Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
72. Brief
Würzburg, 19. 11. 1855.
Mein lieber Vater!
. . . Daß ich gegenwärtig in jeder Beziehung, sowohl in wissenschaftlicher
als menschlicher, bedeutende Fortschritte gegen die letztverflossenen Jahre
gemacht habe, in denen ich allerdings mehr, als recht ist, in vieler
Hinsicht zurückblieb, das wird mir aus meinem ganzen jetzigen Leben und
seinen einzelnen Seiten immer klarer. Den größten Dank bin ich dafür wohl
meiner herrlichen Alpenreise schuldig, die mich so vielfach mit andern
Menschen, Ansichten und Gesinnungen bekanntgemacht, aus dem engen
beschränkten Kreise meiner alten philosophischen Grillen und hausbackenen
Vorstellungen herausgerissen und in die ganze Vielseitigkeit bunten
Weltlebens hineinversetzt hat. Nächstdem bin ich einen großen Teil des Danks
für eine vielseitigere Ausbildung und Erweiterung meiner Lebensansichten
auch der Medizin, insbesondere der praktischen schuldig, welche mich
gleichfalls mehr in das wirkliche Leben, wie es einmal ist, und wie wir uns
in dasselbe schicken müssen, hat blicken lassen. Freilich war dieses
gewaltsame Herausreißen aus einer phantasiereichen Welt erträumter Ideale
und die plötzliche Versetzung in die rauhe Wirklichkeit, welche ich erst
jetzt in ihrem ganzen Wesen kennenlernte, keineswegs angenehm; um so froher
bin ich aber jetzt, daß dieser harte Sprung, der denn doch einmal nolens
volens getan werden mußte, vorüber ist und ich nun die reale Welt mit ebenso
realen Augen ansehen kann, wie sie es verdient. In dieser Beziehung ist die
praktische Medizin und insbesondere die Poliklinik, wo man die erbärmliche
Unvollkommenheit und die elende Mangelhaftigkeit unseres körperlichen und
geistigen Lebens so recht aus dem Grunde kennenlernt, eine ganz
vortreffliche, wenn auch bittere und harte Lehrschule. In der ersten Zeit
kam mir natürlich diese plötzliche Vernichtung aller der schönen
Phantansiebilder, mit denen ich mir eine ideale Weltanschauung in meinem
abgesonderten Sinn selbstständig und aller Realität bar, erbaut hatte, hart
und unleidlich genug vor. Jetzt gewöhne ich aber allmählich meine ganze
Denk- und Anschauungsweise immer mehr an diese reale Betrachtung der
menschlichen Dinge und werde nun beim weiteren Hinaustreten in das rauhe
stürmische Leben um so weniger durch dessen Täuschungen überrascht werden.
Wenn ich übrigens gegenwärtig mit der praktischen Medizin mich wenigstens
insoweit ausgesöhnt habe, daß ich überzeugt bin, bei noch zunehmender
Selbstüberwindung im Notfalle sie einst wirklich ausüben zu können (was ich
hauptsächlich der poliklinischen Schule verdanke), so ist damit keineswegs
gesagt, daß meine unbegrenzte Vorliebe zu den theoretischen
Naturwissenschaften (insbesondere der wissenschaftlichen Zoologie und
Botanik und Mikroskopie überhaupt) irgendwie nachgelassen hätte. Im
Gegenteil hat dieselbe durch meine schöne Alpenreise, welche mir so viele,
wundervolle Gebiete interessantester Naturforschung vor Augen geführt hat,
noch einen beträchtlichen Zuwachs, einen starken Antrieb mehr bekommen, und
ich bin jetzt ein leidenschaftlicherer "Naturforscher" als je vorher. Du
kannst aber schon daraus sehen, wie sehr ich an Selbstüberwindung zugenommen
habe, daß ich dessenungeachtet für die nächste Zukunft und in specie für
diesen Winter vollständig auf rein theoretische, naturwissenschaftliche
Studien verzichtet und mir fest vorgenommen habe, jetzt endlich einmal die
Medizin zum vollkommenen Abschluß zu bringen, so daß ich unser Staatsexamen
machen kann . . .
Von 7-9 Uhr abends ist jetzt die berühmte Tanzstunde, welche ich
glücklicherweise mit mehreren Bekannten, namentlichen mit meinem näheren
Freunde Dreier aus Bremen und dessen Bekannten Knauf, zusammen habe, so daß
wir uns die höchst langweilige Geschichte durch gegenseitiges Amüsement
recht munter und lustig machen. Unser Tanzmeister, Herr Quäsar, ein fast
ebenso breiter und dicker als langer Fleischklumpen, sowie seine kaum
weniger wohlbeleibte Frau Ballettmeisterin geben uns in der Tat durch die
Beschränkheit des Gehirns, das der Hypertrophie ihres Fettzellgewebes
entsprechend atrophisch geworden zu sein scheint, Stoff genug zum Lachen und
Lustigmachen. Die ersten Stunden brachte er bloß damit zu, uns einzuschulen,
wie wir Komplimente zu machen, insbesondere aber, wie wir uns vor dem König
und der Königin zu benehmen hätten. Gegenwärtig wird eifrigst Fran*aise
einstudiert (mit sechs Damen), wobei ich mit meinen langen Beinen oft
großartige Sätze durch den halben Tanzsaal mache. Überhaupt ist mein
Ungeschick dabei natürlich bewundernswert. Nach der Tanzstunde oder an den
Tagen, wo diese nicht stattfindet, nach der englischen Stunde, welche ich
bei einem ganz sonderbaren Engländer, Mr. Watson Sratshard, genieße, gehe
ich gewöhnlich ein wenig mit Beckmann und Strube kneipen. Dann wird
regelmäßig noch bis 12 oder 1 Uhr zu Hause gearbeitet. Namentlich will ich
jetzt in diesen Stunden meine Reisebeschreibung wieder fortsetzen, deren
Ausarbeitung mir ungemein großes Vergnügen macht, da ich alle die herrlichen
Genüsse der unvergeßlichen Reise dabei noch einmal im Geiste durchlebe.
Schade nur, daß ich bei der geringen Übung im Schreiben, die leider bei
unseren Universitätsstudien noch so sehr vernachlässig wird, so daß wir die
geringe, auf der Schule erworbene Stilfertigkeit bald wieder einbüßen, so
wenig imstande bin, die verschiedenen lebhaften Gefühle, Ansichten und
Genüsse, die noch bei der Rückerinnerung an die herrlichen Erlebnisse meine
Sinne lebhaft erregen, treu wiederzugeben . . .
Zu den Bocksbeuteln, die Ihr lieben Alten Euch zu Papas Geburtstag recht gut
schmecken lassen mögt, habe ich auch noch ein paar Proben der herrlichen
Tiroler Alpenpflänzchen gelegt, von denen ich einen großen Stoß mitgebracht,
ferner eine graphische Darstellung meiner Reiseroute zu besserer Verfolgung
meines Wegs, genau nach der trefflichen Mayrschen Karte von Tirol, die mir
überall von größtem Nutzen war, und die ich in ihrer ganzen Ausdehnung, von
Westen (Mailand, Comer See) bis Osten (Hallstadt, Traunsee) und von Norden
(Augsburg) bis Süden (Oberitalien) durchreist habe, durchgezeichnet. Endlich
lege ich Euch das kleine Reiseskizzenbuch bei, das freilich eigentlich nur
für mich, für den Zeichner selbst, für den sich an jedem Bleistiftstrich ein
Heer von Erinnerungen der süßesten Art knüpft, Wert hat, während die übrigen
Leute aus dem Geschnörkel und Gekrakel der natürlich immer in der größten
Eilfertigkeit hingeworfenen Skizzen schwerlich klug werden dürften. Die
meisten Skizzen stellen noch dazu nur die Umrisse von Gebirgsketten dar, die
für mich in mehrfacher Hinsicht interessant waren. Indes dachte ich doch,
daß einzelnes, z. B. namentlich die späteren Tiroler Ansichten, die
Ortlerspitze usw., Dir, lieber Papa, nicht ganz ohne Interesse sein würde.
Später denke ich nach diesen Skizzen noch größere Landschaftsbilder
auszuführen. Jetzt tut mir's oft recht leid, daß ich nicht noch mehr Skizzen
aufgenommen habe. Sie sind doch eine gar zu liebe Erinnerung, und bei jedem
Bildchen, es mag noch so unvollkommen sein, fällt einem die ganze
interessante Situation wieder ein, in der man seinen Abriß entwarf. Ich
verfalle jedesmal beim Anschauen eines solchen Umrisses in eine ganze Suite
von Reisegedanken. Das ist auch einer der großen Vorteile des Alleinreisens,
daß man sich, falls es sonst die Zeit und Umstände erlauben, hinsetzen und
zeichnen kann, wann und wo man will. Überhaupt hat mir das Soloreisen im
ganzen so außerordentlich gut gefallen, daß ich bei künftigen Reisen immer
wieder allein mich auf den Weg machen werde, falls ich nicht einen sehr
intimen Freund zum Gefährten finde, der ganz meine Neigungen und Bedürfnisse
teilt. Man wird dabei viel selbstständiger, wird mehr gezwungen, mit andern
Leuten zu verkehren und geht dabei viel mehr aus sich heraus. Auch ist es
gar zu angenehm, ganz sein eigner Herr zu sein, zu gehen und zu ruhen, wie
wann und wo man Lust hat, und an jedem Ort zu bleiben, so lange es einem
gefällt . . .
Die einzige Bewegung, die ich jetzt habe, ist der poliklinische Stadttrab
bei den Patienten in den verschiedenen Distrikten, wobei man die alte,
winklige Stadt zugleich ganz gründlich in- und auswendig kennenlernt. Diese
Art der Praxis gefällt mir überhaupt ganz leidlich, wie denn innere Medizin
mir noch am meisten zusagt. Dagegen kann ich an der Chirurgie und
Geburtshilfe noch gar keinen Geschmack finden. Bei letzterer praktiziere ich
jetzt ebenfalls und habe dadurch das wahrlich nicht sehr beneidenswerte
Vergnügen, zu den Geburten in den Entbindungsanstalten gerufen zu werden,
was denn gewöhnlich grade nachts eintrifft, wo andere ehrliche Leute den
besten Schlaf genießen. So hatte ich gestern z. B. bis 1 Uhr gearbeitet,
ging äußerst ermüdet zu Bett und hatte kaum eine Stunde geschlafen, als ich
wieder gerufen wurde, wodurch ich über zwei Stunden beschäftigt wurde und
erst nach 4 Uhr wieder ins Bett kam, so daß ich Summa summarum nicht ganz 4
Stunden geschlafen habe. So lernt man dann allmählich die Annehmlichkeiten
des praktischen, ärztlichen Lebens kennen. Je nun, jetzt will ich die Sachen
mit Vergnügen aushalten, wenn ich nur nicht mein ganzes Leben damit zu tun
haben soll . . .
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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999
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