieder
zu Ehren gekommen. Auch in der Chemie kann man nur wenig aus Büchern lernen;
man muß selbst durch Experimente und Analysen in sie eindringen, wenn man
den wahren Zusammenhang dieser merkwürdigen Wissenschaft ganz erfassen will.
Daß ich übrigens bei dieser Menge des zu bewältigenden Materials, das mich
buchstäblich von früh 8 Uhr bis abends 8 Uhr beschäftigt, keine Zeit zu
andern Beschäftigungen, auch nicht einmal zu meinen liebsten
Lieblingsstudien, Zeichnen und Mikroskopieren, Malen, Botanisieren usw.
behalte, kannst Du Dir leicht selbst denken. Der Abend, der auf diesen Tag
voll Trubel und Mischmasch folgt, ist dann ohnehin noch mit der Ausarbeitung
der Virchowschen Stunde besetzt, so daß ich eigentlich schrecklicheren
Zeitmangel als je leide, gar nicht zur Besinnung komme und mich, wenn ich
abends nach 11 Uhr zu mir selbst komme, kaum noch zu fragen Zeit habe, was
ich denn nun eigentlich im Laufe des Tages getan. Jedoch hat auch grade
diese perpetuierliche, angestrengte Beschäftigung ihre sehr guten Seiten. So
zwingt sie mich z. B. meine Aufmerksamkeit einmal ganz auf andre Gegenstände
zu richten, bewahrt mich vor allzu genauem und doch im Grunde fruchtlosem
Grübeln und Nachdenken über mich selbst und meine Zukunft und schützt mich
auch, wenigstens etwas, vor Hypochondrie, zu der ich mehr Neigung als je
habe, weshalb mich meine Bekannten oft tüchtig heruntermachen. So hat z. B.
neulich in der propädeutischen Klinik einer auf die Frage des Professors den
Studiosus Haeckel als Beispiel eines Urhypochonders angeführt! . . .
 Inhaltsverzeichnis
Brief 38................................Brief 40
Diese Seite ist Teil von Kurt Stübers online library
Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999
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