Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
47. Brief
Würzburg, 9. 3. 1854.
Meine lieben, lieben Alten!
. . . Die wahrhaft magische Beziehung, welche "daß trotz alles
Dazwischenliegenden unvergessene und unvergeßliche Paradies der Kindheit,
das Elternhaus, die Arme der Mutter" - (wie Schleiden sich am Schlusse von
"Leben der Pflanze" ausdrückt) auf denjenigen ausüben, der von Gott mit
guten, liebevollen, braven Eltern gesegnet ist, übertrifft wirklich alle
andern Reize und Glückseligkeiten, an denen das arme schwache Menschenherz
sich anklammert. Mir wenigstens geht es so, und zwar ebensowohl in trüben
wie in guten Stunden. Habe ich eine recht große Freude, wie z. B. vor
einigen Tagen, als ich unter dem Mikroskop einen Wald voll der reizendsten
und zierlichsten Gestalten auf einer verfaulten Wurstschale voll Schimmeln
entdeckte, so ist diese doch nie ganz rein und ungetrübt. Immer denke ich:
ach, könntest du das doch deinen lieben Alten zeigen, damit sie sich mit dir
freuen! - . . .
Ich habe einmal wieder recht gründliches Heimweh, wie ich es fast den ganzen
Winter nicht so empfunden habe. Aber das hilft nun freilich nichts; der
Entschluß, die Ferien hier zu bleiben, ist einmal gefaßt, und ich muß es
versuchen, mir's so leicht wie möglich zu machen, wozu auch die tüchtige
Arbeit, an der es nicht fehlen wird, gewiß das Ihrige beitragen wird.
Außerdem werde ich aber, selbst abgesehen von der starken und tiefen
Sehnsucht, die mich nach Haus zieht, wieder einmal von Unschlüssigkeit und
Ungewißheit, was ich zunächst anfangen soll, gequält. Der Plan nämlich, den
nächsten Sommer noch hier zu bleiben, ist in der neusten Zeit schwankend
geworden, und zwar hauptsächlich aus zweierlei Gründen: erstens bin ich mit
Virchow doch im ganzen nicht so zufrieden, wie ich erwartet habe und glaube
auch nicht, daß seine Sommervorlesungen, die eigentlich erst für ganz
eingefleischte ältere Mediziner ihren vollen Nutzen haben, viel eintragen
und nützen werden. Zweitens ist es mir auch fraglich geworden, ob sich das
privatissime Mikroskopieren bei Kölliker wird lange fortsetzen können. Trotz
aller Bewunderung, die ich noch immer für Köllikers außerordentliche
anatomische Talente und Fähigkeiten hege, hat doch der Wunsch, in nähere
Verbindung mit ihm zu treten, ziemlich nachgelassen, wie es denn überhaupt
das Schicksal aller meiner Ideale zu sein scheint, daß sie sich schließlich
in ziemlich trübe Schatten auflösen. Außerdem würde ich auch noch, wollte
ich nächsten Sommer fortgesetzt bei Kölliker mikroskopieren, ein
privatissimum nolens volens bei ihm nehmen müssen, an dem im Grunde gar
nichts ist, und wozu ich nicht die mindeste Lust habe. Kurz, dieses ganze
Verhältnis ist mir mit einemmal in ziemlich unerfreulicher Weise dubiös und
ungewiß geworden. Das ist doch wirklich recht traurig, daß einem so ein
Ideal nach dem andern in des Lebens rauher, unerfreulicher Wirklichkeit zu
nichts zerfließt. Mir ist es bis jetzt noch mit allen so gegangen, am
meisten aber grade mit denen, von denen ich am meisten erwartet. So bin ich
z. B. hinsichtlich Schleidens auf den Standpunkt aller andern deutschen
Botaniker gekommen, den nämlich, daß an Schleiden, wie er jetzt ist, gar
nichts, nicht das geringste zu rühmen und auszuzeichnen ist. Die
ausgezeichneten und unübertrefflichen Arbeiten, durch die sich Schleiden als
unbekannter junger Privatdozent so rasch und reißend einen großen, ewigen
Namen verschaffte, werden in aller Zukunft unvergessen bleiben; aber seine
Selbstständigkeit, und Originalität sind aufgeblasene Selbstsucht,
dünkelvolle Verachtung aller andern, oft viel gründlicheren, genaueren,
jedenfalls aber viel bescheideneren und umsichtigeren Forscher, und jetzt
taugt Schleiden, dessen Originalität von Tag zu Tag mehr sinkt, nur noch
dazu, um in möglichst groben Schimpfreden über alles, was ihm nicht von
vornherein konveniert, loszuziehen, seine eignen ersten Ansichten, mögen sie
längst durch spätere Untersuchungen vollkommen als unrichtig erwiesen worden
sein, als unfehlbar festzuhalten und anzupreisen, kurz, um zu negieren und
überall zu räsonieren. Doch ich komme da in meinem Traum über schöne luftige
Ideale, die nachher in nichts zerfließen, ganz von meinem Thema ab. Ich
wollte Euch erzählen, daß ich infolge jener obenerwähnten Umstande ein paar
Tage ganz ernstlich daran dachte, den Sommer auf eine andere Universität zu
gehen, und zwar entweder nach Berlin oder nach Breslau. Die meisten meiner
Bekannten gehen jetzt nach ersterem; was ich selbst dort habe, brauche ich
Euch mit keinem Wort weiter zu erwähnen; nur das will ich noch hinzusetzen,
daß jetzt noch ein Magnet mehr mich nach Berlin zieht. Dies ist die
Hoffnung, vielleicht durch Al. Braun, einen der ausgezeichnetesten
Kryptogamenforscher, in dieses herrliche Gebiet der Naturwissenschaft, das
mich bei Gelegenheit einer jetzigen Arbeit darüber ungemein stark angezogen
hat, tiefer eingeführt zu werden. Außerdem hätte ich nächsten Sommer noch
meinen Freund Hein da, und dann habe ich, wie ich Euch eigentlich nicht
nochmals zu sagen brauche, wieder herzliche Sehnsucht, orgentlich mit Euch
zusammen zu leben und Freud' und Leid mit Euch zu teilen. Nach Breslau würde
ich wegen der medizinischen Klinik gehen, die dort, wie ich allgemein höre,
ganz ausgezeichnet ist (bei Frerichs, bei dem ich dann auch spezielle
Pathologie und Therapie hören würde), besonders für Anfänger. Es kommt
nämlich, wenn man auf der Klinik zu praktizieren anfängt, sehr viel darauf
an, daß die Zahl der Studenten möglichst gering ist, so daß die einzelnen
sehr viel Fälle zu behandeln bekommen und auch spezielle Anleitung vom
Lehrer selbst bekommen. Dies findet man nur in einer kleinen Universität
vereint, und namentlich Breslau soll hierfür ganz ausgezeichnet sein. In
Berlin findet man davon grade das Gegenteil; die Kliniken taugen hier für
den Anfänger gar nichts. Wenn daher auch nächsten Sommer nichts aus Breslau
wird, so wäre es nicht unmöglich, daß ich Sommer 55 dahin ginge. Jedenfalls
würde ich mich noch näher erkundigen. Alle diese und andere dahin
einschlagende Fragen habe ich mir in den letzten Wochen sehr viel und nach
allen Dimensionen überlegt, mich auch viel bei ältern Medizinern erkundigt.
Das Endresultat, was ich daraus ziehe, bleibt aber doch imer dasselbe,
nämlich, daß ich den Sommer noch hier bleibe. Selbst wenn aus dem
Mikroskopieren bei Kölliker nicht viel würde, bleiben mir doch andere, sehr
nützliche Beschäftigungen im Überfluß. Als Hauptkollegia würde ich die
spezielle pathologische Anatomie bei Virchow nehmen sowie dessen
privatissime cursus, der nirgends seinesgleichen hat und die meisten hieher
zieht. Um ihn aber gut benützen zu können, werde ich in den Ferien sehr viel
spezielle Pathologie (wovon ich gar nichts verstehe) treiben müssen. In
dieser letzen hoffe ich dann wenigstens insoweit heimisch zu werden, daß ich
den Sommer auch mit der medizinischen Klinik anfangen kann. Dann würde ich
auch vielleicht noch (ich zittre und schaudere, indem ich es hinschreibe)
Chirurgie hören. Es kömmt nämlich an Stelle des ganz untüchtig gewordenen,
alten Textor ein ganz junger Chirurg, Moravek aus Prag, her, der sehr
gerühmt wird. Vielleicht könnte ich auch dann in dessen chirurgischer Klinik
versuchen, meine schauderhafte Nervenreizbarkeit mir abzugewöhnen, was
wirklich sehr not tut! Ihr seht also, daß sich schon gute Beschäftigung
genug finden würde, abgesehen davon, daß ich noch viel präparieren will, und
daß ich auch im Sinn habe, mich den naturwissenschaftlichen Fächern,
namentlich Physik und Zoologie, zum examen philosophicum vorzubereiten.
Letzeres würde ich dann Ostern 55 machen, nachdem ich im Winter noch
Zoologie, Mineralogie, Materia medica und Philosophie in Berlin gehört habe.
Jedenfalls bitte ich Euch, mir bald den Katalog der Berliner Vorlesungen vom
vorigen Winter (53/54) sowie auch den vom nächsten Sommer herzuschicken . .
.
Sehr hübsch ging es mir dieser Tage mit einem halb hypochondrischen
Gedanken, dessen Geschichte vielleicht Papa amüsieren wird. Ich glaubte
nämlich ein paar Tage nicht gehörigen Stuhlgang gehabt zu haben und
verschrieb mir deshalb, um doch einmel meine großartigen (!!) medizinischen
Kenntnisse praktisch zu verwerten, nachdem ich lange in meinem Rezeptbuch
hin und her geblättert hatte, Pillen aus Rhabarber und Jalapawurzel
zweistündlich zwei Stück zu nehmen, natürlich ganz nach der Vorschrift.
Könnt ihr Euch aber meine lustige Überraschung denken, als meine Wirtin aus
der Apotheke mit einer Schachtel voll Pillen von der Größe einer guten
Flintenkugel zurückkam und fragte, ob die Ballen ein Pferd oder ein Ochse
verschlucken sollte. Wo der Irrtum gelegen hat, weiß ich noch heute nicht;
die Pillen waren ganz nach Vorschrift verschrieben. Genug Spaß habe ich aber
damit gehabt, und wie meine Bekannten mich darüber geneckt haben, könnt Ihr
Euch denken. Hoffentlich, mit Gottes Hilfe, nimmt meine ganze praktische
Medizinerei ein so tragikomisches Ende wie dieser erste praktische
Purgierversuch an meiner eignen Wenigkeit! -
Gestern abend war die Schlußsitzung unseres physikalischen und medizinischen
Kränzchens, dessen Mitglieder von 60 auf 30 herabgeschmolzen waren.
Unglücklicherweise mußte sich's auch grade noch so schicken, daß ich zu
guter Letzt mit meinem Vortrag über die Kryptogamen drankam. Ich hatte schon
ganz drum herum zu kommen gehofft. Übrigens ging's weit besser, als ich
gedacht. Die ungeheure peinliche Angst, mit der ich mich fast 2 Monate
täglich vor dieser Stunde fürchtete, war allerdings ziemlich überflüssig
gewesen. Anfangs schien es zwar, als wollte mir die Stimme in der Kehle
ersterben; nachdem aber erst die ersten auswendig gelernten Sätze heraus
waren, ging der andre Teil ganz fließend und leicht ab; und zwar hielt ich
den Vortrag ganz frei. Ich hatte mir bloß vorher das Gerippe im allgemeinen
aufgeschrieben. Im übrigen hat mir, wie ich Euch schon schrieb, trotz der
vielen Angst und Sorge die Geschichte auch viele Freude gemacht, indem sie
mir Gelegenheit gab, die herrlichen Wunder im Leben der niedersten und
scheinbar einfachsten Pflanzen näher kennenzulernen. - . . .
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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999
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