Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
58. Brief
Würzburg, 17. 6. 1855.
Liebe Eltern!
. . . Ich freue mich ungeheuer auf Euren Besuch, lieber Vater, und Bruder;
dann werde ich einmal mein volles Herz so recht ausschütten können. Denn so
voll wie jetzt, ist es noch selten gewesen, und grade jetzt habe ich hier
doch keinen Menschen, dem ich es anvertrauen könnte und möchte. Die
Hauptsache ist, daß in den letzten Wochen eine sehr bedeutende und, wie ich
hoffe, recht günstige Umstimmung und Veränderung in meinen speziellen
Lebensansichten eingetreten ist. Vor allem betrifft diese Metamorphose meine
früher höchst einseitige und vorurteilsvolle Anschauung über das Studium der
Medizin, mit welchem ich jetzt - dank sei es Virchows unvergleichlichen
Kollegien und der guten Klinik Bambergers - so ziemlich ganz ausgesöhnt bin,
wenigstens so weit, daß ich nun bestimmt und selbst mit einem gewissen
Interesse dasselbe von Anfang bis Ende durchführen werde. Hoffentlich seid
Ihr darüber nicht weniger als ich erfreut. Mein ganzes Innere hat dadurch
wirklich eine wesentlich beruhigendere Umstimmung erfahren. Was ist das doch
für eine große Beruhigung, wenn man sich ein bestimmtes, festes Ziel
gesteckt hat, auf das man nach Kräften und mit Ruhe hinarbeiten kann. An der
Aufwendung aller meiner Kräfte soll's dabei gewiß auch nicht fehlen, zumal
mir dabei im Hintergrunde als herrlichster Lohn aller Mühen immer die Palme
einer naturwissenschaftlichen Reise in tropische Meere vorschwebt, die ich
als die Krone aller irdischen Wünsche ja doch nur auf diese Weise zu
verwirklichen hoffen darf. Mit der nötigen Ruhe ist es aber freilich eine
ganz andere Sache und je mehr ich mich diese mir anzueignen bemühe, desto
unruhiger und stürmischer wird der wilde, ungestüme Kampf der
widerstreitenden und wetteifernden Gedanken und Bestrebungen in meiner
Brust. Namentlich ist es die alte, liebe Not mit dem Zeitmangel, die mich
jetzt entsetzlicher denn je quält. Wie gerne möchte ich alle die zahlreichen
Wissenschaften und Künste, durch deren Komplex die Naturwissenschaft (zu
denen ich als nur angewandten Zweig auch die Medizin rechne) aufgebaut wird,
mir ernstlich und gründlich aneignen und doch reicht die so äußerst karg und
spärlich zugemessene Zeit kaum hin, um mir das Allergeringste,
Oberflächlichste von allen und nicht einmal in einem einzigen etwas
Vollständiges zu erfassen. Wenn mich die Wahrheit dieses schrecklichen
Gedankens ergreift, wie das jetzt natürlich täglich der Fall ist, dann
möchte ich allemal verzweifelnd, und das ungenügende Maß meiner Kräfte
verwünschend, die Hände in den Schoß legen. Was soll ich jetzt auch
anfangen, wo ich Tag für Tag von früh 7 Uhr bis abends 7 Uhr (mit nur einer,
höchstens zwei Stunden Unterbrechung) durch Kollegien (freilich meist nur
praktische Kurse, die nicht halb soviel Kraft und Tätigkeit des Geistes als
die theoretischen Vorlesungen erfordern) gefesselt bin? . . .
Meine Kollegiennot, die ich Euch neulich schon schilderte, ist noch dadurch
komplettiert worde, daß nachträglich noch, was mir freilich sehr erwünscht
und eigentlich die reinste Erholung nach den medizinischen Strapazen des
Tages ist, ein zootomischer Präparierkursus zweimal wöchentlich abends von
5-7 Uhr zustande gekommen ist, wo ich mit noch sieben andern, meist sehr
netten Leuten bei meinen speziellen Gönnern und Freunden, den beiden
Privatdozenten der Zoologie und vergleichenden Anatomie, Dr. Leydig und
Gegenbaur, niedere Wirbeltiere sezieren lerne. (Für mich freilich fast nur
Repetitorium, wobei ich aber doch manche hübsche kleine Handgriffe lerne.) .
. .
Auch die beiden einzigen Wochentage, die ich noch abends von 5-7 Uhr frei
hatte, sind jetzt dadurch ausgefüllt worden, daß Kölliker mir auf höchst
zuvorkommende (und für ihn fast unbegreiflich liberale) Weise das
vergleichende anatomische Museum eröffnet hat. Ich darf mir jederzeit von
ihm den Schlüssel dazu holen und dann nach Lust und Belieben mir alle
Präparate ansehen. Selbst die Schränke mit den sehr interessanten und
lehrreichen Spirituspräparaten stehen mir offen und ich darf mir diese
wenigstens von außen ansehen (was ich nicht einmal in Berlin bei Müller
konnte, der mir bloß die Skelette usw. zur Disposition stellte). Daß ich nun
eine so herrliche, günstige Gelegenheit, soviel Seltenes und Merkwürdiges zu
sehen (was in der Naturwissenschaft wirklich die Hauptsache ist, da hier die
eigne Anschauung über alles geht), nicht unbenutzt vorübergehen lasse, könnt
Ihr denken. Aber sonderbar! Während früher, und namentlich noch im vorigen
Semester, mir dieses Ansehen der höchst interessanten zoologischen
Präparate, der höchste Genuß gewesen wäre, so ist dieser jetzt mit so viel
bitterm Beigeschmack versetzt, daß ich gar nicht so mit vollem Herzen mich
über die Naturwunder freuen kann. Es fehlt ja durchaus die Ruhe, ohne welche
ein solcher Genuß nicht möglich ist. Wo soll ich die Zeit hernehmen, um die
Sammlung zum gründlichen Studium zu benutzen, oder auch nur alle Sachen
einmal gründlich mit Verstand anzuschauen. Und selbst die wenigen Stunden,
die ich darauf verwenden kann, kommen mir wie schlecht angewandt und dem
notwendigen medizinischen Studium entwendet vor. So geht mir's auch mit dem
Mikroskopieren, zu dem ich ebenfalls gar nicht mehr die nötige Ruhe finden
kann. Es ist wirklich, als wäre ein böser Geist über mich gekommen, der mich
sonder Rast und Ruhe stachelte, jetzt einzig und allein der pflichtmäßigen
Medizin nachzugehen. Da ist es denn allerdings ganz gut, daß ich von früh
bis Abend ins Kolleg getrieben werde, so daß mir schließlich gar keine freie
Zeit mehr übrigbleibt. Aber auf die Dauer ist das doch eine höchst
ungemütliche und wirklich unerträgliche Existenz. Zur Ruhe, glaube ich,
werde ich freilich nie kommen,denn grade das rastlose Immervorwärtsstreben
ist mein Leben . . .
Die eben erörterten Verhältnisse, namentlich der schreckliche Zeitmangel,
sind es aber nur zum kleineren Teile, welche mir mein jetziges Leben,
obgleich es in vieler Beziehung, namentlich in Hinsicht der Befestigung
meiner nächsten Lebensaufgabe, sich so sehr günstig umgestaltet hat, so sehr
ungemütlich erscheinen lassen. Das ist vor allem der höchst empfindliche
Mangel eines Freundes, dem ich mein ganzes Herz ausschütten könnte, und der
mich ganz versteht. Ich fange nun allmählich an, die Hoffnung, einen solchen
zu finden, aufzugeben. Drei Jahre habe ich nun in meiner Studentenzeit
vergeblich danach gesucht. Bekanntschaften habe ich genug gehabt, zum Teil
auch sehr nette und liebenswürdige. Ja, was man so gewöhnlich "einen guten
Freund" nennt, habe ich in Menge gefunden. Da habe ich nicht wenige Freunde,
die ganz meine speziellen Lieblingsbeschäftigungen auch zu den ihrigen
machen, andere, obgleich nur wenige, die auch meine allgemein menschlichen,
meine moralischen und religiösen Ansichten so ziemlich teilen, noch andere,
mit denen ich recht gern die Mußestunden des alltäglichen Lebens zubringen -
aber einen rechten Freund, der das alles in sich vereinigte, in allen
verschiedenen Richtungen, wie verschieden er auch sonst in Temperament und
Individualität ware, wenigstens dieselben Grundansichten und Grundsätze
hätte, der geht mir vollständig ab, und ein solcher ist es doch nur, mit dem
man "Herz in Herz und Seel' in Seele drängen" kann. Ich muß doch wirklich
ein ganz sonderbares und abnormes Kraut sein, daß ich so gar keinen ganz
gleichgesinnten Altersgenossen finden kann. Freilich mag ich, ganz abgesehen
von allen individuellen, zum Teil gewiß sehr unangenehmen und abstoßenden
Absonderlichkeiten, die ich mich aber jetzt immer mehr abzuleben bestrebe,
noch viele recht ideale und falsche Ansichten von der Welt, vom Leben und
seinen Aufgaben haben. Aber im ganzen glaube ich diese Aufgabe in der Art,
wie Ihr, liebe Eltern, und auch Du, mein lieber Bruder, mich wohl kennt,
doch richtig und wahr aufgefaßt zu haben, und die einzelnen Unrichtigkeiten
und Sonderbarkeiten, die mich noch vielfach beherrschen, hoffe ich ja, je
mehr ich ins Lebens hinaustrete, immer mehr abzuschleifen und abzuwerfen,
wozu mir ein wenig Praktik, auch in der Medizin, gewiß sehr behülflich sein
wird. Und doch kann ich unter meinen Freunden nur wenige finden, die ihre
Lebensaufgabe in eben der Art auffaßten. Am meisten glaube ich hierin noch
mit dem edlen, vortrefflichen Richthofen zu harmonieren, dessen
Bekanntschaft ich leider diesen Winter in Berlin viel zu sehr vernachlässigt
habe. Demnächst würden sich wohl Weiß und Lachmann anschließen. Hier glaubte
ich in Beckmann einen solchen Freund gefunden zu haben, und in mehrfacher
Beziehung ist dies auch der Fall. Um so mehr bin ich jetzt betrübt, bei
längerer Dauer unserer Bekanntschaft einige Grunddifferenzen unserer
Lebensansichten aufzufinden, die ein völliges Ineinanderaufgehen derselben
ausschließen. Ich würde Euch von diesen ganzen Verhältnissen nicht so
ausführlich schreiben, wenn es mich nicht, namentlich in den letzten Wochen,
so außerordentlich beschäftigt und selbst in meinem innersten Wesen
erschüttert, oft wirklich stundenlang von allen andern Gedanken abgezogen
hätte . . .
Ich hatte nämlich neulich mit Beckmann, mit dem ich im übrigen ganz
vortrefflich harmoniere, mehrere Stunden lang ein sehr ernstes Gespräch, in
dem wir unsre allgemeinen Grundansichten über Naturforschung, über die Natur
selbst, endlich auch über das Leben der Seele, über Unsterblichkeit usw.
austauschten. Dabei ergab es sich denn allmäglich, daß Beckmann in betreff
des letztern Punktes, was also Gott, Unsterblichkeit, Seelenleben usw.
anbetrifft, ganz andere Anschauungen hat als ich. Meine Ansichten hierüber
kennst Du, lieber Vater, da Du sie selbst fast vollständig teilst. Beckmann
steht dagegen auf dem Standpunkt, den allerdings die bei weitem überwiegende
Mehrzahl der jungen Naturforscher einnimmt, auf dem rein materialistischen
und rationalistischen, den z. B. Burmeister in der reinsten und edelsten
Weise vertritt und den Du, lieber Vater, noch neulich in Karl Vogts
Broschüre "Köhlerglauben und Wissenschaft" vollständig klar und deutlich in
seinen Grundzügen ausgesprochen gefunden hast. Wie Du Dich erinnerst,
bestehen die Grundzüge dieser reinen Verstandesanschauung der Dinge darin,
daß die Seelentätgikeit lediglich als Funktion der Nervensubstanz im Gehirn
und Rückenmark angesehen wird, daß mithin eine selbstständige, unsichtbare
Seele ebensowenig existiert als eine Unsterblichkeit, als ein Gott. An die
Stelle des letztern tritt eine blinde, bewußtlose Naturnotwendigkeit, der
wir alle ebenso wie alle Materie, die an sich gleichwertig ist, unterworfen
sind. Glaube existiert nach dieser Anschauung natürlich ebensowenig als
Religion. Diese sind bloß da, um den großen, ungebildeten Haufen der
Menschheit zu zügeln und zusammenzuhalten. Die Naturforscher allein sind
berufen, die Wahrheit für sich zu entschleiern, die Materie als das allein
in der Welt nach bestimmten, blinden, unabänderlichen Naturgesetzen Waltende
zu erkennen. - Die weitern Konsequenzen ergeben sich aus diesen Grundsätzen
von selbst. Ich werde übrigens darüber mündlich mich mit Dir noch weiter
expektorieren. Im ganzen war ich auch grade nicht sehr überrascht, bei
Beckmann diese rein materielle und rationalistische Ansicht ausgeprägt zu
finden, da, wie gesagt, die bei weitem überwiegende Mehrzahl der jungen
Naturforscher und Ärzte derselben vollständig huldigt (wie ich nach eigner,
dreijähriger Erfahrung weiß) und da sie von einem Teil der Koryphäen der
neuen Naturwissenschaft, vor allem aber von Karl Vogt, Burmeister und
Virchow vertreten wird, während die meisten andern derselben, wie namentlich
A. v. Humboldt und Johannes Müller, ein geheimnisvolles, vollständiges
Stillschweigen über diesen Kardinalpunkt beobachten. Auch kann ich mir,
soweit ich jetzt die Naturwissenschaft in ihrem innern Wesen erfaßt habe,
vollständig auf meine Art erklären, wie jene Leute auf Grund der durchaus
exakten, rein empirischen, neuen Naturforschung, bei der die auf die
Empirie, d. h. auf Experiment und Beobachtung gestützte induktive Methode,
die Induktion und Analogie, alles gilt, bei der es Prinzip und erste Aufgabe
aller Forschung ist, die Tatsachen der wunderbaren irdischen Natur auf
bestimmte, unabänderliche, chemische und physikalische Gesetze
zurückzuführen, wie jene Leute auf Grund jener rein verständigen Anschauung
der Dinge zu diesem Resultat gelangten. Der Grundfehler dieser ganzen
Richtung, die übrigens gegenwärtig für den Aufbau der jungen
Naturwissenschaft als einer auf exakter Empirie gegründeten, höchst wichtig
und fruchtbar ist, wenngleich sie später nach meiner Ansicht nach der, daß
sie noch da zu erklären und chemisch- physikalische Gesetze anzuwenden
sucht, wo diese nichts mehr gelten, und wo auch nicht mehr zu erklären ist,
nämlich auf dem Gebiet des Geistes, wo an die Stelle des Verstandes und des
Wissens der Glaube, die subjektive Überzeugung von Dingen, die die Sinne uns
nicht mehr zur Überzeugung bringen, tritt. Sie leugnet aber dies ganze
Gebiet ab, weil sie es nicht sinnlich wahrnimmt. Ich meinerseits bin
vollkommen überzeugt, daß beide Gebiete, nämlich das Wissen vom Sinnlichen
und das Glauben an das Übersinnliche, sich nicht gegenseitig ausschließen,
wie jene meinen, sondern, daß sie sich im Gegenteil zu einer vollständigen
Weltanschauung ergänzen, daß das Eine da aufhört, wo das Andere anfängt. Ich
begreife auch, wie gesagt, recht wohl, wie jene rein rationell materiellen
Naturforscher zu dieser ungebührlichen Ausdehnung der Verstandesforschung
auf Gebiete, wo sie nicht mehr hingehört, kommen; ich begreife meinerseits
aber nicht, wie man mit dieser Überzeugung leben kann. Ich begreife am
allerwenigsten, wie man dabei ein edler, guter Mensch sein kann, wie jene es
in der Tat doch sind. Beckmann ist, abgesehen von diesen rein materiellen
Lebensansichten (im edelsten Sinne des Wortes!), der beste und edelste
Mensch, den Du Dir denken kannst. Ich möchte sagen, sein ganzes Leben straft
diese pantheistische Anschauung Lügen, indem es mir durchgängig nach den
Gesetzen desselben Christentums geregelt scheint, das er konfessionell
ableugnet. Beckmann ist in seinem ganzen Tun und Denken so rein, moralisch,
gut, edel, wie es der beste Christ nur sein könnte. Er wird hier von
Professoren und Studenten allgemein als das Muster eines tüchtigen,
fleißigen, kenntnisreichen, liebenswürdigen, rein sittlichen Menschen
geliebt. (Dasselbe kann man übrigens, allerdings auch wohl mit gewissen
Einschränkungen, von seinem Lehrer, Virchow, der unstreitig den
bedeutendsten Einfluß auf ihn ausgeübt hat, sagen.) Beckmann ist bei all
seinem Rationalismus ein hundertmal, nein tausendmal besserer Mensch als ich
mit meiner christlichen Überzeugung, so daß ich ihm in jeder andern
Beziehung nur als bestem Vorbild nacheifern muß. Wie hoch muß man nicht
einen solchen Charakter achten! Dies ist mir grade das Unbegreifliche an der
Sache. Ich für meine Person gestehe auch offen, daß ich, wenn ich diese
materielle Ansicht von meinem Leben hätte, ein solches Leben nicht zu führen
und auszuhalten imstande wäre. Wenn ich nicht die festeste Überzeugung von
einer von diesem Körper ihrem Wesen nach getrennten, nicht untrennbar mit
ihr verbundenen, selbstständigen Seele, von einem die ganze Welt erhaltenden
und unsre Geschicke leitenden Gott, von einem bessern jenseitigen, geistigen
Leben hätte, ich hätte schon längst das Schicksal des unglücklichen jungen
Ribbeck, von dessen freiwilligen Tod Du mir in Deinem letzten Brief
schreibst, geteilt und hätte, ebenso freiwillig, diesem irdischen Leben, das
doch trotz aller irdischen und geistigen Genüsse und Freuden so höchst
unvollkommen und mangelhaft ist, und eben durch diese Mangelhaftigkeit und
Dürftigkeit in jeder Beziehung allen reinen und wahren Genuß verbittert, und
im ganzen so höchst unbefriedigt und leer läßt, ein Ende gemacht. Ich würde
dann vielleicht gar einmal dem Beispiele jener Elenden gefolgt sein, zu
denen der größte Teil der Materialisten gehört und wie ich sie auch unter
meinen Altersgenossen, namentlich den Medizinern, zu Dutzenden nennen kann,
welche auch von Religion, Glauben, Seele nichts wissen wollen, denen aber
das reine und moralische, sozusagen humane Streben jener edleren, feineren
Rationalisten, zu denen Beckmann gehört, abgeht, und deren einziges Prinzip
darin besteht, nicht in diesem Leben möglichst viel zu leisten (wohin doch
die letzteren streben), sondern lediglich dasselbe möglichst zu genießen.
Alles ihr Denken und Tun ist nur darauf gerichtet, sich möglichst viel
Genuß, mag dieser nun feiner oder gröber, sinnlicher oder geistiger sein, zu
verschaffen. Dies Prinzip leitet ihr ganzes Handeln und vermag sie allein zu
Anstrengungen zu bewegen. Wie innerlich leer und elend muß die große Menge
dieser Leute sich doch fühlen! Nein, dann lieber doch gleich diesen
jämmerlichen Lebensfaden, der immer nur zu Unvollkommenheiten führt,
abschneiden und in ewiges Nichts sinken. Daß ich dies Leben ertrage, daß ich
in beständigem Hinblick auf ein vollkommenes Jenseits, das Diesseits
möglichst zur Ausbildung und Vervollkommnung meiner unsterblichen Seele zu
benutzen strebe, das verdanke ich allein dem Christentum, seiner göttlichen,
tiefen Wahrheit, welche mir durch Euch, liebe Eltern, sowie durch meine
trefflichen Merseburger Lehrer, namentlich Simon, erschlossen und
verständlich gemacht worden ist, wofür ich Gott nicht genug danken kann . .
.
Ich würde Euch diese ganzen Ansichten und Gedanken nicht so ausführlich
mitgeteilt haben, wenn sie mich nicht gerade in den letzten Wochen,
namentlich seit jenem ernsten Gespräch mit Beckmann, so vielfach beschäftigt
und wirklich tief erschüttert hätten. Ich bin weit davon entfernt, Beckmann
seine entgegengesetzten Ansichten, zu denen eine rein rationelle Betrachtung
der Dinge von selbst führen muß, zu verargen. Ja, wenn ich das
verabscheuungswürdige und gewiß höchst verwerfliche heuchlerische
Frömmelwesen unserer pietistischen, orthodoxen Ultramontanen mit ihrem
höchst unchristlichen und exklusiven geistlichen Hochmut betrachte, wenn ich
an das nicht viel schlechtere, geistlose und hierarchische Frömmelwesen, die
unwahre Scheinreligioin der katholischen Kirche denke, wie es uns hier
täglich in der krassesten, widerlichsten, unwürdigsten Form entgegentritt
(wie noch neulich in extremster Weise bei der Fronleichnamsprozession, die
wirklich nichts als ein großartiger Götzendienst war) - dann kann ich es nur
zu wohl begreifen, wie grade die edelsten, von Selbstsucht freiesten,
gebildetsten Geister sich mit Abscheu von jenem Zerrbild christlicher
Religion abwenden und lieber ins entgegengesetzte Extrem verfallen . . .
Euer treuer Ernst.
 Inhaltsverzeichnis
Brief 57................................Brief 59
Diese Seite ist Teil von Kurt Stübers online library
Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999
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