Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
83. Brief
Würzburg, 20. 5. 1856.
Liebe Eltern!
. . . Am Pfingstsonntag früh war ich wieder einmal in der Kirche, zum
erstenmal in diesem Semester und wahrscheinlich auch zum letztenmal. Denn
für gewöhnlich habe ich Sonntag (wo Virchow jetzt immer seine Familie in
ihrer Sommerwohnung in Veitshöchheim besuchen wird) ebenso zu tun wie an den
andern Tagen, und zweitens muß ich auch gestehen, daß die Leistungen der
hiesigen Prediger für mich nichts weniger als befriedigend sind. Abgesehen
davon, daß der hiesige Gottesdienst schon sehr in das Katholische, das mir
womöglich noch mehr als Dir, liebste Mutter, verhaßt ist, hinüberspielt, muß
mir auch der dogmatisch-orthodoxe Standpunkt, den man hier durchweg einnimmt
und mit dem man unserer auf Tatsachen gegründeten naturwissenschaftlichen
Überzeugung ins Gesicht schlägt, notwendig nicht konvenieren und ein
christlicher Rationalismus, wie ihn Sydow in seinen trefflichen Predigten,
oder ein ethischer Humanismus, wie ihn Weiße (der Leipziger Philosoph) in
seinen Aufsätzen ausspricht, oder vielmehr beides zusammen sind für mein
jetziges sittlich-religiöses Bewußtsein und Bedürfnis die einzig
zutreffenden Standpunkte. Dabei bin ich aber immer noch der Meinung, daß
schließlich jeder nach seiner individuellen Eigentümlichkeit sich selbst
seine eigene Religion schaffen kann und muß, und daß Schillers Wort: "In
seinen Göttern malet sich der Mensch!" in dieser Beziehung gewiß sehr wahr
ist. Ich werde um so mehr zu dieser freieren und selbstständigeren
Auffassung gedrängt, je auffallender und widerwärtiger mir hier jetzt in
diesen Pfingsttagen und der darauf folgenden Festzeit das abergläubische
Formenwesen und der ganz unchristliche Bilderdienst, die Pfaffenherrschaft
und der Marienkultus des Katholizismus entgegentritt, den ich in seinem
widerwärtigsten Extrem freilich schon vorigen Herbst in Tirol und
Oberitalien hatte kennenlernen. Möge er immer mehr durch Aufklärung und
wahre Bildung verdrängt werden, zu deren Verbreitung wir Naturforscher ja so
vorzugsweise befähigt sind . . .
Am Pfingstmontag war ganz leidliches Wetter, so daß wir einen Extrazug nach
Veitshöchheim benutzten, woselbst in dem großen, altfranzösisch
ausstaffierten und verschnittenen Park ein echt bayrisches (d. h. Bier-)
Volksfest arrangiert war. Da mir aber das eine so verhaßt ist wie das
andere, das bayrische Biervolksleben womöglich noch mehr als der
abscheuliche altfranzösische Rokokostil, so drückte ich mich bald von meine
Freunden, welche sich vergeblich bei schlechtem Bier in dem Menschentrubel
zu amüsieren versuchten, weg und kletterte durch die Weinberge zu meiner
geliebten, alten Edelmanns-Waldspitze hinan, demselben vorspringenden
Waldsaum oberhalb der hohen Weinberge, auf welchen ich auch Dich, liebster
Vater, während Deines hiesigen Aufenthaltes hinaufschleppte. Da wurde mir in
der herrlichen grünen Maiennatur unter dem weiten blauen Himmel einmal
wieder recht innig und herzlich und fast sehr rührend zumute. In der Tat kam
auch vieles zusammen, um mich so recht herzinnig stillvergnügt, "in meinem
Gotte vergnügt", wie der alte Heim sagt, zu machen. Bei mir mußte das aber
diesmal doppelt der Fall sein, da ich zum erstenmal aus der dumpfen, toten
Anatomie und Klause in die frische Frühlingspracht hinaustrat. Und dann der
wunderherrliche Blick von der hohen Waldspitze das weite freundliche Maintal
hinauf und hinab - längs des blauen Stroms die zahlreichen freundlichen
Dörfchen mit den roten Dächern und den schlanken Kirchtürmen, eingebettet in
das frischeste Maigrün der Obstgärten -, die feierliche Festtagstille über
das Ganze ausgebreitet, nur von dem lustigen Pfiff der Finken und dem
melodischen Schlag der Nachtigall unterbrochen, dann das wunderliche Spiel
des wilden Windes mit den wehenden Wolken, die er, in die seltsamsten
abenteuerlichsten Formen und Phantasiegestalten zusammengeballt, vor sich
hertrieb und dann am Südwesthorizont so alle in ein großes Heerlager sich
zusammentürmten, just ähnlich wie damals die seltsame Wolkenbildung auf dem
Watzmann - dies alles, alles gab ein so einziges und köstliches Schauspiel
ab, daß ich meinte, die Natur hätte ihrem Lieblinge oder vielmehr Liebhaber
ein ganz besonderes Festvergnügen bereiten wollen, von dem alle die 1000
Menschen da drum herum in dem engen, trostlosen Kunstgarten gar keine Ahnung
hatten, und daß ich mehrere Stunden ganz entzückt und selig dort oben unter
den grünen Bäumen lag, in das weite freie Maintal hinausjubelte und nichts
vermißte als Euch, liebe Berliner Seelen alle, um mit mir meine Freude zu
teilen. Dieser kleiner Erdenfleck hier ist mir nun aber auch der liebste in
der ganzen Würzburger Umgebung geworden. Wie oft habe ich hier schon
stundenlang allein mit mir und meiner Natur gelegen und mir im Waldesduft
und Bergesluft Kraft und Erquickung für das Stuben- und Studiumleben geholt.
Grade dieser Punkt ist es, von dem aus ich schon mehr als drei- oder viermal
Abschied von der Würzburger Gegend nahm, immer in der Meinung, nie
wiederzukehren! Und doch kehrte ich noch jedesmal wieder und mir immer zu
neuem Nutzen und Frommen. So glaubte ich noch vor kurzem, Anfang Januar, als
ich zum letztenmal vor den Ferien dort war, dies wäre gewiß das letztemal
für immer - und nun befand ich mich wider alles Erwarten am Pfingstmontag
1856 doch wieder da, und wie ich gewiß glaube, nur zu neuem Nutzen für meine
innere Ausbildung. Indem ich diesem Gedanken nachging, wurde ich so recht
freudig dankbar gegen Gott gestimmt, der ohne all mein und Euer Zutun mich
in der kostbaren Studienzeit so glücklich geleitet und mich gewiß zu meinem
größten Nutzen immer wieder hierher zurückgeführt hat. Was wäre aus mir
geworden, wenn ich immer in Berlin geblieben wäre! Ein höchst versimpelter,
menschenscheuer Philister, ein einseitiger Stubengelehrter und jedenfalls
auch kein Mediziner! Wenn ich Johannes Müller ausnehme, der allerdings für
die Richtung meines Lieblingsstudiums einen ganz entscheidenden Einfluß
gehabt hat, so verdanke ich alles andere, was ich wissenschaftlicher
Beziehung bin und habe, dem alten Würzburg mit seinen höchst anregenden,
jugendkräftigen Lehrern, seinem regen wissenschaftlichen Streben und seinem
gediegenen Gemeinleben. Wieviel habe ich nicht hier gelernt und wie mich
verändert! Das trat alles so recht lebhaft an dem schönen Pfingstmontag vor
meine Seele und versetzte mich in eine so glückliche, zufriedene Stimmung,
daß ich noch nie ein so fröhliches Fest gehabt zu haben meinte, und den
festen Vorsatz, das hohe Ziel des "Wahren, Guten und Schönen" mit Aufbietung
aller Kräfte zu verfolgen, aufs ernstlichste erneuerte. Freilich waren das
Stunden der erhöhten Stimmung, und ich weiß wohl, daß ich noch nicht so fest
und sicher bin, daß auf diese nicht auch wieder Stundes des Kleinmuts und
der Niedergeschlagenheit folgen werden.
Aber mögen diese auch kommen, solche erhöhte Stunden geben mir wieder Kraft
und Mut auf lange Zeit, und ich gelange doch allmählich zu einem etwas
festeren, konstanteren Gleichmut und einem mehr gesetzten, männlichen Wesen,
wozu ich jetzt in meiner Assistenz bei Virchow eine ganz vortreffliche, wenn
auch nicht sehr angenehme Schule durchmache . . .
Würzburg, 21. 5. 1856.
. . . In mein neues amtliches Verhältnis habe ich mich nun schon vollkommen
eingelebt. Die ersten 3-4 Tage wurden mir, wie ich Euch schon schrieb, recht
schwer. Nun ich sie mit einemmal aufgeben mußte, meinte ich zum erstenmal
die Süßigkeit der akademischen Freiheit, das Glück, ganz nach Belieben mit
seiner Zeit zu schalten, recht zu würdigen. An kontinuierliche Arbeit war
ich zwar von jeher gewöhnt. Daß ich aber auch einmal nicht bloß für meine
eigene Ausbildung, sondern auch für andere etwas tun sollte, kam mir anfangs
sehr widerwärtig vor. Glücklicherweise gab's aber bald so viel Arbeit, daß
ich gar nicht Zeit hatte, darüber zu grübeln. Ich kam mit einem Zuge
vollkommen in den Wirkungskreis hinein und war nach acht Tagen schon völlig
eingelebt. Jetzt ist mir's so, als könnte es gar nicht anders sein und alles
kömmt mir ganz leicht und natürlich vor. Wie ich vorausgesehen, wird das
viele Unangenehme der etwas delikaten Stellung mehr als aufgewogen durch den
großen Nutzen, den sie sowohl für Ausbildung meines Wissens als besonders
meines Charakters hat. Der letztere wird tagtäglich mehr in Anspruch
genommen, verträgt aber auch allmählich alle Proben und Aufgaben besser als
je vorher. Oft kommt es mir selbst fast unglaublich vor, wie der Mensch,
allein durch allmähliche Angewöhnung, auch die tiefstwurzelnden und
festsitzendsten Schwächen ablegen kann. Anblicke und Gedanken, bei deren
Erwähnung ich noch vor einem Jahr vor lauter Reizbarkeit und Empfindlichkeit
aus der Haut fahren zu müssen glaubte, ertrage ich jetzt mit derselben Kälte
und Gleichgültigkeit, mit der ich irgendeiner mathematischen Deduktion
folge. Freilich hilft aber das wissenschaftliche Interesse da über viele
Schwierigkeiten hinweg, und außerdem ist grade mein jetziges Tagewerk mehr
als alles andere zur Abgewöhnung solcher Schwächen geeignet. So betraf z. B.
die erste Sektion, welche mir Virchow ganz selbstständig überließ, einen
stud. med. Schmitt aus Lippspringe, mit welchem ich diesen Winter im
Entbindungshaus fast regelmäßig die langen Nächte durchplaudert hatte. Kurz
vor Ostern hatte er mir noch ein fröhliches "Auf Wiedersehen in Berlin!"
zugerufen, und lag er statt dessen mit akuter Miliartuberkulose vor mir auf
dem Sektionstisch! Ein andres, herbes Probestückchen wurde vorgestern
glücklich überstanden. Ich hatte bisher die Sektion immer nur im Beisein
weniger Ärzte oder Studenten gemacht. Zu vorgestern wurden nun zwei
sogenannte "klinische" Sektionen angesagt, bei denen nicht allein das
gesamte klinische Auditorium, sondern auch die Professoren und Studenten
gegenwärtig sind. Für gewöhnlich macht diese Virchow immer selbst und ich
schreibe dabei nur das Protokoll nach. Vorgestern nun ging ich noch kurz
zuvor durch den Sektionssaal und sagte mir beim Anblick der großen
Menschenmasse: "Doch gut, daß du nicht die Sektion zu machen hast!" Kaum
gedacht, so kömmt der Diener hereingestürzt: "Herr Doktor, der Herr
Professor läßt sagen, Sie sollten beide Sektionen machen; er müßte auf den
Bahnhof, um zwei Herren aus Berlin zu empfangen!" - Das war denn wieder für
mich so ein Blitz aus heiterem Himmel, geeignet, um den ganzen Kopf zu
verlieren. Indes, was half's! Die Zuhörer waren da, und ich mußte wohl oder
übel ex tempore die beiden Sektionen (zwei fast ganz gleiche Pneumonien) im
Beisein des Herrn Prof. Bamberger usw. machen. Anfangs schnitt ich mich
natürlich mit zitternden Händen mehrmals in die Finger (glücklicherweise
ohne alle üblen Folgen) und klemmte nur mühsam die nötigen Bemerkungen aus
der Brust heraus. Nach der ersten Viertelstunde war aber alle Angst
verschwunden und ich brachte die Sache ganz unbefangen zu Ende! - Auch im
chirurgischen Operationskursus habe ich mich ganz gut, wider alles Erwarten,
eingewöhnt und sehe darin täglich zu meinem Troste, daß ich noch lange nicht
der Allerungeschickteste bin, da ich von mehreren Älteren darin entschieden
übertroffen werde. Ja, das systematishe Arm- und Beinabschneiden,
Exartikulieren und Trepanieren usw. fängt sogar, allerdings mehr
curiositatis causa , an, mir einigen Spaß zu machen. So wäre denn also auch
die letzte von mir für unüberwindlich gehaltene Schranke gefallen, von
welcher ich fürchtete, daß sie mich unmöglich könnte Arzt werden lassen, und
ich habe mich mit diesem Gedanken, im Notfalle praktischer Arzt zu werden,
jetzt schon so vollkommen ausgesöhnt, daß mir die Verwirklichung desselben
gar nicht mehr unmöglich erscheint, zumal wenn ich dabei an ein recht nettes
Familienleben denke, ein in seiner Art gewiß ganz einziges Glück! Zuerst
aber muß gereist werden! Die Reiselust steckt mir viel zu tief und
unvertilgbar in allen Gliedern, um irgendwelchen Rücksichten nachzustehen,
und an einem so schönen Tage wie heute und gestern zuckt mir's in den
Beinen, als müßte ich gleich auf den Watzmann klettern! Die Muskelfülle, die
ich mir im vorigen Herbst auf der Reise angeschafft, ist mir bei dem vielen
Sitzen jetzt ordentlich lästig. Überhaupt habe ich für das ewige
Stubenhocken einen viel zu leistungsfähigen Kadaver, und ich muß durchaus
einmal ein paar Jahre hinaus und die Welt durchwandern! Ich weiß gar nicht,
wie ich das den ganzen Sommer in dem engen Neste hier aushalten werde!
Mit dem persönlichen Verhältnis zu dem Chef, jetzt der schwierigste Punkt,
will sich's noch immer nicht so recht machen! Es wird auch schwerlich anders
werden, sicherlich niemals gemütlich. Wenn Virchow nur nicht so äußerst
zurückhaltend wäre und so gar nichts von dem verlauten ließe, was er
eigentlich will und meint. So hat er gegen mich z. B. auch noch nicht einmal
ein Wort des Lobes oder des Tadels hören lassen, obwohl er, namentlich zu
letzterm, reichliche Gelegenheit hatte. Alles sieht er so fabelhaft ruhig,
ungerührt und objektiv passiv an, daß ich seine außerordentliche stoische
Ruhe und Kaltblütigkeit täglich mehr bewundern lerne und bald ebenso hoch
schätzen werde wie die außerordentliche klare Schärfe seines Geistes und den
Überfluß seines Wissens. Wenn er meinem schäumenden Sprudelgeiste nur etwas
davon abgeben könnte! Nun, mit der Zeit wird das schon werden! Jetzt bin ich
wenigstens schon so weit gekommen, daß ich mir jeden Satz, den ich zu ihm
sage, eine Viertelstunde lange überlege und ihn dann vor dem Aussprechen
noch zehnmal im Munde herumdrehe. Schweigen werde ich dabei vortrefflich
lernen! Der einfache Grund davon ist der, daß ich mir in der ersten Zeit, wo
ich alle Gedanken so ungeniert herausplauderte, wie ich gewohnt bin, mir
entweder das Maul so verbrannte, daß ich nachher wie mit kaltem Wasser
begossen dastand, oder aber von ihm so ad absurdum geführt wurde, daß ich
mir als der trivialste Wurm unter allen dummen Menschen vorkam. Die
lohnendste Antwort, die ich bisher noch erlangen konnte, war nämlich, als
ich ihm eine Idee vortrug, die ich über eine mikroskopische Beobachtung
gefaßt und von der ich mir Wunder was versprach. - "Ja", sagte Virchow mit
seiner gewöhnlichen Ruhe, nachdem er mich angehört, "diese Idee habe ich
auch einmal in einer gewissen Periode meines Lebens gehabt!" - Wie oft habe
ich schon dieser ruhigen, klaren, scharfen Größe gegenüber die kleinliche
Alltäglichkeit meines unsteten, Irrlichtern gleich hin und her flackernden,
nirgends sich rein und scharf aus sich selbst sich ablösenden Geistes
verwünscht! Wie wenig paßt ein so unklares, konfuses, subjektives Wesen für
einen Naturforscher! Und doch gibt es Stunden, in denen ich nicht mit
Virchow tauschen möchte. Kann Virchow wohl je so eines entzückenden Genusses
sich erfreuen, wie ich ihn so oft in meiner subjektiven Naturbetrachtung,
sei es einer schönen Landschaft oder eines allerliebsten Tierchens oder
einer niedlichen Pflanze, genieße? Sicher nicht! Auch müßte es schrecklich
auf der Welt sein, wenn alle Männer so nüchtern und verständig wären, fast
so schrecklich, als wie wenn alle solche krausen Chaosköpfe wären wie meine
Wenigkeit . . .
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Diese Seite ist Teil von Kurt Stübers online library
Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999
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