Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
62. Brief
Berchtesgaden, Freitag, 24. 8. 1855.
Liebste Eltern!
Seit ich aus Hallstatt zum ersten Male schrieb, habe ich beständig das
herrlichste Wetter gehabt und die schönsten Partien gemacht. Aber es ist
hier des Schönen und Prachtvollen in der Natur wirklich zuviel beisammen.
Ein großartiger und entzückender Genuß folgt dem andern, so daß man gar
nicht zu einen ruhigen und abgeschlossenen Genuß kommt. Ich möchte jetzt
einmal acht Tage Pause machen, bloß um alle die großen Herrlichkeiten zu
verdauen. Doch jetzt will ich Euch rasch eine Übersicht meiner Route geben.
Samtag, 18. 8., von Hallstatt nach Gosau, zu den dortigen Seen.
Sonntag, 19. 8., zum erstenmal auf einer wirklichen Alpe, der Zwieselalp,
mit Führer. Überaus herrliche Rundsicht auf die ganze Alpenkette des
nordöstlichen Teils. Ringsum am Horizont herrliche Schneefelder. Eine Masse
Alpenpflanzen.
20. 8. Von Abtenau nach Solling gegangen. Dort herrlicher Wasserfall.
Nachmittags mit Stellwagen nach Salzburg.
21. 8. In Salzburg! Wirkliches Paradies! Ganz herrliche Stadt. Früh
Mönchsberg und alle Merkwürdigkeiten. Nachmittags Kapuzinerberg,
Leopoldskron usw.
22. 8. Früh noch einmal auf den Mönchsberg und auf die Feste Hohensalzburg,
mit herrlicher Rundsicht. Nachmittags mit Stellwagen nach Berchtesgaden.
Donnerstag, 23. 8. Gestern mit einem Holsteiner Gutsbesitzer nach dem
Königssee, überaus herrlich, ganz befahren, dann auf die Holzeralp, drei
Stunden hoch gestiegen. Prächtige Aussicht. -
Bis jetzt habe ich meist sehr nette Gesellschaft gehabt, namentlich in
Salzburg drei Kärtner Gymnasiasten, prächtige Gebirgsnaturkinder, die ich
ordentlich liebgewonnen; ferner in Gosau drei wohlbehäbige, dickbäuchige,
breitspurige, echte "Wienerl" Philister, die mich kostbar amüsiert haben!
Überhaupt ist das sehr amüsant, mit was für ganz und gar verschiedenen
Leuten man so auf Reisen zusammentrifft. Wie verschieden sich das Leben in
verschiedenen Köpfen malt!
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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999
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