Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
86. Brief
Würzburg, 10. 7. 1856.
Liebe Eltern!
Vorgestern erhielt ich Euren lieben letzten Brief, welcher mich durch die
Nachricht, daß Du, liebes Mutterchen, in Eurem neuen Aufenthaltsort das
Wechselfieber bekommen hast, sehr betrübt hat. Fast noch größer als das
Mitleid war aber der Ärger über Eure beiden Doktoren, den einen, daß er Euch
in ein Fiebernest geschickt hat, den andern, daß er Euch auf diese Weise
behandelt. Wenn es wirklich wahr ist, was Du von letzterm schreibst, daß er
damit nicht unzufrieden sei, und meine, "es könne noch ein Rückstand in
Mutters Körper zurückgeblieben sein, dessen letzterer sich auf diese Weise
entledigen wolle", wenn er dies wirklich so gemeint hat, so ist Herr v. M.,
wie sehr er auch sonst in politischen Ansichten mit Dir zu harmonieren
vorgeben mag, gelinge gesagt, ein solcher Erzkaffer, oder besser (mit
Respekt gesagt:) E--l, wie ein verdrehter Badearzt nur immer sein kann. Ich
kann Euch gar nicht sagen, wie ich mich über diesen einzigen Satz, der jedem
rationellen Mediziner in der Seele weh tun muß, geärgert habe, ich hätte dem
Mann am liebsten gleich das erste beste Buch über Febris intermittens an den
Kopf geworfen! So was ist doch zu toll! Man braucht in der Tat eben kein
erfahrener praktischer Arzt zu sein, um zu wissen, daß das Wechselfieber
nichts mit Mutters "Krankheitsrückständen", welche überhaupt nicht vorhanden
sind, sondern nur im Kopf praktischer Ärzte existieren, zu tun hat, sondern
lediglich und allen durch eigentümliche ungünstige Kombinationen von
klimatischen und Bodenverhältnissen der Orte, wo sie vorkommt, erzeugt
werden; namentlich ist da die Sumpfluft eine Hauptursache. Bitte schreibt
mir nur recht bald, wie es Mama geht und beantwortet mir dabei folgende
Fragen: 1. Liegt Eure Wohnung etwa in einer feuchten Niederung (in welchem
Fall ihr schleunigst in einer trockene, luftige überziehen müßtet), oder ist
etwa Mama abends öfter in solcher spazieren gegangen? 2. Wo bekommt Ihr Euer
Trinkwasser her? 3. Herrscht überhaupt in Eilsen viel Wechselfieber? 4. Wie
ist überhaupt Eilsens Lage, an einem Fluß oder in einer sumpfigen Gegend? 5.
Wie oft kommen die Fieberanfälle, jedem Tag einmal? und wann? 6. Haben sie
bis jetzt nachgelassen oder noch nicht? Zu Eurer Beruhigung kann ich Euch
versichern, daß das Wechselfieber zwar sehr unangenehm, aber keineswegs
gefährlich ist, ja, eigentlich die am leichtesten und sichersten zu heilende
Krankheit, insofern es nämlich die einzige ist, gegen die wir wirklich ein
spezifisches Mittel besitzen, das fast nie im Stich läßt. Es ist dies, wie
Ihr wohl wissen werdet, die Chinarinde und besser noch das daraus
hergestellte Chinin, das oberste unter allen Heilmitteln, weil das einzig
Sichere . . . Für den Fall, daß Mama noch kein Chinin bekommen hat, schicke
ich Euch das beifolgende Rezept mit, das Mama dann jedenfalls einnehmen muß.
Du bekömmst danach, liebes Mutterchen, 12 Pulver, welche Du aber nur in der
fieberfreien Zeit nehmen darfst, und zwar anfangs alle zwei Stunden eines,
später, wenn das Fieber aussetzt, alle drei Stunden. Um den bittern
Geschmack zu verbessern, nimmt Du es am besten in einem Löffel schwarzen
Kaffee und ißt danach ein Stückchen Zitronenscheibe, mit Zucker bestreut.
Auch wenn das Fieber vorbei ist, mußt du wenigstens noch eine Woche mit dem
Chininpulver fortfahren, brauchst dann täglich nur 3-4 Stück zu nehmen. Wenn
ferner Eilsen ein Ort ist, wo das Wechselfieber endemisch ist, d. h. wo
jederzeit einzelne Fälle davon vorkommen, so müßt Ihr durchaus das Nest
baldigst verlassen, da sonst alle China schwerlich helfen, sondern immer
wieder in der Sumpflust Rückfälle kommen würden . . .
Über Euern Arzt habe ich mich aber auch nicht wenig geärgert, daß er Euch in
so ein Bad schickt! Diese verdammten Bäder soll doch allesamt mit den
Badeärzten der Kuckuck holen! Ich kann Euch gar nicht sagen, wie ich sie
hasse, und wie ich mich über die Ärzte ärgere, die vernünftige Patienten
dahin schicken, wohin nur Leute gehören, die ihr Geld, Zeit oder Langeweile
anderswie nicht loszuwerden wissen! Das Baden hilft doch immer am wenigsten
oder vielmehr gar nicht. Das wirklich Wirksame ist das Herausreißen aus den
gewohnten alltäglichen Verhältnissen, das Vergessen der häuslichen gewohnten
Sorgen und Arbeiten, die Ruhe und Muße sowie der möglichste Genuß der freien
und schönen Natur. Alles dies hätte aber Euer Arzt viel besser erreicht,
wenn er Euch, statt in ein so langweiliges Bad, wo man nichts als Krüppel
sieht, in eine herrliche Gebirgsgegend, wie z. B. das selbst für Damen sehr
leicht zugängliche Salzkammergut, nach Berchtesgaden, Ischl oder Gastein
geschickt hätte, wo Ihr in der göttlichen Alpenluft beide viel besser auf
den Damm gekommen wäret und überdem doch dabei hättet baden können . . .
Anfang dieser Woche hätte ich Euch gewünscht, hier zu sein. Da wurde nämlich
vom Sonntag bis Mittwoch (6-9) das große 50jährige Stiftungsfest des
hiesigen Polytechnischen Vereins, des ersten und größten in Deutschland,
gefeiert, wozu zahllose Gäste von allen Ecken und Enden herbeigeströmt
waren. Es war in der Tat äußerst prächtig. Nie habe ich hier eine solche
Menschenmasse beisammen gesehen. Das schönste war der große Festzug, der am
Sonntag durch alle Hauptstraßen der Stadt zog und von 9-1 Uhr dauerte.
Darunter befanden sich die Schulen, Bürger, fremde Gäste, alle Mitglieder
des Vereins, insbesondere alle Gewerke, welche in wirklich sehr netter,
sinniger und geschmackvoller Weise sich aufspielten und herumzogen. Die
meisten Korporationen zogen festlich geschmückt in einem allegorisch
verzierten Arbeitskleid auf; davor getragen wurde eine Fahne, dann die
Embleme und Wahrzeichen des Gewerkes. Viele Zünfte hatten außerdem einen
feierlichen Festwagen voll sinniger Anspielungen aufgeputzt, der mit Kling
und Klang voranzog, so die Maurer, Schneidmüller, Architekten, Tüncher,
Jäger, Werkzeugfabrikaten, Zimmerleute, Schlosser usw. Am besten machten
sich die wirklich ganz poetisch aufgeputzten Fischer, welche in einer sehr
passenden und hübschen altdeutschen Fischertracht, mit Fahnen aus Netzen
gewebt und andern Sinnbildern umherzogen. In ihrer Mitte wurde auf vier
rings von Schilf verdeckten Rädern ein großer, mit Wasserpflanzen, Segeln,
Wimpeln und Flaggen geschmückter Kahn gezogen, den vorn ein alter Neptun
regierte, während drin allerliebste Kinder, Netze strickend, unter einer
zart aus Netzen gewebten Laube saßen. Auch die Tischler, mit Wiege und Sarg
als Emblemen, Fahnen aus Hobelspänen gewebt, Zirkel und Winkelmaß als Waffen
usw., machten sich sehr hübsch. Sehr komisch sahen die Kärrner, welche als
Kavallerie auf ihren Karrengäulen, wahrhaften Regimentern, ritten, aus. Auch
die Gärtner und Gärtnermädchen, sehr zart und fein in Grün und Weiß
gekleidet, in ihrer Mitte einen großen, riesenhaften Blumenstrauß mit
Girlanden tragend, sahen sehr hübsch aus, ebenso die Klempner in
Ritterrüstungen, die Glaser mit sehr schönen, bunten Glaswaren behangen, die
Fleischer rot und weiß, mit blanken Waffen, die Kaminfeger in feierlichen
Staatswagen, die Goldarbeiter mit reichen Kleidern geschmückt, die Bauleute,
eine ganze Brücke mit Gerüst und Arbeitern auf einem Wagend fahrend, usw.
Ihr hättet selbst den ganzen Schwindel sehen müssen, um Euch einen Begriff
von dem dabei entwickelten Glanz und Pracht zu machen. Im ganzen
entwickelten die Leute viel mehr Glanz, Pracht, Witz und Sinnigkeit, als ich
ihnen zugetraut. Den traurigsten Eindruck machten nur die Gestalten der
Männer selbst, die mit wenigen Ausnahmen (z. B. Fischer, Maurer, Schneider
usw.) ein trübes Bild von dem herabgekommenen, kraftlosen Charakter unserer
jetzigen Generation zeigten und in denen man vergeblich die kräftigen,
prächtigen altdeutschen Gestalten suchte . . .
Mit dem herzlichsten Wunsch recht baldiger vollkommener Genesung
Euer alter treuer Ernst.
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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999
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