Peter Stamm: Agnes (1998)
in der Kursstufe - ein Erfahrungsbericht mit Unterrichtsvorschlägen
Vorbemerkung: Der Roman war ab 2014 in Baden-Württemberg Abitur-Pflichtleküre, zusammen mit Max Frischs Homo Faber, die thematische Klammer hieß „Identität“. Ich hatte mich über die Entscheidung für diesen Roman gefreut, da ich ihn sehr schätze. Zudem verdient er - im Gegensatz zu den bisherigen Pflichtlektüren - den Namen 'Gegenwartsliteratur' (1998), reizvoll war auch die Tatsache, dass es sich dabei um das Debut-Werk eines noch recht jungen Autors handelte.
Ich habe mir dazu eine ganze Reihe von Unterrichtsideen zurechtgelegt (siehe Mat. 1-11) Ich hegte die Hoffnung, mit dem Roman stärker lebensweltliche Bezüge herstellen zu können, also - mehr als mit den bisherigen Pflichtlektüren - das gemeinsame Lesen von Literatur zu einem persönlichen Erlebnis werden zu lassen. Mit gewissen Abstrichen hat das auch geklappt - wie ich meine (imho). Hier der Aufbau der Unterrichtseinheit in fünf Phasen:
Phase 1: Einstieg und Erwartungshaltung
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Die Hinführung zum Roman erfolgte
a) über das Kennenlernen des Autors, seiner Biografie und seiner Persönlichkeit(Mat.1)
b) über die Beschäftigung mit vier Romananfängen: Untersuchung von Gemeinsamkeiten in Thematik, sprachlicher Gestaltung und deren Wirkung auf uns. (Mat.2)
c) Über gemeinsame Lektüre der ersten Kapitel im Lesekreis (Kapitel 1 - 6: Exposition)
Phase 2: Inhaltssicherung
Die Sicherung des Romaninhaltes und die Erarbeitung eines ersten Werkverständnisses erfolgte in zwei Schritten:
- Erstellung einer Kapitel-Synopse und anhand derselben der Versuch, den Bauplan des Romans zu erstellen. Dabei sollten die Kategorien Exposition, Krise und Katastrophe (?!) zum Einsatz kommen, ebenso die Betrachtung der Zeitstruktur (Rahmen / Prolog / Epilog). (Mat.3)
- Eine Fragestellung, die zu einer Gesamtschau und ersten Überlegungen zur erzähltechnischen Anlage des Romans anregen kann, lautet: „Ist Agnes tot? “ Woraus schließen wir das und könnte es auch anders sein? Diese Fragestellung klingt vielleicht etwas überraschend, die Beschäftigung damit kann aber den Blick für die - dem schnellen Lesen vielleicht noch verborgene - Komplexität des Romanes öffnen. (Mat.4)
Phase 3: Vertiefungen am Text
Nach zwei Wochen Lesezeit und gemeinsamen Leserunden musste ich zur Kenntnis nehmen, dass ein nicht geringer Teil des Kurses den Roman immer noch nicht zu Ende gelesen hatte. Darüber entspann sich ein Gespräch im Kurs: Natürlich wurden auch die vielen Klausuren und ein nicht näher bestimmter Zeitmangel als Begründung angeführt, aufschlussreich und weiterführender waren jedoch die folgenden Gründe:
• der sprachliche Stil ist so anders als das, was man aus der privaten Lektüre gewohnt war.
• interessante Ereignisse/ merkwürdige Begebenheiten werden übergangen, nicht ausgestaltet, auch Dialoge sind nur bruchstückhaft/minimalistisch wiedergegeben
• die beiden Protagonisten bleiben dem Leser fremd, zumindest ist da eine gewisse Distanz, sie werden nicht lebendig oder anschaulich, auch nicht unbedingt sympathisch. Dies gilt zuallererst für den Ich-Erzähler, was zu erwarten war, aber wohl auch für die weibliche Person Agnes.
Fazit: Ein gewisser Sog, der von der Handlung und den Figuren ausgeht, ist zwar zu verspüren, aber schwer zu benennen und reicht auch nicht ganz, um den Leser ganz in den Bann zu ziehen. Es bleibt ein Rest Befremden oder Fremdheit übrig.
Andererseits: Kursteilnehmer finden in diesem Roman auch Stellen und Ereignisse, die ihnen einer Überlegung oder eines Nachdenkens wert sind. Auch sind die Problemlagen und Verhaltensweisen der Protagonisten vielen Schülern nicht fremd oder gleichgültig; diese Problemstellungen müssen aber herausgefiltert und auch ein wenig übersetzt werden
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Solche Stellen bzw. Problemstellungen sind z.B. :
- Symmetrie und Asymmetrie (Kap. 8): Sind wir alle anders oder im Kern ähnlich? Sind Mann und Frau, er und sie, inkompatibel? => Personencharakteristik: Ich-Erzähler und Agnes
- Die Schwierigkeit eine Entscheidung zu treffen: Warum kann der Ich-Erzähler sich nicht zu Agnes und dem Kind bekennen? € individuelle Freiheit oder Bindung und Gemeinsamkeit (hier ist auch Kapitel 7 von Interesse: Ist diese naive Zuversicht der dicken Frau ein Gegenmodell zu Unentschiedenheit des Ich-Erzählers?)
- Glück und Unglück der Single-Existenz => Der Ich-Erzähler, seine Freundinnen, Louise und seine Wohnung im 21. Stockwerk - Agnes, ihre Vergangenheit und ihr Umfeld. (Ausgangspunkt: „Ich kannte kaum jemanden in der Stadt. Niemanden, um genau zu sein.“, S. 15 - „Ich bin kein sehr sozialer Mensch“, S. 20)
- Sinnsuche: Wozu sind wir auf der Welt? Was bleibt von uns? => Stonehenge, Friedhof, Tod.
- Sollen wir den Anderen nach unserer Vorstellung formen? Können wir ohne ein selbst gefertigtes Bild des Anderen auskommen? => Identität und Rolle: Role-making und role-taking (Ausgangspunkt: „In meinem Kopf war unsere Beziehung viel weiter gediehen als in Wirklichkeit.“ S. 17, siehe auch S. 49)
- Natürlich geht auch von der Geschichte in der Geschichte, also von der sich verselbständigenden Erzählung eine gewisse Faszination aus, hier ließe sich prächtig über die Rolle von Literatur und das Verhältnis von Fiktion und Realität nachdenken. Ergiebiger erscheint mir aber, diese Geschichte unter den beiden oben genannten Aspekten zu betrachten: Als Wunsch von Agnes, über sich und den Augenblick hinauszuleben, und als Bedürfnis des Ich-Erzählers, Agnes nach seinem Willen zu formen. Damit liegen der Geschichte zwei gegensätzliche Motive zugrunde: Was bleibt von mir (Agnes)? Und: Wie bemächtige ich mich des Anderen (Ich-Erzähler:„ ...jetzt mein Geschöpf“ S. 61)?
- Problemorientierung statt Struktur- und Motivanalyse!
- Kein Verzetteln im Suchen und Finden von Motiv-Geflechten (Kälte, Tod, Leere) und literatur- bzw. kunstgeschichtlichen Bezügen - dennoch einige Vorschläge auch dazu in Mat. 9, 10 und 11 - sondern direktes Ansteuern von Lebensfragen und deren Reflexion
- Die angemessene Form der schriftlichen Aufarbeitung soll dann auch nicht die Textinterpretation sein, sondern die Schreibform des Essays.
Daraus lassen sich zunächst folgende Untersuchungsaufträge/Projekte ableiten (genauer in Mat.5):
Erarbeiten Sie zu Ihrem Thema einen mediengestützten Kurzvortrag! |
Phase 4: Ausweitungen - Schreiben
Das essayistische Schreiben ist eine neue Anforderung im Baden-Württembergischen Zentralabitur ab 2014. Auf der Basis eines Dossiers (Sammlung von Texten zu einem Themenfeld) sollen die Schüler eine Auseinandersetzung mit dem Thema leisten, die dem Charakter und den Regeln (!?) eines Essays gerecht wird: Ergebnis-offen, sprachlich kreativ und versiert sowie trotz allem argumentativ strukturiert! (siehe dazu Mat.6 / Mat.7). Der Roman wirft einige Fragen auf, die besser essayistisch angegangen werden, wie z.B. diese (Mat.6):
- 1. Single-Dasein - selbstgewählte Lebensform, Übergangsstadium oder persönliches Unglück?
- 2. Rollenzuschreibungen - Du bist, was die anderen von Dir erwarten!
- 3. Ohne sich ein Bildnis des anderen zu machen, ist eine Beziehung nicht möglich!
- 4. Ist Glück immer nur flüchtig, langweilig und aus der Ferne sichtbar?
- 5. Männer und Frauen sprechen nicht dieselbe Sprache und verstehen sich doch ganz gut!
- den zwar anregenden, aber nicht in jeder Hinsicht einleuchtenden Aufsatz von Max Frisch: "Du sollst dir kein Bildnis machen" aus seinem "Tagebuch 1946-1949" (als pdf hier zu finden: downloads.lehrkunst.ch).
- des Weiteren einige Basisinformationen zu Rolle, role making und role taking (siehe "Rollentheorie" Mat.7)
- oder einen Artikel aus der Wikipedia zum Themenkomplex "Gender" und "Gender-Studies"
- Wer sich für die Thematik von Ich-Identität und Persönlichkeit interessiert, dem sei noch ein Kapitel aus R.D.Prechts "Wer bin ich und wenn ja wie viele" empfohlen (siehe Mat.6).
Phase 5: Abrundungen, Leistungsmessung, Feedback
Dieses Feld überlasse ich den betroffenen DeutschlehrerInnen. Für Anregungen bin ich immer dankbar.
Zusätze
Und hier noch weitere Unterrichtsideen zum freien Gebrauch:
- Vier Ausgaben - vier Titelbilder, vergleichen und bewerten Sie! (Mat.8)
- Georges Seurat, der Sonntagnachmittag und das Glück - Schreibauftrag (Mat.9)
- Robert Frost, Stopping by woods on a snowy evening. (Mat.10)
- Motive und Motivgeflechte: suchen, finden und deuten (Mat.11)
- Zwei Mini-Dialog mit Hilfe des Nachrichtenquadrats und der vier Ohren analysieren (Mat.13)
- Buchinterview: Schüler befragen Mitschüler zu ihrer Romanlektüre (Mat.12)
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Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz themengerecht sein sollte.