Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
48. Brief
Würzburg, 20. 3. 1854.
Liebe Eltern!
. . . Hoffentlich wird es zu Ostern auch so herrliches Frühlingswetter sein,
wie wir jetzt ein paar Wochen genossen haben. Ich habe dasselbe schon zu ein
paar größeren Spaziergängen benutzt, z. B. am Sonntag (vor 8 Tagen) nach
Versbach, wo ich im Wald zu meiner größten Freude ein paar allerliebste
mikroskopische Moose, noch dazu eins mit schönen männlichen Blüten (Phascum
cuspidatum) gefunden habe. Meinem Knie sind sie ganz gut bekommen. Ich suche
es jetzt überhaupt wieder abzuhärten und an größere Touren zu gewöhnen,
wenngleich es sich an und für sich ganz indifferent zeigt, weder besser noch
schlechter wird. In der Stadt auf auf kleineren Spaziergängen gehe ich jetzt
immer ohne Stock, was anfangs schwer war, jetzt aber ganz gut geht. Bei
diesen mutigen Versuchen, das faule Knie wieder ordentlich in Gang zu
bringen, treibt mich ein ungeheurer fester Stachel an; das ist nämlich die
intensivste Sehnsucht, nächste Herbstferien die Alpen zu sehen. Ich weiß
nicht, wie es zugeht; aber ganz wider Wissen und Wollen hat sich dieser
ungeheure Wunsch schon so fest in mein Hirn eingenistet, daß ich ihn gar
nicht wieder loswerden kann und meine Phantasie mir jetzt schon immer die
schönsten Bilder der Alpenwelt, Landschaften, Pflanzen und Tiere
vorspiegelt. Dabei denke ich: wird daraus diesen Sommer nichts, wo du noch
in Süddeutschland bist, so stecke die kühne Idee nur ganz und gar auf! Ich
bitte Dich wirklich, lieber Papa, Dir die Sache zu überlegen. Wird daraus
diesen Herbst etwas, so will ich nachher mit der größten Geduld in dem
sandigen, unerquicklichen Spree-Athen ausharren, solange Du willst. Kann ich
dann doch an den süßen, unersetzlichen Reiseerinnerungen zehren! Da mir mein
Knie aber eine eigentliche Alpenreise (wie sie Karl im Herbst 44 machte)
unmöglich macht, so habe ich mir den Plan einstweilen in der Art ausgemalt:
ich reise direkt von hier nach einer Südtiroler Alpe (in Südtirol finden
sich nämlich die größten Pflanzenschätze vereint) und setze mich dort auf
ein paar Wochen fest, lasse mich mit meinem Mikrsokop förmlich häuslich
nieder. Von diesem festen Punkt aus veranstalte ich dann täglich kleine
Streifzüge nach allen Himmelsgegenden, sammle Heu und Ungeziefer nach
Herzenslust, zeichne, mikoskopiere mit aller Muße usw.; kurz, es soll
himmlich werden! Einen festen Zielpunkt habe ich noch nicht, habe jedoch
schon ans Fassatal, ans Schlerngebirge oder die Meraner Gegend usw. gedacht
. . .
Daß du soviel schöne Konzerte hörst, lieber Vater, ist ja recht hübsch.
Meine Bekannten haben mich vorige Woche auch in ein Harmoniekonzert
geschleppt, wo ein berühmter ungarischer Violinist "Ernst" spielte, sehr
bewundernswert namentlich Variationen des Karneval von Venedig. - Die
einzige Musik, die mir aber eigentlich Freude machen könnte, ist das
Volkslied mit Klavierbegleitung. Namentlich geht mir nichts über die
sogenannten "Schnaderhüpfl", die herrlichen, naturfrischen Alpenlieder der
Schweizer und Tiroler mit ihrem prächtigen Jubeln und Jodeln, daß einem das
Herz hüpft. So hörte ich wieder gestern abend, wo ich mit Hein und Gerhard
bei Schenks war, ein paar ganz reizende Liedchen dieser Art: "Von meinen
Bergen muß ich scheiden" - "Wenn die Sonn' aufgeht" - "Der Frühling kommt"
usw. usw. von jener jungen Dame (Freundin der Frau Professor Schenk), die
auch vorigen Winter dort öfter uns oberbayrische Lieder vortrug. Das wäre
wirklich das einzige von Musik, was ich selbst können möchte . . .
Am selben Tage war auch großer Maskenball auf der Harmonie. Als derselbe
schon lange angefangen hatte, fiel mir plötzlich am Abend noch ein, mir auch
den Kram einmal anzusehen. Einmal hatte ich noch nie einen Maskenball
gesehen, und zweitens war mir grade an jenem Abend so traurig verstimmt
zumute, daß ich zum Arbeiten gar nicht recht kommen konnte und dadurch etwas
zerstreut zu werden dachte. Also gedacht und getan. Ich pumpe mir von einem
Bekannten eine Eintrittskarte, gehe hin und amüsiere mich sehr gut über die
verschiedenen Maskenaufzüge, komischen Tänze und die Abenteuer und
Neckereien, in welche sich meine Bekannten verwickeln. Denkt Euch aber mein
Erstaunen, als es gar nicht lange dauerte, bis ich selbst, der ich mir doch
bewußt war, außer Frau Prof. Schenk und Frau Dr. Gsell-Fells keine weibliche
Seele in ganz Würzburg nur dem Äußern nach zu kennen, von einem jungen, in
eine schwarze Mantille, mit schwarzem Barett, zwei Rosen und zwei
Straußenfedern darauf gekleideten, maskierten Mädchen angeredet werde. Sie
warf mir vor, daß ich mich so wenig um die Damen kümmere, überhaupt so wenig
unter die Menschen komme. Es sei dies durchaus gegen den Willen meiner
Eltern, wie sie sehr wohl wisse usw. In dieser Weise ging es fort, wobei sie
mir immer das abgeschlossenen tote Leben, in dem ich mich von allen Menschen
scheu absondern solle, die Einseitigkeit und Traurigkeit desselben usw. usw.
vorwarf und mir schließlich das Versprechen abnötigte, von nun an mehr unter
die Menschen kommen zu wollen. Ich versprach es, wenn sie mir ihren Namen
aufschreiben wolle, indem ich wirklich höchst neugierig war, dieses Wesen,
von dessen wahrer Natur ich keine Ahnung hatte, wie ich auch in diesem
Augenblick noch keine davon habe, kennenzulernen. Sie schrieb mir also ihren
vermeintlichen Namen auf einen Zettel und verschwand dann im Gedränge,
während ich den Namen zu lesen versuchte, den ich später als "Heiterkeit"
entzifferte. Zu Anfang war ich natürlich schrecklich verblüfft und konnte
kaum antworten. Nachher hat mich die Geschichte aber doch sehr amüsiert. Ich
vermute, daß es eine Freundin eines meiner Bekannten (vermutlich von
Frangué) gewesen ist, der sie mir auf dem Hals geschickt hat, um mir einmal
die Leviten zu lesen. Denn sie erzählte mir auch mehrere Details, die nur
einigen meiner Freunde bekannt waren. -
Übrigens will ich mir ihre Ermahnungen zu Herzen nehmen! . . .
Behaltet lieb wie bisher Euren treuen
alten Ernst.
 Inhaltsverzeichnis
Brief 47................................Brief 49
Diese Seite ist Teil von Kurt Stübers online library
Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999
|