Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
67. Brief
Mals, am Fuß des Finstermünzpasses, 27. 9. 1855 abends.
Mein liebes Mutterchen!
Da ich weiß, daß Du doch keine Ruhe hast, bis Du Deinen alten Jungen wider
sicher auf ehrlichem deutschen Flachboden und ebenso weit von allen
Gletschern wie von der Cholera entfernt weißt, so erhälst Du schon wieder
ein Lebenszeichen von mir, obwohl dieses wahrscheinlich nicht viel später
als der Brief aus Mailand in Berlin eintreffen wird. Die Reue, welche ich am
ersten Tage meiner Abreise nach Venedig darüber empfand, daß ich nicht
lieber direkt über Triest und Wien nach Berlin gereist war, und Euch
überrascht hätte, verlor sich bald bei dem Genuß der einzigen
Merkwüdigkeiten, an denen Mailand so reich ist, und hat sich seitdem in
einen entschiedenen Freude darüber verwandelt, daß ich meinen ursprünglichen
Plan auch für die Rückreise konsequent durchgeführt habe. Denn ich habe in
diesen acht Tagen Herrlichkeiten gesehen, die alle übrigen weit hinter sich
lassen, was mich um so mehr entzückt hat, als ich nur sehr wenig davon
erwartet habe, und namentlich ist der vorgestrige Tag, die Tour von Bormio
über das Stilfser (oder Wormser) Joch nach Prad entschieden zum höchsten
Glanzpunkt der ganzen Reise geworden. Doch statt mich weiter in
Entzückungsaußerungen, die am Ende doch nicht hinreichen, um Euch den hohen
Grad dieses einziges Genusses zu schildern, zu ergehen, will ich lieber kurz
die Tour seit Mailand angeben. Ich hatte vor, wie Ihr aus dem letzten Brief
vom 22. gesehen haben werdet, Mailand schon an diesem (dem zweiten) Tag
wieder zu verlassen. Allein die schönen Kunstschätze der Brera und vor allem
der herrliche, unvergleichlich erhabene Dom hatten mir so gefallen, daß ich
ihnen noch einen Tag zu widmen beschloß. Außerdem bekam ich dadurch noch
Gelegenheit, das glänzendste und größte Theater Italiens kennenzulernen, wo
ich am Abend des 22. die "Favorita" von Aubert sah. Die Musik war sehr gut.
Im übrigen konnte mir die ganze Geschichte, die von 7 1/2 - 12 !! Uhr
dauerte, gar nicht gefallen, am allerwenigsten die so sehr berühmten, 1 1/2
Stunde dauernden, ganz zucht- und sittenlosen Ballets, die meist als die
Hauptsache angesehen wurden.
Am 23., einem herrlichen Sonntagsmorgen, verließ ich Mailand und fuhr mit
Eisenbahn nach Como, von da über den herrlichen Comer See, den schönsten von
allen, die ich gesehen, mit Dampfschiff. Sehr gern wäre ich in dem
weltberühmten Bellagio mit Villa Serbelloni und Sommarina, einem wahren
Paradies, einen Tag geblieben. Allein, da mich die Zeit sehr drängte, die
Cholera hier sehr stark und bösartig war, und ich außerdem Italien herzlich
satt hatte und mich nach den lieben Bergen sehnte, so fuhr ich mit Post von
Colico nach dem herrlich gelegenen Chiavenna und betrat von hier aus bei
Castasegna den schweizerischen Kanton Graubünden. Ich kann Euch gar nicht
sagen, mit welcher Freude ich das allmähliche Wiedererscheinen der lieben
Alpennatur bei jedem Schritt aufwärts begrüßte, und mit welcher Freude ich
auch das erste deutsche Wort, ein echt schweizerishes "Grüß di Gott" aus dem
Mund der Schweizer Grenzbeamten hörte. Ich übernachtete ganz herrlich in
Vicosoprano, wo ich mich auch zum erstenmal seit Bozen wieder satt aß. In
Italien habe ich (im buchstäblichen Sinn des Worts) gehungert und doch das
4-5fache von dem gebraucht, was mich die übrige Reise kostete!! Am 24. 9.
ging ich durch das schöne Val Bregalia und über den Maloja- Paß bis S.
Mauricio. Von hier wollte ich das ganze Engadin bis Finstermünz hinab
durchwandern, machte aber von Cellerina einen kleinen seitlichen Abstecher
nach Pontresina, um den großartigen Bernina und Roseggletscher zu sehen, und
wurde hier zum Glück durch Regenwetter zurückgehalten. Denn hier erfuhr ich,
daß man von da in einem Tag mitten durch das wildeste Gebirg nach Bormio
kommen kann. Ich wollte einen Führer nehmen, da es eine fast ganz unbekannte
Gegend ist (in diesem Sommer hatte erst ein Reisender die Tour gemacht,
obwohl mehr Fremde in Pontresina wahren, als je in einem früheren Jahr!). Da
der Kerl aber 20 Fr. haben wollte, entschloß ich mich, allein die Fahrt zu
wagen und meinem guten Glück zu trauen. Dieses ließ mich denn auch nicht im
Stich, und ich fand glücklich den sehr wilden einsamen Weg, mitten zwischen
lauter Gletschern und Eisbergen hindurch. Es war ein starker Tagesmarsch
(über Livigno und Trepalle), aber äußerst lohnend, eine der wildesten
Partien. Dabei fand ich noch eine Menge der seltensten Alpenpflanzen
blühend, die selbst im Ötztal schon verblüht waren. So eisig kalt und
winterlich ist es hier! Obwohl ich den ganzen Tag entzückt war, so war er
doch nur ein schwaches Vorspiel von dem ganz einzig großartigen Genuß, der
ich am folgenden Tag (26. 9.) wirklich in einen Himmel von Seligkeit
versetzte. Ich bin jetzt noch sehr berauscht und betäubt von diesen
Herrlichkeiten, um Euch nur einigermaßen ordentlich davon schreiben zu
können. Für jetzt nur so viel, daß sich alles vereinte, um diesen Tag zum
herrlichsten und himmlichsten der ganzen Reise zu machen. Den ganzen Tag
kein Wölkchen am Himmel! Dabei die Luft so rein, daß man jede Spalte der
entferntesten Gletscher und Felsen erkennen konnte! Eine Fülle der
seltensten, noch blühenden, nie von mir gefundenen Alpenpflanzen, namentlich
Moose! Die großartigsten Gletscherpartien der ganzen Alpenkette (die Schweiz
nicht ausgenommen!), die großartigsten menschlichen Straßenbauwerke (denen
der alten Ägypter nicht nachstehend)! Alles, alles versetzte mich in eine so
herrliche selige Stimmung, wie nie, und ich lief abends im schönsten
Vollmondschein noch zwei Stunden weiter, als ich mir vorgenommen, bloß aus
Aufregung!
Innsbruck, 29. 9. 1855.
Eigentlich wollte ich die beifolgenden, in Nauders geschriebenen Zeilen
schon von dort abschicken. Da aber die Post schon zu war, beschloß ich, sie
erst von hier abzuschicken, wo sie ohnehin noch ebenso rasch als von dort zu
Euch kommen. Ich habe inzwischen noch zwei herrliche Reisetage gehabt.
Vorgestern ging ich von Prad (am Fuß des Wormser Jochs) nach Mals bis
Nauders, wobei ich immer den herrlichsten Rückblick auf die Eiswelt des
Ortlers hatte. In Mals traf ich einen in München studierenden stud. med.
Horn aus Bremen (Neffen des Charitéverwalters), einen sehr netten muntern
Kerl, mit dem ich nun den Rest der Reise vollenden und dann in München
tüchtig herumlaufen werde, was mir sehr lieb ist. Gestern lief ich mit ihm
von Nauders durch den Finstermünzpaß und das Unterinntal nach Landeck, eine
recht hübsche Bergpartie (über Obladis), und heute fuhren wir zusammen im
Stellwagen von Landeck hierher, noch eine recht hübsche Schlußtour, noch bei
demselben schönen Wetter, das den Weg übers Stilfser Joch verherrlichte.
Überhaupt scheint der Schluß der ganzen Reise sich noch ebenso glänzend zu
gestalten wie der ganze übrige Verlauf. Zufällig trifft es sich nämlich
grade, daß morgen hier der Bruder des Kaisers als Statthalter von Tirol
eingeführt wird und daß zur Feier dieses Festes ein höchst großartiges
Wettschießen abgehalten wird, wozu festlich geschmückte Schützen aus allen
Tiroler Gauen in Unmasse erschienen sind. Da wimmelt denn alles von den
buntesten und malerischsten Trachten. Morgen wird ein höchst großartiger
Umzug von ein paar Tausend fremden, festlich geschmückten Schützen
veranstaltet. Übermorgen gehen wir von hier über den Achensee und Tegernsee
nach München, wo vom 4.-7. (Donnerstag bis Sonntag) das große Musikfest
abgehalten wird. Diesem folgt unmittelbar das berühmte Müncher Oktoberfest,
wobei man das süddeutsche, bayrische Volksleben in seiner ganzen Ausdehnung
kennenlernt. Alles trifft also vortrefflich zusammen, um mir am Schluß der
herrlichen Reise noch einen recht großen Reichtum der verschiedenartigsten
Lebensbilder mit auf den Weg zu geben. Das war doch wirklich eine herrliche
Reise, und ich kann Euch, liebste Eltern, nicht genug dafür danken, daß Ihr
mir diesen unvergleichlichen Genuß, der mit so viel Nutzen für meine
körperliche und geistige Ausbildung verbunden ist, verschafft habt. Habt
tausend, tausendmal den innigsten Dank dafür. Ich kann Euch gar nicht sagen,
was für einen großen Reichtum der merkwürdigsten und verschiedensten
Anschauungen ich dabei erworben habe. Wenn ich mir heute bei der schönen
Fahrt die einzelnen Reisetage ins Gedächtnis zurückrief, drängte sich mir
ein solcher Reichtum der herrlichsten, buntesten Bilder nacheinander auf,
daß ich meinte, für mein ganzes Leben davon genug zu haben. Dabei bin ich
körperlich so außerordentlich wohl und munter, wie nie. Doch nun für heute
genug. Ich bin sehr müde und sehne mich herzlich nach Ruhe. Grüßt alle
Freunde recht herzlich und habt selbst einen recht innigen Gruß und Kuß
von Eurem alten Ernst.
 Inhaltsverzeichnis
Brief 66................................Brief 68
Diese Seite ist Teil von Kurt Stübers online library
Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999
|