Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
59. Brief
Würzburg, 27. 6. 1855.
Meine liebste Mutter!
Auch diesmal kann ich Dir, wie vor zwei Jahren, als ich den ersten Sommer
hier zubrachte, nur aus der Ferne den innigsten Gruß und herzlichsten
Glückwunsch zu Deinem Geburtstag senden. Wie gerne wäre ich am 1. Juli
persönlich in Ziegenrück und sagte Dir durch einen einzigen innigen Kuß und
Händedrück alles das, was ich für Dich im Herzen habe und was sich auch
durch noch soviel Worte in einem Briefe doch nicht ausdrücken läßt. Aber Du
weißt ja, mein herzliebes Mütterchen, wie fest unsere Seelen verwachsen sind
und unsere Herzen sich durchdringen, und das Bewußtsein dieses innern,
treuen Verständnisses tröstet und entschädigt mich für den großen Mangel,
den ich durch die Entfernung von Dir leide. Wir sind ja im Geiste stets
beieinander, und diese innige, geistige Gemeinschaft mit Euch lieben Eltern
ist mir meine herzlichste Freude und mein größter Trost und läßt mich an der
mir zuerteilten Lebensaufgabe mit doppelter Freudigkeit und Zuversicht
arbeiten . . .
Daß ich jetzt endlich ein festes, bestimmtes Ziel gefunden, auf das ich
hinarbeiten, auf dessen Erreichung ich alle meine Kräfte lenken und
konzentrieren kann, das ist mir ein großer Trost, und das gibt mir viel mehr
Mut, Hoffnung und Selbstvertrauen, so daß ich mit freudiger,
zuversichtlicher Lust zu schaffen und meine Anlagen aufs beste zu verwenden,
in das offen vor mir daliegende Leben hinausschauen kann. Freilich wollen
auch jetzt noch oft recht schwache und kleinmütige Stunden kommen, in denen
mir das "Wie", die Art und Weise der Ausführung meines Lebensplanes gar sehr
schattenhaft und unsicher erscheinen. Aber wenn ich nur nach Kräften das
Meine zu tun mich bemühe, dann, glaube ich, wird auch Gottes Segen nicht
fehlen, und ich werde am Ende doch einen meinen Kräften angemessenen
Wirkungskreis finden . . .
Daß ich es aber auf meiner Seite nicht daran fehlen lassen werde, den mir
angewiesenen Platz in diesem Leben auszufüllen, das kann ich Dir ebenso fest
zusagen, und duch die Ausführung dieses Vorsatzes hoffe ich Dir viel Freude
zu machen . . .
28. 6. 1855.
Gestern abend konnte ich den Brief nicht beendigen, da wir sechs Bekannten
die erste Sitzung unseres "menschlich wissenschaftlichen" Vereins hatten,
die jetzt wöchentlich zweimal stattfinden soll. An dem einen Abend werden
Referate aus den verschiedenen Fächern der Medizin und Naturwissenschaft
gehalten, an welche sich Besprechungen der neu erschienenen Aufsätze usw.
anreihen (ich habe die mikroskopische und vergleichende Anatomie und
Entwicklungsgeschichte als Fach bekommen); am zweiten Abend hält einer von
dem halben Dutzend einen freien Vortrag über ein ganz allgemein menschliches
Thema, an welches sich dann ausführliche Diskussionen und Disputationen über
diese allgemeinen Ansichten und Grundsätze anreihen. Ich finde die ganze
Idee dieser Zusammenkünfte sehr hübsch und glaube, daß solche Besprechungen
sehr bildend sind. Eine andere Frage ist es, ob wir die letzteren, allgemein
menschlichen Diskurse durchführen werden, da die verschiedenen Ansichten in
den sechs Köpfen gar zu riesenhaft, noch mehr, als ich vorher gefürchtet, zu
differieren scheinen. Diese Differenzen zeigten sich gleich gestern abend in
der extremsten Weise. Hein fing die Zusammenkünfte mit einem Vortrag über
die Pflichten und Verhältnisse des Arztes (zu seinen Patienten und Kollegen)
an. Natürlich knüpfte sich daran eine lebhafte Diskussion über eine ganze
Reihe allgemeiner Grundsätze und Lebensansichten, die dabei zur Sprache
kamen, und da fand es sich, daß selbst die gewöhnlichsten Grundbegriffe, wie
"Pflicht, Moral, Gewissen" usw., von einem jedem von uns in ganz eigner und
verschiedener Weise aufgefaßt wurden, wobei es dann natürlich zu einem sehr
heftigen Streite kam, der bis nach Mitternacht dauerte und damit endigte,
daß jeder in seiner eigenen Ansicht nur noch bestärkt war. Trotzdem glaube
ich, daß eine solche Diskussion sehr bildend ist. Man lernt seine eignen
Ansichten klar darlegen und verteidigen, diejenigen der andern widerlegen
und erweitert durch Kennenlernen der letztern die Kenntnis der Menschen
gewiß sehr. Ich werde Euch ein andermal ausführlicher darüber schreiben, da
es Euch vielleicht auch interessiert, und bemerke diesmal nur noch, daß ich
und Buchheister die beiden extremst entgegengesetzten Standpunkte (wie
überhaupt meist im ganzen Verkehr) einnahmen und uns daher auch immer
ziemlich heftig und nicht mit der nötigen Ruhe bekämpften. An jenen schließt
sich Strube, an mich zunächst Braune an; Hein und Beckmann stehen in der
Mitte als vermittelnde Elemente. Ich bin wirklich sehr neugierig, wie die
Geschichte weiter werden wird. Gestern abend kamen mir meine
rationalistischen Freunde aber wirklich wie junge Katzen vor, die sich in
den Schwanz beißen wollen und dabei immer im Kreise herumdrehen. Sie eifern
und sprechen fortwährend gegen das Christentum und gegen die Religion und
Glauben überhaupt und stehen doch in ihrer ganzen besseren und edleren
Hälfte so ganz unter dessen Einfluß, daß sie unbewußt und gleichsam blind in
allen Reden und Handlungen davon geleitet werden. - Doch davon später mehr .
. .
Euer alter und treuer Ernst H.
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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999
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