Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
82. Brief
Würzburg, Donnerstag, 8. 5. 1856.
Liebste Eltern!
Heute wird's nun schon 14 Tage, daß ich mein neues Amt angetreten habe und
also hohe Zeit, daß ich Euch etwas darüber berichte, zumal ich mich nun
schon so ziemlich in die neuen Verhältnisse eingelebt und meine Tagesordnung
festgesetzt habe. Die ersten acht Tage fielen mir schwerer, als ich selbst
gefürchtet, und die höchst jämmerliche, mut- und trostlose Stimmung, in der
ich bisher noch jedes Semester angetreten (glücklicherweise aber auch noch
keines in derselben Weise geendet habe), fehlte auch diesmal nicht. Freilich
waren aber diesmal auch hinreichende Gründe dazu da. Der Kontrast zwischen
dem gottvollen Leben der letzten Wochen in Berlin, wo ich im Kreise der
vielen Lieben nicht minder als in der Beschäftigung mit meinen Pflanzen und
Tieren höchst glücklich war, und zwischen dem neuen Leben, was ich jetzt
hier, ohne alle diese Freuden und Genüsse, zu beginnen hatte, war zu groß,
als daß nicht der arge Konflikt zwischen Wunsch und Pflicht, zwischen Gemüt
und Verstand aufs neue wieder zum Ausbruch gekommen wäre. Ganz besonders
war's der Gedanke an meine verlassene Zoologie, welcher mir anfangs Tag und
Nacht keine Ruhe ließ. Wie das Bild einer treulos verlassenen Geliebten
standen mir die höchst genußreichen Stunden, welche ich dieser meiner
unvergeßlichen Lieblingswissenschaft verdanke, beständig vor meiner Seele,
und es kam mir fast wie Verrat an mir selbst, an meinem besten Wollen und
Streben vor, daß ich mich jetzt so ganz von ihr losgesagt und mich einem
ganz andern, mir von Haus aus viel fremdern Felde der Naturforschung
zugewandt. Ich kann Euch jetzt gar nicht sagen, wie entsetzlich quälend mir
dieser Gedanke war. Die ganze jetzige Stellung, die ich jetzt mit so
leichter Mühe erobert, und die nach Ende des vorigen Semesters mir des
tüchtigsten Strebens wert zu sein schien, kam mir jetzt, wo ich sie wirklich
besaß, so unbedeutend und undankbar, so niedrig und verächtlich vor, daß ich
mich selbst nicht begriff, wie ich sie dem göttlichen Genuß, diesen Sommer
bei Johannes Müller zu arbeiten, hatte vorziehen können. Trübe und düster
wanderte ich durch die kalten Räume des pathologisch-anatomischen Museums
und dachte sehnsüchtig an die vergleichend-anatomischen Schätze im andern
Flügel des Anatomiegebäudes, über die jetzt Beckmann absoluter Herrscher
ist. Sonderbarerweise beneidet mich dieser ebenso um meine pathologischen
Studien und Pflichten, wie ich ihn um seine zoologischen, und es war
ordentlich komisch, abends uns beide gegenseitig unser Mißgeschick beklagen
und einer den andern beneiden zu hören. Es war just wie das Verhältnis der
beiden durch Puck unrichtig verliebten Paare im "Sommernachtstraum"! Gebe
nun Gott, daß schließlich Oberon erscheint, welcher jeden dem Ziele seiner
wahren Neigung in die Arme führt! - Zu diesem inneren Elend kam nun noch das
mehr äußerliche Mißbehaben, welches mir die Unbekanntschaft mit all den
Pflichten und Obliegenheiten meines Amts verursachte, und das Hineinfinden
in die überwältigenden Massen Materials, welche mir vom Donnerstag, 24. 4.,
bis Samstag, 26. 4. feierlichst übergeben wurden. Kurz, ich befand mich in
dieser ersten Woche so höchst ungemütlich und trostlos, daß ich Euch diesen
jämmerlichen Zustand jetzt gar nicht mehr zu schildern der Mühe wert finden
würde, wenn ich nicht wüßte, daß Ihr auch in seinen schwachen und
ungenügenden Stunden das Treiben und Leben Eures Jungen mit der
liebevollsten Teilnahme verfolgtet. Mit Montag, den 28. 4., also nach
Verfluß der ersten Woche, begann endlich, wie mit einem Schlage, die Wendung
meiner Gedanken zu Mut und Hoffnung, Tatkraft und Arbeitslust, in welchem
befriedigenden Zustand ich dieselben auch dies ganze Semester ohne Wechsel
konstant zu erhalten willens bin. Der Hinblick auf die köstliche Zeit,
welche mir in Berlin in den nächsten Semestern noch bevorsteht, und
insbesondere die feste Hoffnung, endlich doch noch eimal meiner Liebsten,
der Zoologie, mich ganz hingeben zu können, gibt mir Mut und Kraft genug,
die außerordentlich bildende, wenn auch nicht angenehme Stellung, die ich
jetzt doch nur als Durchgangspunkt bekleide, nach Kräften zu nutzen und zu
meiner möglichsten besten Ausbildung zu verwerten. Was mich am Anfang der
vorigen Woche so plötzlich aus meinen selbstquälerischen Grillen und
Melancholien herausriß, welche namentlich dadurch sehr genährt wurden, daß
ich nicht recht wußte, was ich tun sollte, war der einfache Umstand, daß ich
letzteres nun mit einemmal vollkommen inne wurde, und zwar so viel Arbeit
bekam, daß, wenn die Geschäfte so fortgehen, ich nicht viel Zeit gewinnen
werde, eine Dissertation neben meinen amtlichen Arbeiten zustande zu
bringen. Freilich wird die Assistentenarbeit nicht immer so ununterbrochen
alle Kräfte in Anspruch nehmen wie in den letzten Tagen. Oft kommen
wochenlang kaum ein paar Cadavera zur Sektion, während jetzt bei dem
plötzlichen Eintritt des außerordentlich kalten und feuchten, unangenehmen
Wetters das noch bis heute fortdauert, sämtliche Patienten, welche in den
vorhergehenden schönen Apriltagen ernstlicher erkrankt waren, auf einmal wie
die Fliegen wegstarben, und so die Anatomie mit Material so überfüllten, daß
wir es kaum bewältigen konnten. Für den Anfang kann mir gar nichts lieber
sein als solche fast übermäßige Beschäftigung. Man behält da gar keinen
freien Augenblick, unnützen Egoismus-Gedanken nachzuhängen und wird so von
einer Arbeit zu andern gejagt, daß alle Kräfte und Sinne sich auf diese
notwendig konzentrieren müssen. Das ist mir aber in so einer Stimmung und
Stellung, wie meine jetzige, grade recht. Wenn ich so recht deutlich und
klar weiß, was ich zu tun habe, und dann den ganzen Tag ununterbrochen von
einem vollbrachten Werk zum andern rast- und ruhelos eilen kann, dann bin
ich den Abend ganz glücklich und denke mit Freuden daran, daß es doch kein
verlorener Tag war. Zugleich kommt man auf diese Weise so gründlich und
vollständig und sogleich so rasch und bequem in die ganze neue Stellung
hinein, daß man die Schwierigkeiten derselben gar nicht merkt. So geht es
auch mir, dank der glücklichen Elastizität der menschlichen Natur. Ich bin
jetzt in meinem neuen Wirkungskreis schon so heimisch, als hätte ich ein
halbes Jahr darin gearbeitet, und bin relativ im ganzen damit zufrieden. Ich
kann darin doch noch weit mehr lernen, als ich vorher gedacht, wenngleich
auch manche Unannehmlichkeiten damit verbunden sind, die ich mir nicht so
groß vorgestellt. Doch ist ja das ganze noch zu neu, um vollständig darüber
aburteilen zu können, und muß ich daher eine vollständige Schilderung einem
späteren Briefe vorbehalten . . .
Um 5 Uhr stehe ich regelmäßig auf, trinke langsam meinen sogenannten Kaffee
(ein Dekokt von verschiedenen gedörrten Wurzeln usw.), wobei ich normale
Anatomie aus meinem herrlichen Frorieschen Atlas repetiere, und bin bereits
um 6 Uhr auf der Anatomie, welche nun, mit Ausnahme der Mittagsstunden von
2-3 Uhr, mein beständiger Aufenthalt bis abends 7 Uhr ist. Dabei halte ich
mich meistens in Virchows Arbeitszimmer auf, einem kleinen, einfenstrigen
Stübchen, in welchem es so kunterbunt mystisch und genial liederlich
aussieht, daß eine Hexenküche oder, besser, das Laboratorium eines
mittelalterlichen Alchimisten auch nur eine schwache Vorstellung davon geben
kann . . .
Wie man sich doch ändern kann! Es ist noch nicht ein Jahr her, daß ich bei
dem bloßen Gedanken an eine chirurgische Operation hätte aus der Haut fahren
mögen, und jetzt mache ich die Sachen selbst schon so kalt und ruhig, als
zergliedere ich einen Frosch. Was nicht die Gewohnheit tut! Ich fange
allmählich an zu glauben, daß der Mensch mit ernstem Willen sich zu allem
möglichen heranbilden kann . . .
Von 6-7 Uhr liest dreimal wöchentlich mein lieber, guter Beckmann sein
erstes Kolleg, ein Repetitorium der Zoologie, welches ich ebenfalls höre,
obwohl ich, in allem andern ihm weit nachstehend, doch grade hierin doch
ebensoviel los habe, wie er selbst. Trotzdem macht es mir sehr viel Freude.
Gleich am Anfang machte sich Beckmanns Vortrag, wie ich erwartet hatte, sehr
gut, und ich glaube gewiß, daß er als Dozent einmal großes Glück machen
wird. Im übrigen stehe ich mich jetzt mit Beckmann so gut, als ich nur
wünschen kann. Die sehr störenden fremden Elemente, welche sich vorigen
Winter in unsern Verkehr mischten, sind jetzt glücklicherweise fort, und so
komme ich mit ihm allein jetzt ganz vortrefflich aus. Beckmanns
außerordentliche persönliche Liebenswürdigkeit und Bescheidenheit, seine
reichen naturwissenschaftlichen und allgemeinen Kenntnisse machen mir seinen
Umgang äußerst angenehm, und er scheint ebenfalls (im Hinblick auf meine
ernsten Menschlichkeitsbestrebungen) viel zufriedener mit mir zu sein . . .
Das Kitzlichste und Schwierigste meiner jetzigen Stellung ist aber nun das
Verhältnis zu meinem Chef, von dem ich Euch jedoch erst später, wenn ich
selbst erst mehr hineingekommen bin, werde erzählen können. Virchow ist bis
jetzt im ganzen sehr nett und freundlich zu mir gewesen. Doch ist er viel zu
verschlossen und vorsichtig, als daß ich daraus schließen könnte, daß er mit
mir zufrieden wäre. Anfangs war dies offenbar nicht der Fall. Mein ganzes
Wesen, meine ganze Art, die Dinge zu behandeln, ist von der seinen zu
verschieden, als daß er sie billigen könnte. Von der göttlichen Ruhe, Kälte
und Konstanz, mit der er, immer sich gleich bleibend, alle Dinge höchst
objektiv und klar auffaßt, ist mir leider von der Natur nicht die Spur
verliehen, und meine Hast, Hitze und Unruhe ist ihm daher nicht sehr
angenehm. Wie oft habe ich in den ersten Tagen, bei Übergabe der Sammlungen
usw., von meinem Vorgänger Dr. Grohé, der sich vollkommen in Virchow zu
finden wußte und auch eine viel verwandtere Natur war, die Worte hören
müssen: "Nein, das geht hier nicht so, lieder Haeckel, nur ruhig, kalt,
trocken! Was hilft die Hast und Hitze? Nur recht langsam und kalt, dann geht
alles viel besser!" -
Nun ich werde mich wohl schon etwas daran gewöhnen müssen, und es wird mir
recht heilsam sein, wenn ich von dieser Kälte und Ruhe mir recht viel
aneigne. Jedenfalls habe ich die beste Gelegenheit dazu, da ich von früh 10
Uhr, wo Virchow auf die Anatomie kommt, bis abends 7 oder 8 Uhr fast
beständig um ihn bin. Dieser beständige nahe Umgang mit einem solchen Mann,
wie Virchow, wird überhaupt die lohnendste und nutzbringendste Seite meiner
Assistentenschaft sein. Das ist wirklich höchst interessant und lehrreich,
so den ganzen Tag ein solches enormes Ingenium auf allen seinen Fährten zu
verfolgen und zu sehen, wie er alle Sachen anfängt, durchdringt und
kombiniert, mit einem Wort, ihn arbeiten und schaffen zu sehen. -
Freilich fühle ich neben einem solchen Riesengeist erst recht, was für
elendige Würmer ich und die meisten meiner Kommilitonen eigentlich sind und
man möchte da wirklich ganz an eigner Leistungsfähigkeit verzweifeln.
Vorläufig denke ich aber alle Selbstgedanken einmal gründlich aufzustecken
und meinem außerordentlichen Vorbilde nachzustreben und mich auszubilden, so
gut es gehen will. Eine etwas unangenehme Schiefheit der Stellung zu Virchow
bringt der frühere Assistent, Dr. Grohé, hinein, welcher außerordentlich
gefällig, dienstfertig und aufmerksam ist und Virchow in dieser Beziehung
sehr verwöhnt hat. Da fällt es denn mir, der von Natur nichts davon ist,
doppelt schwer, mir Virchows Zufriedenheit zu erwerben. Doch werde ich mein
möglichstes tun, auch solche nahe, persönliche Dienstleistungen mich zu
finden, zumal ich ja doch diesen Sommer einmal ganz diesem Amte gewidmet
habe. Etwas andres für mich zu arbeiten, bleibt mir ohnehin keine Zeit, und
übrigens hat es auch sehr viel Angenehmes, sich so eine Zeitlang einmal
ausschließlich mit einem Zweige zu beschäftigen, ohne von den übrigen
distrahiert zu werden. -
Mein Verhältnis zu den übrigen Professoren ist natürlich angenehm, ebenso zu
den Studenten, welche mir mit großem Respekte begegnen, der anfangs meiner
Eitelkeit nicht wenig schmeichelte, an den ich aber jetzt schon ganz gewöhnt
bin . . .
Herzlichste Grüße! Euer Ernst.
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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999
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