Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
40. Brief
Würzburg, Sonntag 4. 12. 1853
Meine Liebe Mutter!
Ich benütze heute gleich die erste Sonntagsfrühe, um Deinen lieben,
sehnlichst erwarteten Brief, den ich gestern abend erhielt, zu beantworten.
Auch wenn er nicht gekommen wäre, hätte ich doch am heutigen Tage
geschrieben, da ich mir diesen als letzten Termin gesetzt hatte, bis zu
welchem ich mit dem Antworten warten wollte, immer jede Stunde der frohen
Hoffnung lebend, durch eine "Entbindungsanzeige" überrascht zu werden. Wie
ich aber aus Deinem gestrigen Briefe sehe, macht das liebe kleine Balg (oder
vielmehr Bälglein) schrecklich lange und ist auch noch nicht in nächster
Zeit zu erwarten. Also habe ich bis jetzt vergeblich jeden Tag hundert- und
x- mal gedacht: "Heute gewiß erblickt auf dem Ziegenrücker Bergschlosse mein
erster Neffe das Licht der Welt!" und bin also auch vergeblich in voriger
Woche fast in jeder Zwischenstunde von der Anatomie nach Hause gelaufen, um
dort möglicherweise die frohe Botschaft von dem endlichen Erscheinen des
Stammhalters der Haeckelei vorzufinden. Nun, das lange Warten, was freilich
dem Ungeduldigen etwas schwer wird, macht nichts, wenn das so lange auf sich
warten lassende Munkelchen ( homunculus) nur ein recht tüchtiger, fester,
männlicher Kerl wird (was sein Onkel leider nicht immer ist!). Ich tröste
mich immer mir dem Spruch: "Was lange währt, wird gut!" Ein paarmal habe ich
sogar schon von meinem kleinen, allerliebsten Neffen höchst lebhaft
geträumt, das eine Mal sah ich ihn in seiner ganzen Lebensgröße leibhaftig
vor mir, wie er grade mit meinem Schatz (das ist mein Mikroskop) die
Zellentheorie studierte, und glaubte in seinem Antlitz die unverkennbare
Anlage zu einem großen Naturforscher zu erkennen (was er hoffentlich auch
wirklch wird), das andre Mal vermischten sich im Traume auf höchst komische
Art und Weise die Begriffe, nämlich meine jetzigen chemischen
Beschäftigungen im laboratorio und eine Stelle aus dem zweiten Teil des
"Faust", wo Wagner (wenn ich nicht irre) einen homunculus künstlich durch
allerlei chemische Operationen (Kochen, Destillieren, Filtrieren, Mischen
usw.) darzustellen sucht. Indem nun der phantastische Traumgott diese und
mehrere andere Reminiszenzen in meinem Gehirn zusammenbrachte, schuf er
durch Mischung derselben wirklich ein lustiges und komisches Bild: - ich sah
mich nämlich selbst im Traum in Scherers Laboratorio lebhaft und erfolgreich
damit beschäftigt, durch chemische Operationen aus kohlensaurer und
phosphorsaurer Kalk- und Talkerde, Leim usw. einen künstlichen homunculus
darzustellen, der schließlich, durch allerlei Niederschläge, Destillationen,
Kristallisationen usw. geläutert und rektifiziert, als mein allerliebster
Neveu vor mir stand, und mich mit seinen holden Kinderaugen gar lieblich
anlächelte. Dies alles träumte ich so lebhaft, daß ich den andern Morgen
beim Erwachen wirklich glaubte, mein Neffe sei schon angekommen und heute
werde ich die Nachricht erhalten! Ich schreibe Dir diesen Kohl, der mich
höchlich amüsiert hat, nur, damit Du siehst, daß ich nicht nur im Wachen bei
Tage jede Stunde, sondern auch im Traum mit meinen Gedanken bei Euch Lieben
bin und allezeit Euch in Herz und Sinn habe. Nun wünsche ich mir, daß der
erste Traum recht bald und glücklich in Erfüllung geht und wir alle durch
die Geburt eines kleinen Haeckelius erfreut werden, der ein tüchtiger Mann,
ein genialer Naturforscher und ein glücklicher Reisender wird (das
trefflichste Gemüt nicht zu vergessen!) . . .
Ich lebe jetzt wirklich im ganzen ungefähr so wie der ewige Jude: "Keine
Ruh' bei Tag und Nacht, nichts was mir Vergnügen macht" - ausgenommen etwa
das chemische Laboratorium, wo mir das praktische Chemizieren (ebenso wie
das "höhere Sezieren") außerordentliche Freude macht, und etwa den
mikroskopischen Kurs bei Kölliker. Letzteren könnte ich mir freilich,
abgesehen von einigen kostbaren Präparaten, die ich nicht besitze, ebensogut
oder besser selbst geben, als ihn dort hören. Es ist auch eigentlich mehr
ein Rücksichts- oder Anstandskolleg wegen Kölliker. - . . .
Dieser allgemeine Zeitmangel erlaubt mir z. B. auch nicht, die herrlichen,
mich speziell ansprechenden Ideen, welche der Urquacksalber, Scharlatan und
Hampelmann Prof. Dr. Rinecker in seinem Kolleg (materia medica ) über die
edle Heilkunst im allgemeinen und im besonderen äußert, weiter zu verfolgen
und auszubrüten, obwohl sie sehr geeignet sind, meine Liebe zur ärztlichen
Praxis ins Unendliche zu steigern und als solche sehr nützlich wären. Dieser
edle Menschenfreund beginnt fast jede Stunde mit einer ähnlichen Apostrophe
wie die folgende, fast wörtlich nachgeschriebene: "Meine Herren! Wir kommen
heute zur konstitutionellen Anwendung des Quecksilbers! Auch hier, wie
überall in der Heilmittellehre, fehlt es durchaus an bestimmten Vorschriften
und an gewissen Erfahrungen über die Anwendung, den Gebrauch und Nutzen
desselben. Jeder Arzt macht sich vielmehr seine Regeln erst selbst und
probiert erst an seinen Kranken heraus, wieviel von dem und dem er grade
geben kann, ohne grade die Krankheit bis zum Tode zu verschlimmern. Ja meine
Herren, das ist grade das Schöne und Anziehende an der ärztlichen Kunst, daß
sie so ganz ohne feste und allgemeingültige Regel und Ordnung dasteht, daß
jeder Arzt seine Kranken behandeln und ruinieren kann, wie es ihm beliebt.
Gäbe es ein corpus materiale medicinae (analog dem corpus juris), wonach
jeder Arzt seine Kranken unfehlbar kurieren könnte, dann möchte ich um's
Himmels willen beileibe kein Arzt werden; das wäre wirklich langweilig und
die Krankheiten verschwänden am Ende ganz oder vielmehr die edle Zunft der
Ärzte, weil da jeder Kranke nach solchen allgemeinen Vorschriften sich
selbst heilen könnte! Aber so! wie schön ist das! Kein Arzt kann den andern
zur Rechenschaft ziehen, da nie zwei oder drei über eine Behandlungsweise
einig sind, sondern jeder auf seine Faust kuriert. Der eine gibt das, der
andre das! Man schreibt ellenlange Rezepte, welche nach etwas aussehen und
im besten Falle nichts schaden, und schließlich, wenn der Kranke trotz der
Apotheke durch seine eigne Naturheilkraft wieder gesund wird, wer hat die
Ehre und den Nutzen davon? - Allein der Arzt, der doch im Grund meistens
nicht weiß, mit was für einer Krankheit er es zu tun hat, was er geben soll
usw. Ist so die Arzneikunst nicht eine schöne Wissenschaft?!
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!???????????????????????????
Sonntag abend.
Die Ausrufungs- und Fragezeichen am Ende des vorigen Blattes, liebe Mutter,
versetzten mich heute früh dermaßen in Nachdenken über das, was sie
eigentlich bedeuten sollten und könnten, daß ich schließlich in den
gewöhnlichen Jammer von wegen des Medizinstudieren verfiel, von welchem ich
Dir, da es nun ein ziemlich abgedroschenes und trauriges (aber leider
wahres!) Thema ist, weiter nichts berichten will, da es doch zu nichts
führen würde. Um mich also zu zerstreuen,nahm ich mein schatziges
Mikrosköpchen vor und habe mich heute wieder einmal nach Herzenlust satt
dran gesehen. Es ist doch ein gar zu herrliches Ding! . . .
Am Sonnabend vor 14 Tagen haben mich meine Bekannten nolens volens auf den
großen Harmonieball (zu Ehren Seiner Majestät Geburtstag) geschleppt! Was
ich da für eine durch und durch passive traurige Figur gespielt, könnt Ihr
Euch denken; zum großen Glück verschwand ich ganz unter der Menschenmasse
und den andern Studenten, die fast sämtlich da waren. Ich habe mir dabei
eigentlich nur das mir noch unbekannte, wirklich sehr schöne Lokal angesehen
und mich über die tanzverrückten Menschen amüsiert, namentlich über die
bodenlos poussierenden Studenten, welche bei den Damen (jungen wie alten)
alles andere Männervolk, als z. B. Offiziere (die hier einen weit niederen
Rang einnehmen), Beamte, Referendare usw. ausstachen und sie ganz allein
beschäftigten. Nichts sieht sich aber komischer und verrückter an als ein
Tanz, wenn man sich dabei die Ohren zuhält, so daß man die Musik nicht hört
und die Leute so taktmäßig, wie von einem Geiste besessen, herumspringen
sieht. Ich machte dies alte Experiment mit dem schönsten Erfolge und
ergötzte mich lange an den komischen, umherhüpfenden Figuren. - Im übrigen
hat mich der Ball so wenig angesprochen, daß ich für lange Zeit genug habe
und mich auch nicht auf der Harmonie abonnieren werde, was ich anfangs in
diesem Semester zu tun Lust hatte, wegen der zahlreichen (ein paar hundert)
Zeitungen und Zeitschriften, die dort zu lesen sind. Ein solches Lesen nimmt
einem auch zu viel Zeit . . .
 Inhaltsverzeichnis
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Erstellt von Christoph Sommer am 01.07.1999
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