Station 7 - Familie Holland

Protest post mortem


Auf die Geschichte der Familie Holland stießen wir bei einem Besuch im Bernauer Stadtarchiv. Nachdem wir mit dem Sohn von Herrn Holland in Kontakt getreten waren, zögerte dieser lange, ehe er sich durchringen konnte, uns eine Sammelmappe mit verschiedenen Zeitungsartikeln und persönlichen Kommentaren seines verstorbenen Vaters zur Verfügung zu stellen, anhand welcher wir die Geschichte des Abrisses seines Hauses und seine damit verbundenen Gefühle und Gedanken nachvollziehen konnten.
Der Sohn hat heute noch nicht mit dem Thema des Stadtabrisses abgeschlossen. Seine Klage gegen den Zwangsverkauf seines alten Anwesens wurde abgewiesen. Er hofft nun, daß durch unsere Arbeit auch die persönlichen Schicksale hervorgehoben werden.

Mitte der 60er Jahre: Umbau und Instandsetzungen in der Thälmannstraße
Die Ausführungen von Herrn Holland beginnen im Jahr 1963 mit den Vorschlägen der Stadt für eine Rekonstruktion der Altstadt Bernaus. Zum geplanten Umbau der seinerzeitigen Thälmannstraße leistete Familie Holland einen für die damaligen Verhältnisse nicht alltäglichen Beitrag. Sie nahm einen Kredit auf und ließ größere Instandsetzungen an ihrem Wohnhaus und der darin befindlichen HO-Gaststätte „Alte Brauerei“ durchführen.

Fotos: ebenda

1968, als die Bauarbeiten an dem denkmalgeschützten Haus fast beendet waren, wurde nochmals ein Plan zur Stadterneuerung veröffentlicht: „Ein neues Herz für Bernau“. Darin stand: „Infolge des schlechten baulichen Zustands des Stadtkerns sind nur wenige kulturhistorisch wertvolle Gebäude erhaltungswürdig.“ Das Haus der Familie Holland sollte nun plötzlich nicht zu den „erhaltungswürdigen“ Gebäuden gehören. Vier Jahre später, 1972, verkündete die Stadt, daß alle Wohnhäuser auf der Westseite der Thälmannstraße abgerissen werden, weil deren Bausubstanz zu überaltert ist. Der Hintergrund dieses paradoxen Schrittes stellt der gefaßte Beschluß dar, Bernau zu einer sozialistischen Musterstadt umzugestalten und in der Thälmannstraße einen modernen Plattenbau zu errichten.
Um das denkmalgeschützte Haus in der Thälmannstraße niederreißen zu können, bot die Stadt Familie Holland den Ankauf des Hauses an. Herr Holland lehnte diesen Vorschlag zunächst ab. Nach einer Drohung mit Enteignung, durch die DDR-Gesetzgebung legitimiert, verkauften die Hollands gezwungener Weise ihr Haus. Von dem Erlös des Verkaufes blieb der Familie nicht viel, da die Kredite, mit denen die Instandsetzungen in den 60er Jahren bezahlt wurden, noch getilgt werden mußten.

Abriß der „Alten Brauerei“

Foto: ebenda
1978 begann dann der erste Bauabschnitt, in dem „die Abrißmaschinerie [...] alles niederwalzt[e]“. Nein, nicht alles, Fassade und Denkmalschutz waren die Retter des alten Kantorhauses, des ältesten Wohnhauses der Stadt, das 1982/83, rekonstruiert wurde. Neu hergerichtet, galt es als Beweis für das Entgegenkommen bei der Erhaltung alter Bausubstanz.
Herr Holland äußerte sich in seinen Aufzeichnungen über den Abriß kritisch: „Selbstverständlich ist der Abbruch aller vernachlässigten und in Verfall geratenen Altbauten erforderlich. Und, daß es sehr

Foto: ebenda
viele sind, erwiesen die durchgeführten Untersuchungen der Altbauten. Dennoch, ein Blick auf die [...] Bauzustandsanalyse zeigt eindeutig, daß gerade in diesem Altstadtbereich [...] auch eine ganze Anzahl Wohnhäuser mit erhaltenswerter Bausubstanz ermittelt wurde.“

Leider lassen sich aus den erhaltenen Bauunterlagen diese Fakten nicht nachweisen. Die vorliegenden Materialien geben keine Auskunft über den Bauzustand der Gebäude in der Thälmannstraße. Jedoch beweisen allein die Häuser der Familien Holland und Heinrich, daß nicht alle Gebäude abrißreif waren.

Alternativen zum Neubau
Mußten denn wirklich alle Wohnhäuser abgerissen werden? Gab es keine anderen Möglichkeiten, um zu modernen Wohnungen zu kommen? Lösungsvorschläge fand Herr Holland in der Zeitung, da dieses Problem zur gleichen Zeit in anderen DDR - Kleinstädten zur Debatte stand. So führte er als Beispiel Strausberg an, wo die Altbausubstanz durch Lückenbauten erhalten und verschönert wurde. Auch in Köthen, Bischofswerda und Gardelegen entstanden moderne Wohnungen hinter rekonstruierten Fassaden. Die Bernauer Stadtverwaltung las anscheinend keine Zeitung, um sich über Alternativen zum Flächenabriß zu informieren.
1979 stellte Herr Holland fest, daß das Thema aus dem Sichtbereich der Öffentlichkeit verschwand. Gleichzeitig trat eine neue Verordnung in Kraft. Sie sollte gewährleisten, daß Altbauten mit noch brauchbarer Substanz nur noch in besonderen Fällen abgerissen werden durften. Diese Anordnung schien Herrn Holland gerade für Bernau notwendig, da „man mit den Rekonstruktionsplänen bisher allzu großzügig und unbedenklich“ umgegangen war, beispielsweise in der Thälmannstraße.
Hier wurden die Häuser an der Westseite blindlings alle abgerissen, obgleich einige davon nicht mangelhafter waren, als diejenigen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Diese aber blieben erhalten. Hinzu kommt, daß in vielen der abgerissenen Häuser Geschäfte existierten, die erst in den letzten zwei Jahrzehnten mit nicht geringen Kosten rekonstruiert worden waren. Die Wohnverhältnisse waren dort entsprechend besser und hätten aus Herrn Hollands Sicht eine Erhaltung gerechtfertigt. Die ersten Plattenbauten waren 1981 fertiggestellt.




Fotos: ebenda

Herr Holland kommentierte dies wie folgt: „Das Ideal einer sozialistischen Stadt zeigt sich doch nicht allein in der Aneinanderreihung großer und moderner Neubauten nach einem vorgegebenen Schema. Wo es möglich ist, sollte man das Straßenbild durch Erhaltung noch ausbaufähiger alter Häuser individueller gestalten. [...] Als alter Bernauer bedaure ich, daß daran vorbei geplant werden konnte.“

Die Neuorientierung des Bernauer Bauamtes
Kurze Zeit später meinte er, Hinweise zu einem Wandel bei den Verantwortlichen im Stadtbauamt zu bemerken. Im Rathaus hingen Pläne mit Eintragungen alter Wohnhäuser, die erhalten bleiben sollten. Und tatsächlich veränderte sich 1982 das Herangehen an die Umgestaltung zugunsten der alten Wohnhäuser. Doch das kam, nach Herrn Hollands Aussage, zu spät: „Leider können die sehr vielen Worte [...] bisher gemachte Fehler nicht ungeschehen machen.“
Der erste Bauabschnitt war mit 502 Wohnungseinheiten fertiggestellt und bezogen, das sogenannte Laubenganghaus in der Bauausführung. Seine schon erkennbaren Dimensionen zeigten sich jedoch aufdringlich und fremd in der unmittelbaren Nachbarschaft der gegenüber verbliebenen Altbauten.




Fotos: ebenda

Der damalige Bürgermeister verteidigte jedoch das Bauwerk. Herr Holland stellte dessen Absicht in seiner Dokumentation bloß: „Wie konnte er auch schon wissen, welche Richtlinien für das Bauen von Kleinstädten heute gelten? Aufgabe der Propaganda wird es nun sein, zukünftige Bürger und Besucher der Stadt davon zu überzeugen, daß die damals getroffene Entscheidung richtig war. Überlassen wir also alles der Zeit und dem Gras das darüber wachsen wird.“
Im II. Bauabschnitt wurde die Arbeit dann im sinnvollen Dreiklang von Neubau, Modernisierung und Instandhaltung schrittweise weitergeführt. Die Vernunft hatte sozusagen über ideologisch geprägte sozialistische Luftschlösser gesiegt.

Foto: ebenda
„Vernünftiges und ökonomisches Denken hat nun auch in Bernau [...] Eingang finden müssen. Bei der Planung weiterer Maßnahmen für die Neugestaltung der Altstadt ist eine volle Kehrtwendung gegenüber 1978 erkennbar. - Was noch möglich ist, soll vom alten Stadtbild erhalten werden. [...] Schade, daß diese Erkenntnis so spät kommt. Auch die Thälmannstraße mit ihrer alten Bebauung war so ein historisch gewachsener Bereich unserer Stadt. Zerstört wurde er erst vor fünf Jahren durch den voreiligen Abriß aller Wohnhäuser an der Westseite der Straße.“ Während die Stadtverwaltung anfangs wenig Wert auf die Stadtbilderhaltung legte und ein großflächiger Neubau geplant war, sollten im dritten und letzten Bauabschnitt alle Altbauten erhalten bleiben und ausgebaut werden, obgleich deren Bauzustand nicht besser als der vieler Wohnhäuser im ersten Bauabschnitt war.
Warum schrieb Herr Holland diese kritischen Bemerkungen über die notwendige Rekonstruktion in Bernau nieder? Leider können wir ihn nicht mehr danach fragen. Aber sein Sohn glaubt, ihn hat der Abriß seines Hauses bis zum Tode beschäftigt, und er wollte nachkommenden Generationen nicht nur die Sicht der damals Verantwortlichen überlassen, sondern auch seine Ansicht verdeutlichen.
Herr Holland meinte, daß mit Lob seitens der Presse und der Stadt bisher nicht gespart wurde und er zur Vervollständigung auch kritische Gedanken zum Stadtabriß seiner Heimatstadt äußern müßte. Eine Frage stellte sich Herr Holland häufig: Warum wurde der Sachverhalt oft verschwiegen, daß schon im ersten Bauabschnitt viele alte Wohnhäuser hätten erhalten werden können? Herr Hollands Fazit zum Abriß der schönen Altstadt in Bernau: „Unter Außerachtlassung zeitgemäßer ökonomischer Vernunft wurde [...] von den [...] Verantwortlichen auch noch brauchbare Bausubstanz blind ihren damaligen Vorstellungen zeitgemäßer Stadterneuerung geopfert. [...] Um das Gesicht zu wahren wird nun propagandistisch auf die so dringend benötigten Wohnungen und den schlechten Zustand der hier bestehenden Altbauten hingewiesen. [...] Es wäre [...] besser gewesen, Überlegungen [...], vorher anzustellen und das Vorhandene auf zukünftige Nutzungsmöglichkeit besser zu prüfen. [...] Andere Kleinstädte waren von Anfang an klüger. Sie rekonstruierten auch, dachten aber dabei an wiederverwendbare Altbauten und das vertraute Straßenbild. Sie gingen mit den für den Wohnungsbau vorgegebenen Mitteln sinnvoller um.“ Kritische Haltungen zu den rigorosen Umgestaltungen in Bernau sind auch heute eher selten. Viele der damaligen Verantwortlichen wiederholen die alten Argumente immer und immer wieder, gehen keinen kleinen Schritt von der alten Argumentationslinie ab (Herr B., Herr K., ...). Auch verinnerlichten offenbar viele Bürgerinnen und Bürger Bernaus die einseitige Rechtfertigung des Flächenabrisses. Die meisten stören sich nicht an dem gespaltenen Gesicht der Stadt und glauben noch immer, daß der Flächenabriß ein notwendiges Opfer für die modernen Wohnungen war. Auch heute finden sich nur wenige, die um die alten Häuser trauern. Vor allem die Generation der 70- bis 80jährigen gerät ins Schwärmen, wenn Fotos aus der Zeit vor dem Abriß gezeigt werden, auf denen jede Straße und jedes Gebäude Geschichte(n) erzählt. Das werden die Plattenbauten wohl nie können.
Mißfallensbekundungen müssen nicht immer spektakulär sein. Es gibt auch den stillen, leisen Einspruch, den die Bevölkerung zwar kaum hört, der aber dennoch vorhanden ist.
Herrn Hollands Protest liegt in der Zusammenstellung seiner kritischen und ironischen Niederschriften mit der er zeigt, daß er keineswegs die Augen vor dem Stadtabriß Bernaus und besonders seines Hauses verschloß. So findet man in seiner Dokumentationsmappe tadelnde Zeitungsartikel, Alternativen, Karikaturen, Denkansätze, ironische Bemerkungen sowie die Verständnislosigkeit gegenüber der Zerstörung Bernaus wieder:
„Der Flächenabriß im ersten Bauabschnitt war ein Fehler. Er ging über das notwendige Maß hinaus.“


Foto: ebenda
Herr Holland






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