Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
71. Brief
Würzburg, 2. 11. 1855.
Liebe Eltern!
. . . Daß ich mich neben dem praktischen Streben auch sonst bemühe,
menschlicher zu werden, könnt Ihr daraus ersehen, daß ich jetzt
Tanzstunde(!) nehme (hört, hört!), die in dieser Woche beginnen wird. Auch
in der englischen Sprache habe ich wieder Unterricht genommen, da sich grade
dazu sehr günstige Gelegenheit bot, nämlich bei einem geborenen Engländer,
der bloß aus Langerweile Stunden gibt und es deshalb sehr billig tut. Wenn
ich nur mehr Zeit hätte, dann wollte ich schon mehr dafür tun. Wenn aber
jetzt erst wieder die Kollegien anfangen, sehe ich schon daß ich nicht
wissen werde, woher ich sie nehmen soll. Das schlimmste ist jetzt, daß ich
ein sehr trauriges Rezidiv in der Phytomanie oder Heusammelwut erlitten
habe, sa daß ich jetzt mehrere Nachmittage der Versuchung, meine alpinen
Blumenschätze genau zu untersuchen, zu ordnen und mit Hülfe des
Universitätsherbars, das mir Prof. Schenk zur Verfügung stellte, vollständig
zu bestimmen, nicht widerstehen konnte. Dazu kommt noch, daß der
Privatdozent Dr. E. Gegenbaur, der jetzt als Professor der vergleichenden
Anatomie an Oskar Schmidts Stelle nach Jena gekommen ist, mir, außer vier
sehr seltnen und schönen ausländischen (tropischen) Vögeln, die gesamten
Doubletten seines Herbariums, 20 starke Mappen an der Zahl, geschenkt hat,
in denen ich ganz in alter Art und mit der alten, jetzt so lange vergessenen
und geschlummert habenden Pflanzenseligkeit mehrere Tage gewirtschaftet
habe. Natürlich wurde dabei sehr viel alter Schund weggeschmissen, aber auch
sehr viel neue, schöne und seltne Sachen aquiriert, so daß mein Herbarium
nun sehr erfreulichen Zuwachs von zehn starken Bänden bekömmt. Die übrige
freie Zeit, welche mir die poliklinische Praxis und die Beschäftigung mit
den lieben Pflänzchen übrigließen, habe ich meist auf den anatomischen und
zootomischen Museum zugebracht, wozu Kölliker so freundlich war, mir einen
Schlüssel zu überlassen . . .
Laßt Euch die Würzburger Trauben recht gut schmecken und denkt dabei an
Euren treuen alten
Ernst H.
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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999
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