Texte zu Borcherts Drama und die Nachkriegsliteratur
1. Über ,Nullpunkt‘ und ,Trümmerliteratur‘
"Wir können, wenn wir auf diese Zeit sehen, die physische Not von der geistigen nicht trennen. ... Beide ergeben erst das Gesamtbild. ... Das Bild des Deutschlands jener Tage zeigt neben zerstörten Wohnhäusern, Mietskasernen, Geschäftshäusern, Bahnhöfen, auch zerstörte Schulen, Kirchen und zerstörte Theater. Die Auslagen der Geschäfte waren mit minderwertigem Zeug gefüllt und in den Buchhandlungen verkaufte man neben den schlecht gebundenen Büchern und den ersten Zeitschriften auf grauem Papier Zeitungen, Schulhefte, Federhalter und Bleistifte. Man muss sich den Betrieb in den Flüchtlingslagern, Kasernen, Notunterkünften, den Gefängnissen und politischen Haftanstalten ebenso vergegenwärtigen wie das Treiben in den Wartesälen der Bahnhöfe, das Hin und Her auf den Landstraßen. ... Angesichts der damaligen Wirklichkeit waren Vokabeln wie Größe, Schönheit, Erhabenheit, selbst Begriffe wie Humanität und Menschenwürde fragwürdig geworden. Man fing an, allenthalben begann man wieder. Aber wo beginnen und woran anknüpfen ...? Galten noch Vorbilder? Gab es im Chaos noch irgendetwas Verbindliches, Verbindendes? ...
Es entstand damals eine Literatur, die man ... ,Trümmerliteratur‘ nannte, weil sie Trümmer beschrieb und der Brandgeruch der Vergangenheit noch über ihr lag. ... Eine Reihe von Stimmen kam zu Wort, die aufrichtig und verantwortungsbewusst die Wirklichkeit schilderten, wie sie war, ohne Schönfärberei und Tünche. Die Literatur nach 1945 war sehr nüchtern, zuweilen sogar zu nüchtern und am allerwenigsten ein Refugium für den Ruhe und Frieden suchenden Leser."
(K.L.Tank/W.Jacobs: Zwischen den Trümmern, 1960; aus: Materialien zu W. Borchert: Draußen vor der Tür, hrsg. von W. Große, Klett 1984 S. 7ff)
"Die ersten schriftstellerischen Versuche unserer Generation nach 1945 hat man als Trümmerliteratur bezeichnet, man hat sie damit abzutun versucht. Wir haben uns gegen diese Bezeichnung nicht gewehrt, weil sie zu Recht bestand: tatsächlich, die Menschen, von denen wir schrieben, lebten in Trümmern, sie kamen aus dem Kriege, Männer und Frauen in gleichem Maße verletzt, auch Kinder. Und sie waren scharfäugig, sie sahen. Sie lebten keineswegs in völligem Frieden, ihre Umgebung, ihr Befinden, nichts an ihnen und um sie herum war idyllisch, und wir als Schreibende fühlten uns ihnen so nahe, daß wir uns mit ihnen identifizierten. (...) Wir schrieben also vom Krieg, von der Heimkehr und dem, was wir im Krieg gesehen hatten und bei der Heimkehr vorfanden: von Trümmern; das ergab drei Schlagwörter, die der jungen Literatur angehängt wurden: Kriegs-, Heimkehrer- und Trümmerliteratur. Die Bezeichnungen als solche sind berechtigt: es war Krieg gewesen, sechs Jahre lang, wir kehrten heim aus diesem Krieg, wir fanden Trümmer und schrieben darüber.“
(Böll, Heinrich, Bekenntnisse zur Trümmerliteratur, in: Bernd Balzer (Hrsg.), Heinrich Böll. Essayistische Schriften und Reden, Bd.1: 1952-1963. Köln o.J)
2. Über die Sprache der Literatur in dieser Zeit:
"Denn wer unter uns, wer dann, ach, wer weiß einen Reim auf das Röcheln einer zerschossenen Lunge, einen Reim auf einen Hinrichtungsschrei, wer kennt das Versmaß, das rhythmische, für eine Vergewaltigung, wer weiß ein Versmaß für das Gebell der Maschinengewehre?" (Wolfgang Borchert, zit. nach Adelhoefer, Mathias: Wolfdietrich Schnurre. Ein deutscher Nachkriegsautor. Mit einer Vorbemerkung von Marina Schnurre, Pfaffenweiler 1990, S. 11)
"Wer schreibt für uns eine neue Harmonielehre? Wir brauchen keine wohltemperierten Klavier mehr. Wir selbst sind zuviel Dissonanz ...
Wir brauchen keine Stilleben mehr. Unser Leben ist laut.
Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns Geduld. Wir brauchen die mit dem heißen heiser geschluchzten Gefühl. Die zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv."
(W. Borchert: Das ist unser Manifest, aus: Materialien zu W. Borchert: Draußen vor der Tür, hrsg. von W. Große, Klett 1984 S. 18f)
3. Im Stationendrama
"ist der Held, dessen Entwicklung es schildert, von den Gestalten, die er an den Stationen seines Weges antrifft, aufs deutlichste abgehoben. Sie erscheinen, indem sie nur in seinem Zusammentreffen mit ihnen auftreten, in seiner Perspektive und so auf ihn bezogen. Und da der Grund des "Stationendramas" nicht eine Vielzahl von einander weitgehend gleichgestellten Personen, sondern das eine zentrale Ich bildet, (...) verliert auch der Monolog hier den Ausnahmecharakter, den er im Drama notwendig besitzt. (...) In der Konsequenz der subjektiven Dramatik liegt ferner, dass die Einheit der Handlung durch die Einheit des Ich ersetzt wird. Dem trägt die Stationentechnik Rechnung, indem sie das Handlungskontinuum in eine Szenenfolge auflöst. Die einzelnen Szenen stehen hier in keinem kausalen Bezug, bringen einander nicht, wie im Drama, selber hervor. Vielmehr erscheinen sie als isolierte Steine, aufgereiht am Faden des fortschreitenden Ich. (...) In der Szene des ,Stationendramas‘ ... entsteht keine Wechselbeziehung, der Held trifft zwar auf Menschen, aber sie bleiben ihm fremd. Damit wird die Möglichkeit des Dialogs selbst in Frage gestellt."
(Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas, Frankfurt 1966 S.46f)
Klaus Dautel
Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz Themen-gerecht sein sollte.