GRUNDBEGRIFFE DER TEXTANALYSE UND INTERPRETATION

StD Wolfgang Winter
DS Barcelona 1986

Neubearbeitung:
Hölderlin-Gymnasium
Nürtingen 2004

2. Die Wortarten

2. Die Wortarten

In der folgenden Zusammenstellung werden einige wichtige Aspekte der Wortarten angeführt, die für eine Interpretation wesentlich sein können. Aus diesem Grunde wird keine vollständige Übersicht über alle Aspekte der Wortarten gegeben, wie sie für eine Grammatik notwendig wäre.

2.1. Das Verb

2.1.1. Die Einteilung der Verben nach syntaktischen Kriterien

2.1.1.1 Persönliche und unpersönliche Verben

Verben, die in allen drei Personen gebraucht werden können, heißen persönliche Verben.” Verben, die nur mit der unpersönlichen 3. Person Singular es” gebraucht werden, heißen unpersönliche Verben.”

2.1.2 Die Einteilung der Verben nach ihrer Bedeutung.

Die Klassifizierung der Verben nach ihrer Bedeutung kann bei einer Interpretation ein sehr nützlicher Gesichtspunkt sein. Denn die unterschiedlichen Verben sagen Interessantes über das Subjekt aus.

2.1.2.1 Die Tätigkeitsverben

Diese Verben sind die größte Gruppe unter den Verben. Sie zeigen an, dass das Subjekt handelt, dass es aktiv ist. Das Subjekt ist also die Ursache des Handelns; es ist imstande, etwas zu tun.

Viele dieser Verben können auch ein Ziel, ein Objekt der Handlung, haben. Dadurch wird deutlich, dass durch das aktive Handeln des Subjekts etwas in der Welt verändert wird. Das Subjekt überträgt seine Aktivität auf etwas anderes.

Diese Verben bringen zum Ausdruck, dass mit dem Subjekt etwas geschieht. Mit dem Subjekt findet etwas statt, was nicht von seinem Willen abhängt. Oder ein Prozess geht vor, ein Geschehen wird wiedergegeben.

2.1.2.3 Die Zustandsverben

Diese Verben bringen keine Handlung oder ein Geschehen zum Ausdruck. Sie sind sozusagen statisch. Sie zeigen an, dass mit dem Subjekt etwas verbunden ist, was sich ‑ zumindest im Augenblick ‑ nicht ändert, was bleibt, was einen Zustand des Subjekts wiedergibt. Solche Verben sind:

sein; bleiben, wohnen, stehen, liegen usw.

2.1.3 Die Tempora des Verbs(‑s Tempus, Pl. Tempora)

Um zu wissen, welche Funktionen die Tempora der Verben in einem Text erfüllen, muss man ihre grundsätzliche grammatische Funktion im Deutschen kennen.

2.1.3.1 Das Präsens

Das Präsens kann angeben, was gerade zum Zeitpunkt des Sprechens geschieht. Die Gegenwart wird also bezeichnet. Man könnte dieses Präsens das aktuale Präsens” nennen. Um diese Bedeutung des Präsens deutlicher zu machen, werden fast immer weitere Zeitangaben in Form von Adverbien, wie z.B. gerade”, jetzt”usw., hinzugefügt.

Was machst du?” – Ich lese gerade.”

Das Präsens gibt im Deutschen aber auch an, was immer passiert, was immer gültig ist, ein Gesetz, eine Gewohnheit. Es gibt dabei keinen Zeitpunkt an. Deshalb könnte man dieses Präsens das atemporale Präsens” nennen.

Das Präsens hat aber noch eine weitere Funktion, die das folgende Beispiel verdeutlicht:

In diesem Beispiel wird etwas erzählt, was in der Vergangenheit stattgefunden hat. Der Sprecher benutzt dann jedoch in seinem Bericht über die Vergangenheit das Präsens, um das Geschehene so zu schildern, als ob es gerade passieren würde. Dieses wirkt dadurch unmittelbarer. Der Hörer / Leser sieht die Szene direkt vor sich. Weil das Ereignis in der Vergangenheit liegt, jedoch das Präteritum plötzlich vom Präsens abgelöst wird, heißt dieses Präsens das historische Präsens”. An seiner Stelle könnte auch das Präteritum stehen.

Da im angegebenen Beispiel eine kleine Szene geschildert wird, liegt eine besondere Form des historischen Präsens”vor: das szenische Präsens”.

Manche Schriftsteller verwenden in ihren Texten, die Vergangenes erzählen, überhaupt nur das Präsens. Dieses Präsens heißt dann episches Präsens”.

Das historischePräsens” wird aber auch verwendet, um historische Ereignisse, die der Vergangenheit angehören, wiederzugeben. Es kommt auch in den Schlagzeilen der Zeitungen vor.

Im Deutschen hat das Präsens auch die Bedeutung des Futurs. Um dies deutlicher zu machen, wird meistens ein Wort hinzugefügt, das die Zukunft bezeichnet, wie z.B. bald”, morgen”, in zwei Monaten” usw..

Ich komme, wenn ich fertig bin.

2.1.3.2 Das Präteritum

Das Präteritum bezeichnet Vergangenes, das zum Zeitpunkt des Sprechens beendet und abgeschlossen ist. Der Sprecher hat keine unmittelbare Beziehung zu dem Vergangenen, oder er hat sie nicht mehr. Es wird verwendet, um etwas Vergangenes zusammenhängend zu erzählen.

Eine Dame, die sich von dem berühmten Berliner Impressionisten Max Liebermann porträtieren ließ, fragte besorgt, ob das Portrait auch wirklich ähnlich sein werde. Ich male Sie ähnlicher, als Sie es sind!" versprach Liebermann.

 Salcia Landmann

Das Präteritum ist auch das Grundtempus in der erlebten Rede”.

Eine Welle von Schwäche stieg von seinen Knien auf, wurde fast zur Übelkeit. Das hätte ihm gerade gefehlt, angefahren zu werden und auf der Straße zu liegen, eine gaffende Menge und dann die Polizei. Er durfte jetzt nicht schwach werden, nur weiterlaufen zwischen den vielen auf der hellen Straße ... Seit drei Monaten war er zum erstenmal wieder in der Stadt, zum erstenmal wieder unter so viel Menschen. Ewig konnte er in dem Loch sich ja nicht verkriechen, er musste einmal wieder raus, ...

 aus: Herbert Malecha, "Die Probe"

2.1.3.3 Das Perfekt

Wie das Präteritum drückt auch das Perfekt Vergangenes aus. Es wird jedoch nicht dazu benutzt, um Vergangenes zusammenhängend zu erzählen. Es ist ein vollendetes Geschehen in der Gegenwart des Sprechers und drückt meist ein Resultat aus.

Ich habe den Aufsatz beendet.

Er hat das Fenster zugemacht.

Ich habe dich gestern gesehen

Da in vielen deutschen Dialekten nur das Perfekt als Zeit der Vergangenheit existiert, werden Perfekt und Präteritum im Deutschen häufig nicht genau unterschieden. Das Perfekt hat auch noch andere Verwendungsweisen: Es kann z.B. die Zukunft bezeichnen und drückt dabei eine große Dringlichkeit aus.

Bis morgen habt ihr die Wörter gelernt.

Aber dies ist relativ selten.

2.1.3.4 Das Plusquamperfekt

Das Plusquamperfekt dient dazu, die Vorzeitigkeit auszudrücken. Etwas, was in der Vergangenheit passierte, wird im Präteritum erzählt und was davor geschah, im Plusquamperfekt.

 

Tarabas war der Sohn einer begüterten Familie. Er hatte in Petersburg die Technische Hochschule besucht.

aus: Joseph Roth, "Tarabas"

2.1.3.5 Das Futur I

Das Futur I kann dazu benutzt werden, um die Zukunft ganz deutlich anzugeben, vor allem, wenn eine feste Absicht ausgedrückt werden soll.

Ich werde das tun.

Es kann eine Vermutung oder Erwartung ausdrücken, häufig für die Gegenwart.

Er wird wohl in der Schule sein. (Er ist wahrscheinlich dort)

Jetzt wirst du endlich nach Hause kommen.

2.1.4 Der Modus (Pl. Modi)

In den folgenden Ausführungen soll nur an die Grundfunktionen der Modi erinnert werden, da sie in den Grammatiken ausführlich abgehandelt werden. Im Deutschen gibt es drei Modi: den Indikativ, den Konjunktiv und den Imperativ.

2.1.4.1 Der Indikativ

Der Indikativ drückt aus, dass etwas wirklich und tatsächlich ist. Er ist eigentlich der Normalmodus.

2.1.4.2 Der Konjunktiv

Der Konjunktiv wird nur bei bestimmten Gelegenheiten verwendet. Dabei dient der Konjunktiv I meistens nicht als echter Modus, sondern zur Kennzeichnung der indirekten Rede. Der Konjunktiv I in Hauptsätzen kommt nur selten vor. Am wichtigsten ist der Konjunktiv II / das Konditional. Dadurch werden die Irrealität oder die Möglichkeit ausgedrückt.

     Ich führe gern nach Indien. (Ich würde gern nach Indien fahren.)

2.1.4.3 Der Imperativ

Der Imperativ drückt eine direkte Aufforderung aus (Bitte, Wunsch, Befehl).

2.1.4.4 Die Modalverben und Modaladverbien

In diesem Zusammenhang sei an die Funktion der Modalverben und Modaladverbien erinnert, die die Aussage eines Satzes in puncto Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit, Sicherheit, Höflichkeit entscheidend verändern können.

2.1.5 Das „genus verbi”(Pl. die Genera)

Im Deutschen gibt es zwei Genera des Verbs:  das Aktiv und das Passiv.

2.1.5.1 Das Aktiv

Das Aktiv betont das Subjekt als Täter einer Handlung; es hebt hervor, dass das Subjekt der Urheber eines Geschehens ist und sein Handeln auf ein Objekt richtet. Dies gilt natürlich nur für die Verben, die ein Passiv bilden können.

Peter wäscht die Kirschen.

2.1.5.2 Das Passiv

Beim Passiv sind . zwei Formen zu unterscheiden: das Vorgangspassiv und das Zustandspassiv. Beim Vorgangspassivwird, falls nicht ausdrücklich durch den Zusatz von”eine Angabe erfolgt, der Täter der Handlung nicht genannt; der Vorgang steht im Zentrum. Vielleicht will man bewusst vermeiden, dass der Täter der Handlung genannt wird, oder vielleicht ist er unbekannt.

Die Kirschen werden gewaschen.

Das Zustandspassivgibt uns den Zustand eines Subjekts an, das zuvor einer Handlung unterworfen wurde. Es zeigt ein bleibendes Resultat.

Die Kirschen sind gewaschen.

2.1.6 Die infiniten Formen des Verbs

Die infiniten Formen (ohne Personenbezeichnungen) des Verbs sind der Infinitiv und die beiden Partizipien.

2.1.6.1 Das Partizip

Im Deutschen gibt es das Partizip I und das Partizip II. Das Partizip Ikann nicht als prädikative Ergänzung benutzt werden. Es gibt also nicht:(P. is dancing): Es kann nur als Attribut oder adverbiale Bestimmung verwendet werden. Es drückt aus, dass das mit dem Verb genannte Geschehen verläuft, und zwar in einem stark aktiven Sinn. Es wirkt sehr dynamisch.

der lachende Himmel

Er verabschiedete sich lachend.

Das Partizip II hat stark passive Bedeutung.

der bedeckte Himmel

die zerstörte Stadt

Die Stadt wurde stark zerstört verlassen.

Bei beiden Partizipien ist die Trennungslinie zum Adjektiv manchmal sehr schwer, da viele Partizipien zu echten Adjektiven geworden sind.

2.1.6.2 Der Infinitiv

Abgesehen von seinen rein grammatikalischen Funktionen drückt der Infinitiv einen sehr strikten, sogar unhöflichen Befehl aus.

     Reinkommen!

2.1.7 Der Artikel

Es gibt im Deutschen den bestimmten Artikel „der/das/die”und den unbestimmten Artikel „ein/eine”.

2.1.7.1 Der bestimmte Artikel

Häufig hat der bestimmte Artikel die Funktion, auf etwas ganz Bestimmtes hinzuweisen, auf etwas, was etwas Besonderes ist; es ist sozusagen der Zeigefinger dabei. Etwas Bekanntes wird angegeben. Das führt sogar dazu, dass der Artikel „der/das/die”zum Demonstrativpronomen wird, das in der gesprochenen Sprache durch die besondere Betonung als solches erkennbar wird.

Der Aschenbecher ist verschwunden.

In diesem Beispiel ist ein ganz bestimmter Aschenbecher gemeint. Der Unterschied zum unbestimmten Artikel wird durch einen Vergleich deutlich:

Ein Aschenbecher ist verschwunden (andere Gegenstände nicht).

Der bestimmte Artikel kann aber auch dazu dienen ( im Gegensatz z.B. zum Englischen), etwas

Allgemeingültiges und Allgemeines anzugeben.

Der Mensch ist sterblich.

Das Auto ist eines der wichtigsten Transportmittel der Gegenwart.

Man muss sich daher bei der Interpretation von Texten, speziell von Gedichten, sehr genau überlegen, welche Funktion auffällige bestimmte Artikel besitzen.

2.1.7.2 Der unbestimmte Artikel

Der unbestimmte Artikel dient dazu, aus einer Menge von Erscheinungen/ Dingen ein Phänomen besonders hervorzuheben (vgl. das Beispiel in 1.1.2.1).

2.1.8 Das Substantiv

Die Substantive können von ihrer Bedeutung her in zwei Gruppen unterteilt werden: in die Konkreta und die Abstrakta.

2.1.8.1 Die Konkreta (Pl.),(Sg. ein konkretes Substantiv)

Die Konkreta sind Substantive, die in der Welt erkennbare Dinge bezeichnen:

Haus, Treppe, Dachboden, Mädchen, Mechaniker

Zu den Konkreta gehören:

Eigennamen: „Peter Bichsel”, „Berlin”

Gattungsnamen: Sie bezeichnen Personen, Tiere, Pflanzen, Gegenstände. Sie bilden die größte Gruppe der

     Substantive: „Kind”, „Hund”, „Telefon”

die Kollektiva (P1.), (Sg. ein kollektives Substantiv): Sie drücken eine Vielheit von Personen, Tieren,

     Pflanzen, Gegenständen aus. Mit ihnen kann ein einzelnes Ding nicht bezeichnet werden.

„Familie”, „Wald”, „Gebirge”

Stoffbezeichnungen: „Holz”, „Wolle”, „Milch”

2.1.8.2 Die Abstrakta (P1.), (Sg. ein abstraktes Substantiv)

Die Abstrakta sind Substantive, die etwas bezeichnen, was in der Wirklichkeit nicht als Gegenstand vorkommt:

„Frieden”, „Ehrlichkeit”, „Nähe”, „Begriff”

Da Abstrakta durch Substantivierungen von Infinitiven, Adjektiven und anderen Wortarten gebildet werden können, ist ihre Gruppe im Deutschen fast unbegrenzt. Wenn sie in großer Menge in einem Text auftauchen, können sie so abstrakt wirken, dass das Verständnis des Textes erschwert wird. Sie werden gewählt, um möglichst konzentriert Sachverhalte darzustellen. Man findet sie daher besonders häufig in juristischen Texten oder in amtlichen Texten. Sie sind daher für das sogenannte Amts-deutsch” typisch. Die für Deutsche bequeme Substantivierung von Verben und Adjektiven heißt „Nominalstil” ‑ sie gilt aber bis heute als stilistisch nicht besonders schön; denn häufig ist für den Nominalstil nur die Unfähigkeit verantwortlich, einen besseren Ausdruck zu finden. Erscheint also in einem Text in auffälligem Maße Nominalstil, so ist das im Allgemeinen ein Hinweis darauf, dass Amtsdeutsch vorliegt oder wiedergegeben werden soll.

Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, dass er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird wegen Betrugs mit Gefängnis bestraft, ...

§ 263 des deutschen Strafgesetzbuchs

2.1.8.3 Analyse von Substantiven bei einer Interpretation

Bei einer Interpretation kann nicht nur die Klassifizierung von Substantiven in Konkreta und Abstrakta möglicherweise Hinweise für die Interpretation liefern, sondern ein weiterer Gesichtspunkt liefert häufig mehr Ergebnisse: die Untersuchung, aus welchem Bereich oder aus welchen Bereichen die Substantive stammen. So kann man sich z.B. fragen, ob die Substantive in auffallender Weise sich auf die Natur, Technisches, Gefühle, Sinnesempfindungen usw. beziehen und damit etwas über die Eigenart des Textes aussagen. Wie das funktioniert, muss an verschiedenen Texten eingeübt werden.

Die Autos auf der Straße waren zu einer langen Kette aufgefahren. Nur stockend schoben sie sich vorwärts. Menschen gingen an ihm vorbei‑, kamen ihm entgegen; er achtete darauf, dass sie ihn nicht streiften. Einem Platzregen an Gesichtern war er ausgesetzt, fahle Ovale, die sich mit dem wechselnden Reklamelicht verfärbten. Redluff strengte sich an, den Schritt der vielen anzunehmen, mitzuschwimmen in dem Strom. Stimmen, abgerissene Gesprächsfetzen schlugen an sein Ohr, jemand lachte. Für eine Sekunde haftete sein Blick an dem Gesicht einer Frau, ihr offener, bemalter Mund sah schwarz  gerändert aus. Die Autos fuhren jetzt an, ihre Motoren summten auf. Eine Straßenbahn schrammte vorbei. Und wieder Menschen, Menschen, ein Strom flutender Gesichter, Sprechen und hundertfache Schritte.

aus: Herbert Malecha, Die Probe”

In dieser Textstelle wird dargestellt, wie Redluff das für ihn seit längerer Zeit ungewohnte Großstadt-leben erfährt:

Autos, zu einer langen Kette aufgefahren, Reklamelicht, Motoren summten auf, Straßenbahn

mehrfache Wiederholung von Menschen”; Metapher „Strom”; Metapher „Platzregen von Gesichtern”

fahle Ovale, Stimmen, Gesprächsfetzen, flutende Gesichter, Sprechen, Schritte usw.

moderne Großstadt mit viel Verkehr und Reklame usw.; Bedeutung von „Kette”?

Menge der Menschen, die Redluff mitreißt (Metaphorik aus dem Bereich des Wassers: elementare Bedrohung usw.)

akustische und visuelle Sinneswahrnehmungen, ungenaue Wahrnehmungen usw.

2.1.9 Das Adjektiv

Wie der deutsche Begriff Eigenschaftswort” besagt, bezeichnet das Adjektiv Eigenschaften.

die schöne Stadt, die Stadt ist schön, die schrecklich schöne Stadt, er kam gut aus der Stadt zurück”

An diesen Beispielen zeigt sich, dass das Adjektiv im Satz unterschiedliche Funktionen erfüllen kann: Es kann Attribut, Prädikatsnomen (prädikative Ergänzung) und Adverbiale sein.

Das Adjektiv kann stilistisch Folgendes leisten:

Es kann eine unpersönliche, objektive Charakteristik liefern, z.B. bei der Beschreibung von Gegenständen, Pflanzen, Tieren:

ein großer Stuhl, eine rote Blume, eine volle Tasche

Es kann Merkmale bezeichnen, die eigentlich im Substantiv enthalten sind:

ein tapferer Held, eine schöne Frau

Wenn es so gebraucht wird, ist es typisierend. Es wird vor allem in älterer Dichtung gebraucht. Dort ist es zum Beispiel selbstverständlich, dass eine (Edel‑) Frau immer schön ist.

Es kann individualisierend wirken, d.h., es kann gerade das Besondere aus der Sicht des Autors bezeichnen, besonders, wenn es metaphorisch verwendet wird. Das individualisierende Adjektiv dient hauptsächlich zur Schilderung von Sinneseindrücken.

fahle Ovale, weiche Nebel, der silberne Strom

Das Adjektiv kann Gefühle und Stimmungen erzeugen:

die schmerzliche Süßigkeit des Gedankens, der träumerische Mond

Vor allem in der Romantik wird das Adjektiv so verwendet; einer der Kernbegriffe ist dort das Adjektiv wunderbar: wunderbare Einsamkeit

Das Adjektiv kann ein Urteil und eine Wertung aussprechen:

ein schlechter Charakter, die unvergleichliche Schönheit

Es gibt noch weitere Differenzierungsmöglichkeiten. Insgesamt ist festzuhalten, dass der Gebrauch der Adjektive fließend ist und keineswegs so eindeutig wie in dieser Aufstellung. Für die Stilistik wird das Adjektiv auch durch eine grammatikalische Eigenschaft wichtig: Es kann gesteigert werden. Die meisten Adjektive können den Komparativ und den Superlativ und den Elativ (eine sehr schöne Stadt&)bilden: Wie der Elativ zeigt, können Steigerungen auch durch Umschreibungen gebildet werden wie:

„sehr”, „allzu”, „äußerst”, „höchst”, „besonders”, „ungemein” usw.

Bei einer Interpretation ist besonders darauf zu achten, welche Funktion der häufige Gebrauch von Superlativen in einem Text hat. (vgl. Sprache der Werbung)

Wie bei den Substantiven kann man bei den Adjektiven auch eine Klassifizierung nach dem Bereich, den sie bezeichnen, versuchen, z.B. Farbadjektive, Adjektive, die Akustisches bezeichnen usw..

2.1.10 Die Pronomina

Das Pronomen vertritt ein Substantiv oder es begleitet ein Substantiv.

2.1.10.1 Das Personalpronomen

Für die Stilistik ist vor allem der Unterschied zwischen „du”/ „ihr” und dem Distanzpronomen „Sie” wichtig. Im deutschen Sprachbereich spielt der Unterschied beider Anredeformen bis heute eine große Rolle (vgl. die Verben: „duzen”, „siezen”. „Du”/ „ihr” wird in der Familie, unter Freunden und von Jugendlichen untereinander gebraucht; Erwachsene duzen Kinder. Bei der Analyse von Texten muss man daher sehr genau darauf achten, welche Anrede gewählt wird, sagt sie doch viel über das Verhältnis des Sprechers zum Angesprochenen aus. Zur Zeit des Absolutismus wurde jemand aus dem Volk und aus dem Bürgertum von Höhergestellten übrigens nur mit „Er” angesprochen.

Auch das Personalpronomen „wir” kann außer der Bezeichnung einer echten „Wir‑„Gruppe” auch noch anderes beinhalten: Dadurch kann der Eindruck einer gar nicht vorhandenen Zusammengehörigkeit suggeriert werden, die mit Herablassung verbunden sein kann oder mit pädagogischer Absicht:

Erwachsener zu einem Kind, das Papier auf den Boden geworfen hat: „Werfen wir denn Papier auf den Boden?" - Ein Polizist in der früheren DDR zu einem westdeutschen Autofahrer, der falsch gefahren ist: „Aber wie fahren wir denn in der DDR?”

Es gibt auch noch den „pluralis majestatis”, der früher von Fürsten verwendet wurde.

     „Wir, Wilhelm, von Gottes Gnaden deutscher Kaiser...”

In stilistischer Hinsicht sind die Personalpronomina in einem merkwürdigen Punkt für deutsche Texte interessant. Ende des 19. Jahrhunderts bildete sich eine seltsame Redeweise im Kreise der preußischen Offiziere heraus, die auch die Redeweise der preußischen Beamten beeinflusste und somit zu einer soziologisch bedingten Eigentümlichkeit wurde. Man wollte sich nämlich möglichst kurz und militärisch ausdrücken und ließ deshalb beim Verb die Personalpronomina oder auch die Hilfsverben weg, sodass im Extremfall nur in Partizipien oder sogar nur in Infinitiven gesprochen wurde. Zur Darstellung der Redeweise von typischen Preußen oder der Oberschicht erscheint dieses Phänomen nicht selten in Texten, die sich mit dem Kaiserreich beschäftigen. Auch bei Brecht findet man noch so etwas zur Charakteristik der Oberschicht anderer Länder:

     Bin verfolgt. Bitte um ungeteilte Aufmerksamkeit, mache Proposition.

Der Flüchtling (er ist der Großfürst) in B. Brecht, „Der kaukasische Kreidekreis”

2.1.10.2 Das Demonstrativpronomen

Das Demonstrativpronomen weist besonders nachdrücklich, sozusagen mit dem Zeigefinger, auf ein Ding oder Wesen hin. Dieses wird dadurch besonders hervorgehoben.

„der, die, das” (in der gesprochenen Sprache besonders betont)/ „dieser”, „jener”, „derselbe”, „solcher”, „selbst”

2.1.10.3 Das Indefinitpronomen

Pronomina wie „jemand”, „etwas”, „alle”, „kein”, „niemand”, „nichts” haben eine allgemeine und unbestimmte Bedeutung. Der Sprecher gebraucht sie, wenn er Personen/Dinge nicht näher bezeichnen will oder nicht bezeichnen kann. Vor allem „jemand”, „niemand” und „man” sind Indefinitpronomina, deren Gebrauch in Texten man genau analysieren muss.

2.1.11 Die Konjunktion

Die Konjunktionen (Hauptsatz‑ und Nebensatzkonjunktionen) dienen in besonderem Maße dazu, einen Gedankengang logisch zu ordnen. Ein Text, in dem Konjunktionen in starkem Maße auftreten, weist also darauf hin, dass sein Verfasser besonders logisch vorzugehen versucht und über ein hohes Maß an Rationalität verfügt. Er ist also stark von der Vernunft geprägt und kann selbständig Beziehungen zwischen Vorgängen und Erscheinungen herstellen. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die kausalen, finalen, konsekutiven, konzessiven und modalen Konjunktionen. Fehlen in einem Text diese Konjunktionen, so muss man sich fragen, was der Autor erreichen will.

2.1.12 Die Interjektion

Interjektionen sind Lautgebilde, mit denen Empfindungen, Aufforderungen oder Laute nachgeahmt werden.

     au!”, ah!”, pfui!”, oh!”, ätsch!”, na!” usw., miau”, blubb”

2.2 Gesichtspunkte der Syntax (Adj.: syntaktisch)

Obwohl es schon schwierig ist, die Wortarten sinnvoll zur Interpretation eines Textes heranzuziehen, ist es weitaus schwieriger, Phänomene, die das Aussehen und die Funktion der einzelnen Wörter im Satz betreffen, klar zu deuten, da der Kontext des einzelnen Textes noch wichtiger wird. Man kann deshalb noch weniger sicher eine Betriebsanleitung” zur Interpretation geben. Außerdem muss man zunächst einige grammatikalische Punkte verstehen, die bei einer Interpretation zunächst wenig Hilfe bieten, daher auch reine Grammatik zu sein scheinen.

2.2.1 Die Satzarten

Wenn wir die Sätze nach Satzarten unterscheiden, so heißt das, dass wir uns überlegen, was ein Sprecher mit seinen Sätzen erreichen will. Nach der traditionellen Grammatik gibt es drei Satzarten, die die Absicht des Sprechers ganz grob erkennen lassen: den Aussagesatz, den Wunsch‑ und Aufforderungssatz und den Fragesatz. Das Aussehen eines Textes kann schon entscheidend davon bestimmt sein, welche dieser drei Satzarten vorwiegt oder überhaupt auftritt.

2.2.1.1 Der Aussagesatz

Der Aussagesatz stellt die Normalform der Satzarten dar. Etwas wird festgestellt oder behauptet.

Der Himmel ist blau. Alle Leute sind fröhlich. Sie fahren weg.

Eine Sonderform des Aussagesatzes ist der Ausrufesatz”. In ihm wird nicht sozusagen objektiv etwas festgestellt oder behauptet, sondern der Sprecher will sein subjektives Empfinden in puncto Bewunderung oder Erstaunen ausdrücken.

Der Himmel ist so blau! Und alle Leute sind fröhlich!

Tauchen also in einem Texte viele Ausrufesätze auf, so kann man sagen, dass der Sprecher irgend-welche Gefühle äußern will. So kann der Sprecher sich auch beklagen. Die Variationsbreite des Ausrufesatzes ist also groß.

Hätt‘ ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwecke meiner Spaziergänge wählte, dass es so nahe am Himmel läge! Wie oft habe ich das Jagdhaus, das nun alle meine Wünsche einschließt, auf meinen weiten Wanderungen, bald vom Berge, bald von der Ebne über den Fluss gesehen! .

Ich soll, ich soll nicht zu mir selbst kommen! wo ich hintrete, begegnet mir eine Erscheinung, die mich aus der Fassung bringt. Heute! o Schicksal! o Menschheit!

aus: Goethe, Die Leiden des jungen Werther”

2.2.1.2 Der Fragesatz

Der Fragesatz scheint zunächst ganz unproblematisch zu sein, da in einem Fragesatz zunächst nur eine Frage gestellt wird. Man kann aber mit einer Frage unterschiedliche Absichten verfolgen:

Mit den W‑Fragen (wer? wo? wann? wie? usw.) will man etwas wissen.

Es gibt aber auch die Entscheidungsfragen, in denen jemand zu einer Entscheidung gezwungen wird.

Kommst du heute?

Außerdem wird der Fragesatz dadurch kompliziert, das man untersuchen muß, ob eine echte Frage oder eine rhetorische Frage (s. Teil Stilfiguren) vorliegt.

2.2.1.3 Der Wunsch‑ und Aufforderungssatz

Auch diese Satzart hat eine große Variationsbreite. Sie reicht von der höflich fragenden Bitte bis zum schroffen Befehl und kann Verärgerung, Zorn, Rücksichtslosigkeit, Höflichkeit, Servilität beinhalten. Häufig werden Modalverben und der Konjunktiv verwendet.

Gott helfe ihm! Machen Sie endlich Schluss! Lass das doch endlich sein!

2.2.2 Satzformen

Man kann Sätze auch nach ihrer Form untersuchen. Grundsätzlich ist dabei die Unterscheidung von Haupt‑ und Nebensätzen wichtig. Zu den Nebensätzen werden auch die satzwertigen Partizipien und Infinitive gerechnet. Die einfachste Satzform, die auch jedes Kind zuerst lernt, ist der einfache Satz. Außerdem gibt es den zusammengesetzten Satz.

2.2.2.1 Der einfache Satz

Der einfache Satz enthält nur ein Verb und ist immer ein Hauptsatz.

Das Eigenheim steht in einem Garten. Der Garten ist groß. Durch den Garten fließt ein Bach. ...

aus: H.M. Novak, #8222;Schlittenfahren”

2.2.2.2 Der zusammengesetzte Satz

Der zusammengesetzte Satz besteht aus unterschiedlichen Formen: aus einer Parataxe (Satzreihe) oder einer Hypotaxe (Satzgefüge).

2.2.2.2.1 Die Parataxe (Adj. parataktisch)

Die Parataxe besteht aus mehreren Hauptsätzen, von denen jeder für sich allein stehen könnte, d.h., es liegen aneinander gereihte Sätze vor.

Es war das wunderbare Paradies. Die Wasser wimmelten von Fischen, aus dem Boden sprossen Bäume, die Tiere spielten, Landtiere, Seetiere und Vögel.

aus: Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz”

Die Parataxe kann unterschiedlich verknüpft werden: Die Teilsätze der Parataxe können syndetisch (mit Konjunktionen) oder asyndetisch (ohne Konjunktionen) verbunden sein. Die stilistischen Wirkungen sind sehr unterschiedlich. Der Begriff der #8222;asyndetischen Reihung”bzw. der syndetischen Reihung” und der #8222;polysyndetischen Reihung” (bei mehr als zwei Teilen) wird übrigens nicht nur auf Satzverknüpfungen angewendet, sondern auch auf Wortverknüpfungen.

Die asyndetische Reihungkann eine ruhige, sachliche Aufzählung sein.

Ich fahre nach Stuttgart, Frankfurt, Hamburg.

Sie kann jedoch auch sehr emotional und bewegt, sehr dynamisch wirken. Sie war vor allem in der Barockdichtung sehr beliebt.

Freuderfüller, Früchtebringer, vielbeglückter Jahreskoch,
Grünung‑, Blüh‑ und Zeitungziel, werkbeseeltes Lustverlangen!

aus: Catharina Regina v. Greiffenberg, „Auf die fruchtbringende Herbstzeit”

Die Türme stehn in Glut, die Kirch ist umgekehret,
das Rathaus liegt im Graus. Die Starken sind zerhaun.
die Jungfern sind geschändt . .....

aus: Andreas Gryphius, #8222;Tränen des Vaterlands”

Die asyndetische Reihung innerhalb der Parataxen und zwischen den Parataxen hat in diesem Beispiel die Funktion, die schrecklichen Ergebnisse des Dreißigjährigen Kriegs eindrücklich zu unterstreichen und kommentarlos hervorzuheben.

Die polysyndetische Reihung vermittelt den Eindruck der Zusammengehörigkeit der Teile. Dadurch wird die Spannung verstärkt und es entsteht der Eindruck der Pausenlosigkeit.

Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!
Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun,
das vom Blut fette Schwert, die donnernde Kartaun
hat aller Schweiß und Fleiß und Vorrat aufgezehret.

aus: Andreas Gryphius, „Tränen des Vaterlands”

2.2.2.2.2 Die Hypotaxe (das Satzgefüge)

Ein Satzgefüge besteht aus mindestens einem Hauptsatz und einem Nebensatz und kann zu einer komplizierten Periode werden, falls mehrere Haupt‑ und Nebensätze vorliegen.

2.2.3 Die stilistische Auswertung der Satzlängen

Der Gesichtspunkt der Satzlänge muss im Zusammenhang mit Punkt 1.2.2 „Satzformen” gesehen werden. Bei einer Interpretation muss man zunächst darauf achten, was für Satzformen in einem Text vorwiegend verwendet werden und welche Satzlängen für den Text mehrheitlich kennzeichnend sind. Dann kann man auch untersuchen, ob an entscheidenden Stellen Veränderungen feststellbar sind oder – andersherum, ob auffällige Veränderungen Hinweise darauf geben, dass etwas besonders hervorgehoben werden soll.

2.2.3.1 Kurze Sätze

Man bezeichnet als kurze Sätze solche Sätze, die nur aus wenigen Satzteilen bestehen oder nur ein einfaches Satzgefüge sind. Die stilistische Aussagekraft ist unterschiedlich. Sie sind übersichtlich und können nüchtern, sachlich, auch unbeteiligt wirken.

Im August des Jahres neunzehnhundertvierzehn lebte in New York ein junger Mann namens Nikolaus Tarabas. Er war der Staatsangehörigkeit nach Russe. Er entstammte einer jener Nationen, die damals noch der große Zar beherrschte und die man heute als „westliche Randvölker” bezeichnet. Tarabas war der Sohn einer begüterten Familie. Er hatte in Petersburg die Technische Hochschule besucht. Weniger aus echter Gesinnung als infolge der ziellosen Leidenschaft seines jungen Herzens schloss er sich im dritten Semester seiner Studien einer revolutionären Gruppe an, die sich einige Zeit später an einem Bombenattentat gegen den Gouverneur von Cherson beteiligte. Tarabas und seine Kameraden kamen vors Gericht. Einige von ihnen wurden verurteilt, andere freigesprochen.

aus: Joseph Roth, #8222;Tarabas”

Kurze Sätze überwiegen in bestimmten Gattungen, die eher volkstümlich sind: in Märchen, Sagen, Fabeln, Legenden, Volksliedern usw.. Seit dem Naturalismus werden sie aber auch bewusst von vielen Schriftstellern gewählt; allerdings wird ‑ je nach Epoche ‑Unterschiedliches mit ihnen zum Ausdruck gebracht:

Z. B. im Naturalismus:

Plötzlich waren sie beide erschrocken zusammengefahren! Das Bett hatte diesmal ganz deutlich geknarrt. Ein unruhiges Rauschen. Ein Stöhnen. Bleischwer hatte es auf das bauschige Deckbett geklappt. Atemlos starrten die beiden hin...

aus: A. Holz/J. Schlaf, #8222;Ein Tod”

Nach dem naturalistischen Konzept des #8222;Sekundenstils” sollen #8222;Erzählzeit”und #8222;erzählte Zeit” zusammenfallen. Die Sätze können deshalb auch nur so lang sein wie die dargestellten Vorgänge.

Z.B. im Expressionismus:

Da ergriff ihn das Gewühl des Daseins mit einer tobenden Berauschtheit. Er fühlte sich von heißer Erregung in starre Kälte geschleudert und dann von neuem beißender Hitze entgegengeworfen. In seiner Brust wütete ein Orchester, Orgeln brannten auf und in langen, grausamen Voluten hoben sich die Bläser zu einem furchtbaren Stoß.

aus: Kasimir Edschmid, Der tödliche Mai”

Die kurzen Sätze sollen hier ekstatisches Erleben spiegeln.

Z.B. in der Trümmerliteraturf” nach dem II. Weltkrieg:

Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne. Staubgewölke flimmerte hier zwischen den steilgereckten Schornsteinresten. Die Schuttwüste döste. Er hatte die Augen zu. Mit einmal wurde es noch dunkler. ...

aus: Wolfgang Borchert, Nachts schlafen die Ratten doch”

Kurze Sätze sind hier Ausdruck einer ‑ durch das Kriegsgeschehen bedingt ‑ dissonanten Welt, die sich mit der Vernunft einer durchkonstruierten Satzperiode nicht mehr wiedergeben lässt.

2.2.3.2 Lange Sätze, die aus vielen Satzteilen bestehen

Lange Sätze können dadurch entstehen, dass ein einfacher Satz durch viele Satzteile erweitert wird. Der Sprecher will viele Aussagen in einen einzigen Satz pressen. Diese Erscheinung findet man häufig in Pressemeldungen, juristischen Texten und in politischen Texten häufig gekoppelt mit Nominalstil. Solche Sätze wirken häufig sehr unübersichtlich. Sie werden oft auch in der wissenschaftlichen Sprache verwendet.

Das 18. Jahrhundert mit seinen außerordentlich reichhaltigen geistigen Bewegungen kann unter anderem gekennzeichnet werden als ein Jahrhundert, das durch die Frage nach der Methode der Erkenntnis bestimmt ist. Der mit dem aufklärerischen Anspruch auf die Veränderung der Gesellschaft durch Wissenschaft verbundene enge Zusammenhang von Entwicklung und Ausbreitung des Wissens gibt der Frage nach der Methode eine doppelte Dimension.

aus: Erika Hültenschmidt, „Tendenzen und Entwicklungen der Sprachwissenschaft um 1800”

2.2.3.3 Lange Sätze, die aus komplizierten Satzgefügen bestehen

Lang hypotaktische Perioden waren bis in unser Jahrhundert hinein sehr beliebt. In den letzten Jahrzehnten sind sie eher aus der Mode gekommen.. Sie kommen daher vor allem in älterer Dichtung vor.

In einem bei Jena liegenden Dorf, erzählte mir, auf einer Reise nach Frankfurt, der Gastwirt, dass sich mehrere Stunden nach der Schlacht, um die Zeit, da das Dorf schon ganz von der Armee des Prinzen von Hohenlohe verlassen und von Franzosen, die es für besetzt gehalten, umringt gewesen wäre, ein einzelner preußischer Reiter darin gezeigt hätte, und versicherte mir, dass, wenn alle Soldaten, die an diesem Tage mitgefochten, so tapfer gewesen wären wie dieser, die Franzosen hätten geschlagen werden müssen, wären sie auch noch dreimal stärker gewesen, als sie in der Tat waren.

aus: Heinrich v. Kleist, „Anekdote aus dem letzten preußischen Krieg”

Solche Sätze setzen voraus, dass der Autor die Fülle der Informationen zu kontrollieren versteht und sie zu einer Einheit verschmilzt.

2.3 Stilwerte des Wortschatzes

2.3.1 Zeitbedingte Wörter

Da die Sprache das Produkt einer langen Entwicklung ist, ist der Wortschatz zeitlichen Einflüssen unterworfen. Das heißt unter anderem, dass gewisse Wörter veralten und dass neue Wörter in der Sprache auftauchen.

2.3.1.1 Archaismen (Sg.‑r Archaismus)

Archaismen sind solche Wörter, die in der heutigen Sprache nicht mehr benutzt werden, die jedoch noch verstanden werden. Solche Wörter können von Schriftstellern mit unterschiedlicher Intention reaktiviert werden, z.B. um etwas ironisch darzustellen oder um ein bestimmtes Zeitkolorit zu erreichen. In seinem Roman „Der Erwählte”, der auf ein mittelalterliches Versepos zurückgeht, benutzt Thomas Mann die Archaismen virtuos, um sowohl Zeitkolorit wie auch Ironie zu erreichen.

Vor Zeiten war ein Herzog in Flandern und Artois, Grimald mit Namen. Sein Schwert hieß Eckesachs. Sein kastilianisch Leibroß war Guverjoß genannt. Geborgener schien kein Fürst in Gottes Gunst als dieser, und kühnlich ging hin sein Blick über die ihm erblich angestorbenen Lande mit fetten Städten und starken Burgen.

In diesem Text lassen sich nur wenige Wörter finden, die in der heutigen Sprache nicht archaisierend klingen.

In der Zeit des Nationalsozialismus wurden aus ideologischen Gründen viele Archaismen reaktiviert, z.B. „Gau”, „Ostmark” usw.. Sie tauchen daher in Texten, die diese Zeit zum Thema haben, auch wieder auf.

2.3.1.2 Veraltende Wörter

Veraltende Wörter sind solche Wörter, die inzwischen von anderen Wörtern ersetzt worden sind, aber z.B. von der älteren Generation noch benutzt werden, z.B. Schutzmann” statt Polizist”. Solche Wörter können natürlich von Autoren mit bestimmter Intention eingesetzt werden. In diesem Bereich ist alles fließend.

2.3.1.3 Neologismen

Neologismensind Wörter, die in der Sprache neu erscheinen. Häufig sind es die Schriftsteller selbst, die neue Wörter prägen, die dann allerdings nur in einem speziellen 'Werk erscheinen. Man spricht dann von einer Neubildung”. Der Charakter der deutschen Sprache erleichtert Neubildungen.

2.3.2 Wörter aus Fachsprachen

Man bezeichnet als Fachsprache solche Wörter, die im Zusammenhang mit einem spezifischen Beruf gebraucht werden. In Deutschen sind viele Begriffe aus der Bergmannssprache in die allgemeine Sprache vorgedrungen.

2.3.3 Sprachebene

Für einen Text kann auch die Sprachebene /das Register wesentlich sein, die für ihn gewählt wurde.

Beispiel aus: Erika Runge, „Bottroper Protokolle”

Wenn mein Mann mal Frühschicht hat, stehen wir um 5 Uhr auf, um 6 Uhr fängt die Frühschicht an, wenn er normale Frühschicht hat. Um 1/2 6 Uhr geht er ausm Haus. Wo ich den Kleinen noch nicht hatte, den Martin, hab ich mich noch hingelegt bis 1/2 7 immer, dann bin ich auch aufgestanden, wegen die beiden, Ralph und Simone. Ja, und jetzt muss ich auch aufbleiben, weil um 6 Uhr der Kleine kommt, den hab ich auch um 1/2 7 fertig, und dann kommt er raus, der Große, der wacht von alleine auf. Und denn zieh ich ihn an, und wenn ich ihn angezogen hab, dann mach ich eben noch mal was andres, dann ist die schon wieder da. Na, dann tun wir zusammen Frühstück essen, dann bring ich den Ralph jetzt zum Kindergarten....

Kennzeichen: fehlende Konjunktionen, Grammatikfehler, geringes Vokabular, wenig differenziertes Vokabular usw.


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