GRUNDBEGRIFFE DER TEXTANALYSE UND INTERPRETATION

StD Wolfgang Winter
DS Barcelona 1986

Neubearbeitung:
Hölderlin-Gymnasium
Nürtingen 2004

5. Interpretation von fiktionalen Texten – Prosatexte

5. Interpretation von fiktionalen Texten – Prosatexte

5. 1Die Erzählperspektive

5.1.0 Der Begriff „Perspektive”

Wir stellen uns vor, dass ein Unfall passiert: Ein Kind läuft hinter einem auf dem Zebrastreifen geparkten Auto über den Zebrastreifen und wird von einem Auto angefahren. Der Schuldige muss gefunden werden. Gott sei Dank ist das Kind nur leicht verletzt worden. Nach zehn Minuten kann es etwas sagen:

Ich wollte über die Straße laufen, weil meine Freunde schon vor mir waren. Dann verspürte ich plötzlich einen Schlag.

Ein Zeuge berichtet:

Auf dem Bürgersteig auf der anderen Seite vom Unfallort tobte eine Schar Kinder. Plötzlich schoss ein Kind, ohne nach rechts oder links zu sehen, hinter dem geparkten Auto über den Zebrastreifen, sodass der Fahrer des grünen Autos nur noch bremsen konnte. Er fuhr aber Gott sei Dank langsam ...

Ein anderer Zeuge berichtet:

Auf dem Bürgersteig tobte zwar eine ganze Anzahl Kinder, die man schon von weitem sehen konnte. Deshalb fuhr der Fahrer des grünen Autos eigentlich noch zu schnell und nicht aufmerksam genug.

Wie man sieht, kommt es auf den Standpunkt an, von dem aus man den Unfall sieht. Die Standpunkte sind unterschiedlich.

Auch wenn man z.B. ein Haus malt, wird das Haus auf dem Bild je nach Blickpunkt anders dargestellt. Oder wenn man fotografiert, wird man bei einer Serie von Fotos wahrscheinlich unterschiedliche Standpunkte / Blickpunkte oder Perspektiven wählen. Das Objekt sieht dann jeweils ganz anders aus. Wenn eine Geschichte erzählt wird, gibt es auch große Unterschiede, die davon abhängen, wer als Erzähler die Geschichte erzählt. In einen Text nennt man dies daher die Erzählperspektive.

Schreibe einen kurzen Bericht der Polizei zu dem Unfall. Die Polizei hat herausgefunden, dass der Fahrer nur mit 29 km fuhr. Welche Person wird die Polizei für den Unfallbericht benutzen?

5.1.1 Der Ich-Erzähler als zentrale Figur des Romans

Beispiel aus Daniel Defoe, Robinson Crusoe”

(Defoes Held Robinson Crusoe erlebt 1659 Schiffbruch vor der Küste von Südamerika; rettet sich auf eine Insel, lebt dort Jahrzehnte allein und kehrt 1686 nach England zurück. Im Textauszug wird seine Rettung beschrieben.)

Als ich nun doch schon höher an Land war, kamen die Wellen nicht mehr so hoch wie zuvor, und ich hielt mich fest, bis sie sich verlaufen hatten, rannte dann weiter in Richtung Land, sodass mich die nächste Woge zwar noch erreichte, aber mich nicht mehr zurückriss, und kletterte mit erleichtertem Herzen an den Klippen der eigentlichen Küste hinauf und setzte mich ins Gras, aus aller Gefahr befreit und außer Reichweite der See.

Nun war ich heil gelandet, sah mich um und dankte Gott, dass er mein Leben, das wenige Minuten zuvor verloren schien, gerettet hatte. Ich glaube, es ist unmöglich, den Lebenden das Entzücken und den Jubel der Seele zu schildern, wenn sie so, ich darf wohl sagen, aus dem leibhaftigen Grab errettet ist..

Zusammenfassung:

Der Ich-Erzähler ist eine fiktive Gestalt, er ist nicht der Autor. Der Ich-Erzähler und der Autor sind nur dieselbe Person, wenn ein Autor über sein eigenes Leben berichtet. Man nennt das dann eine Autobiographie.

Der Ich-Erzähler schaut meistens in seine Vergangenheit zurück. Er berichtet über sein Leben oder über einen Abschnitt aus seinem Leben. Er hat damit eine gewisse Distanz zu dem, was er vorher erlebt hat, oder zumindest die Möglichkeit dazu. Er kann auch etwas zu seinem früheren Verhalten aussagen und es beurteilen. Er kann deshalb kommentieren (früher/ heute). Er kann deshalb eigentlich nur das darstellen, was er selbst erlebt hat oder er braucht andere Zeugen. Robinson auf seiner Insel hat keine Zeugen, fast bis zum Schluss. Um Spannung zu erzeugen, sagt er auch manches nicht, was er von später aus weiß. So findet Robinson eines Tages einen Fußabdruck auf seiner Insel, obwohl er meint, auf der Insel gebe es keine anderen Menschen. Er hat deshalb Angst, da er bis zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, dass die Insel manchmal von anderen Menschen (den Kannibalen) besucht wird. Er sagt dies den Lesern auch nicht, obwohl er aus der Rückschau berichtet und weiß, daß die Kannibalen ab und zu die Insel besuchen. Er kann aus seiner Sicht seine Umwelt beschreiben und auch seine Gefühle und Gedanken darstellen. Ein Wechsel zwischen Außenperspektive und Innenperspektive liegt vor.

Konsequenzen für die Interpretation eines Textes mit einem Ich-Erzähler:

5.1.2 Der Ich-Erzähler als Augenzeuge

Beispiel aus Th. Mann, Doktor Faustus”

I

Mit aller Bestimmtheit will ich versichern, daß es keineswegs aus dem Wunsche geschieht, meine Person in den Vordergrund zu schieben, wenn ich diesen Mitteilungen über das Leben des verewigten Adrian Leverkühn, dieser ersten und gewiß sehr vorläufigen Biographie des teuren, vom Schicksal so furchtbar heimgesuchten, erhobenen und gestürzten Mannes und genialen Musikers, einige Worte über mich selbst und meine Bewandtnisse vorausschicke. Einzig die Annahme bestimmt mich dazu, daß der Leser ‑ ich sage besser: der zukünftige Leser; denn für den Augenblick besteht ja noch nicht die geringste Aussicht, daß meine Schrift das Licht der Öffentlichkeit erblicken könnte, ‑ es sei denn, daß sie durch ein Wunder unsere umdrohte Festung Europa zu verlassen und denen draußen einen Hauch von den Geheimnissen unserer Einsamkeit zu bringen vermöchte; ‑ ich bitte wieder ansetzen zu dürfen: nur weil ich damit rechne, daß man wünschen wird, über das Wer und Was des Schreibenden beiläufig unterrichtet zu sein, schicke ich diesen Eröffnungen einige wenige Notizen über mein eigenes Individuum voraus, ‑ nicht ohne die Gewärtigung freilich, gerade dadurch dem Leser Zweifel zu erwecken, ob er sich auch in den richtigen Händen befindet, will sagen: ob ich meiner ganzen Existenz nach der rechte Mann für eine Aufgabe bin, zu der vielleicht mehr das Herz als irgendwelche berechtigende Wesensverwandtschaft mich zieht.

Ich überlese die vorstehenden Zeilen und kann nicht umhin, ihnen eine gewisse Unruhe und Beschwertheit des Atemzuges anzumerken, die nur zu bezeichnend ist für den Gemütszustand, in dem ich mich heute, den 23. Mai 1943, zwei Jahre nach Leverkühns Tode, will sagen. zwei Jahre nachdem er aus tiefer Nacht in die tiefste gegangen, in meinem langjährigen kleinen Studierzimmer zu Freising an der Isar niedersetze, um mit der Lebensbeschreibung meines in Gott ruhenden ‑ o möge es so sein! ‑ in Gott ruhenden unglücklichen Freundes den Anfang zu machen, ....

II

Die Leverkühns waren ein Geschlecht von gehobenen Handwerkern und Landwirten, das teils im Schmalkaldischen, teils in der Provinz Sachsen, am Lauf der Saale blühte. Adrians engere Familie saß seit mehreren Generationen auf dem zur Dorfgemeinde Oberweiler gehörigen Hofe Buchel, nahe WeiBenfels, von dieser Station, wohin man von Kaisersaschern in dreiviertelstündiger Bahnfahrt gelangte, nur mit entgegengesandtem Fuhrwerk zu erreichen. Buchel war ein Bauerngut des Umfanges, der dem Besitzer den Rang eines Vollspänners oder Vollhöfners verleiht, mit etlichen fünfzig Morgen Äckern und Wiesen, einem genossenschaftlich bewirtschafteten Zubehör von Gemischtwald und einem sehr behäbigen Wohnhause aus Holz- und Fachwerk, aber steinernen Unterbaues. Es bildete mit den Scheunen und Viehställen ein offenes Viereck, in dessen Mitte, mir unvergeßlich, eine mächtige, zur Junizeit mit herrlich duftenden Blüten bedeckte, von einer grünen Bank umlaufene alte Linde stand. Dem Fuhrverkehr auf dem Hofe mochte der schöne Baum ein wenig im Wege sein, und ich hörte, daß stets der Erbsohn in jungen Jahren seine Beseitigung aus praktischen Gründen gegen den Vater verfocht, um ihn eines Tages, als Herr des Hofes, gegen das Ansinnen des eigenen Sohnes in Schutz zu nehmen.

Wie oft mag der Lindenbaum den frühkindlichen Tagesschlummer und die Spiele des kleinen Adrian beschattet haben, der, als im Jahre -1885 Blütezeit war, im Oberstock des Buchelhauses als zweiter Sohn des Ehepaares Jonathan und Elsbeth Leverkühn geboren wurde. Der Bruder, Georg, jetzt ohne Zweifel der Wirt dort oben, stand ihm um fünf Jahre voran. Eine Schwester, Ursel, folgte in dem gleichen Abstande nach.

Zusammenfassung

Der Ich-Erzähler ( Dr. phil. Serenus Zeitblom) ist nicht die Hauptfigur des Romans; er ist nur Zeuge des Lebens der Hauptfigur, des Tonsetzers Adrian Leverkühn, den er von Kindheit an kennt. Er setzt sich mit dem Leser auseinander und begründet, weshalb er Zweifel hat, ob er der Richtige ist, um dessen leben zu beschreiben. Er weiß sehr viel über Adrian und schaltet und waltet mit seinen Kenntnissen. Er ist sozusagen allwissend.” Er erzählt aus der Distanz und ordnet seine Kenntnisse. Er wechselt zwischen Außenperspektive und Innenperspektive. Er ist dem auktorialen Erzähler ähnlich (vgl. 4.5).

Konsequenzen für die Interpretation eines Ich-Erzählers als Augenzeuge

5.1.3 Der auktoriale Erzähler

Beispiel aus Gottfried Keller, „Kleider machen Leute”

An einem unfreundlichen Novembertag wanderte ein armes Schneiderlein auf der Landstraße nach Goldach, einer kleinen, reichen Stadt, die nur wenige Stunden von Seldwyla entfernt ist. Der Schneider trug in seiner Tasche nichts als einen Fingerhut, welchen er, in Ermangelung irgendeiner Münze, unablässig zwischen den Fingern drehte, wenn er der Kälte wegen die Hände in die Hosen steckte, und die Finger schmerzten ihn ordentlich von diesem Drehen und Reiben. Denn er hatte wegen des Falliments irgendeines Seldwyler Schneidermeisters seinen Arbeitslohn mit der Arbeit zugleich verlieren und auswandern müssen. Er hatte noch nichts gefrühstückt als einige Schneeflocken, die ihm in den Mund geflogen, und er sah noch weniger ab, wo das geringste Mittagbrot herwachsen sollte. Das Fechten fiel ihm äußerst schwer, ja schien ihm gänzlich unmöglich, weil er über seinem schwarzen Sonntagskleide, welches sein einziges war, einen weiten, dunkelgrauen Radmantel trug, mit schwarzem Samt ausgeschlagen, der seinem Träger ein, edles und romantisches Aussehen verlieh, zumal dessen lange, schwarze Haare und Schnurrbärtchen sorgfältig gepflegt waren und er sich blasser, aber regelmäßiger Gesichtszüge erfreute.

Zusammenfassung:

Der auktoriale Erzähler steht der von ihm dargestellten Welt mit Distanz gegenüber; er ist außerdem allwissend, d.h. er überblickt die Zeit und die Orte, die Vorgeschichte (Rückblicke), eventuell auch die Zukunft (Vorgriffe) und kennt die Motivationen des Handlungsgeschehens. Er beschreibt von außen her und kann kommentieren. Teilt er Gedanken mit, so geschieht das in Form der direkten oder der indirekten Rede. Sie könnten ebenso gut laut gesprochen werden.

Konsequenzen für die Interpretation eines Textes mit einem auktorialen Erzähler:

5.1.4 Die personale Erzählperspektive

Beispiel aus W.M. Harg, „Der Retter”

Senter wollte nicht mehr an das Tier denken. Er stützte die Ellenbogen auf die Planke und hob sich, soweit es ging, aus dem Wasser empor, um sich umzusehen. Der Schrecken seiner Lage überwältigte ihn. Er war Hunderte von Meilen vom Land entfernt. Selbst unter den günstigsten Umständen konnte er kaum hoffen, aufgefischt zu werden. Mit Verzweiflung sah er, was ihm bevorstand. Er würde sich einige Stunden lang an der Flanke festhalten können ‑ nur wenige Stunden. Dann würde sich sein Griff vor Erschöpfung lösen, und er würde versinken.

Zusammenfassung:

Bei der personalen Erzählperspektive erscheint kein eigenständiger Erzähler. Er blickt durch die Augen der zentralen Figur und registriert somit äußere Vorgänge und Wahrnehmungen. Gleichzeitig werden uns die Gedanken der Zentralfigur (hier: Senters) vorgeführt. Um dies zu erreichen, wird in unserem Beispiel die „erlebte Rede” (indirekter „innerer Monolog”) verwendet. Hauptsächlich wird das Präteritum verwandt; aber auch der Konjunktiv II/das Konditional sind nicht selten, wenn es darum geht, dass die Wiedergabe von Gedanken der Perspektivfigur zu ihrer Zukunft angedeutet werden sollen. Als Personalform wird die 3. Person („er” / „sie”) gewählt. Der Leser ist also unmittelbar im Geschehen, jegliche Distanz fehlt, alles wird ausschließlich aus der Sicht der Perspektivfigur dargestellt und kann damit sehr ungewiss sein (vgl. Texte von Franz Kafka).

Konsequenzen für die Interpretation:

5.1.5 Die neutrale Erzähperspektive: Der Erzähler als reiner Beobachter

Beispiel aus Helga.M.Novak, „Eis”

Ein junger Mann geht durch eine Grünanlage. In einer Hand trägt er ein Eis. Er lutscht. Das Eis schmilzt. Das Eis rutscht an dem Stiel hin und her. Der junge Mann lutscht heftig, er bleibt vor einer Bank stehen. Auf der Bank sitzt ein Herr und liest eine Zeitung. Der junge Mann bleibt vor dem Herrn stehen und lutscht.

Der Herr sieht von seiner Zeitung auf. Das Eis fällt in den Sand.

Der junge Mann sagt, was denken Sie jetzt von mir? Der Herr sagt erstaunt, ich? Von ihnen? Gar nichts. Der junge Mann zeigt auf das Eis und sagt, mir ist doch eben das Eis runtergefallen, haben Sie da nicht gedacht, so ein Trottel?

Der Herr sagt, aber nein. Das habe ich nicht gedacht. Es kann schließlich jedem einmal das Eis runterfallen.

Der junge Mann sagt, ach so, ich tue Ihnen leid. Sie brauchen mich nicht zu trösten. Sie denken wohl, ich kann mir kein zweites Eis kaufen. Sie halten mich für einen Habenichts.

Der Herr faltet seine Zeitung zusammen. Er sagt, jung Mann, warum regen Sie sich auf? Meinetwegen können Sie soviel Eis essen, wie Sie wollen. Machen Sie überhaupt, w Sie wollen. Er faltet die Zeitung wieder auseinander.

Der junge Mann tritt von einem Fuß auf den anderen. sagt, das ist es eben. Ich mache, was ich will. Mich nageln Sie nicht fest. Ich mache genau, was ich will. Was sagen Sie dazu?

Der Herr liest wieder in der Zeitung.

Der junge Mann sagt laut, jetzt verachten Sie mich. Bloß weil ich mache, was ich will. Ich bin kein Duckmäuser. Was denken Sie jetzt von mir?

Der Herr ist böse.

Zusammenfassung

Der Erzähler als reiner Beobachter tritt völlig zurück und ist als Erzähler vorhanden, aber nicht fassbar. Es wird nur erzählt, was von außen wahrnehmbar ist und was gesagt wird. Gedanken oder Wahrnehmungen einer zentralen Figur werden im Unterschied zur personalen Perspektive nicht dargestellt. Es wird in der dritten Person erzählt. Es erfolgt aber auch keinerlei Kommentar wie beim auktorialen Erzähler. Nur die Außenperspektive ist Gegenstand der Darstellung.. Der Leser muss sich ganz allein die Bedeutung des Dargestellten erschließen.

Konsequenzen für die Interpretation eines Textes mit einem Erzähler als reiner Beobachter

5.1.6 Die gemischte Perspektive

In vielen Texten wird die Erzählperspektive nicht streng eingehalten‑ es findet dabei meistens ein Wechsel zwischen der auktorialen und der personalen Erzählperspektive statt (vgl. W.M. Harg, Der Retter”: Zunächst wird dort die personale Erzählperspektive verwendet, im letzten Abschnitt der Kurzgeschichte erscheint dann jedoch ein auktorialer Erzähler, da Senter wegen seiner Erschöpfung sozusagen „ausfällt”).

Wie ein Autor mit der Erzählperspektive umgeht, kann ein Kriterium für die Wertung eines Werkes durch die Literaturkritik sein.

Konsequenzen für die Interpretation

5.1.7 Abschließende Bemerkung

Wenn man die Erzählperspektive eines Prosatextes untersucht, sollte man untersuchen, wie der Autor mit den hier skizzierten Grundtypen. umgeht und in welcher Weise er die Möglichkeiten der jeweiligen Erzählperspektive nutzt.

5.2 Die Darbietungsformen des Erzählens

Abgesehen von der Vermittlung des Erzählten zwischen Erzähler und Leser durch die Erzählperspektive ist wesentlich, welche Darbietungsformen für das Erzählte gewählt werden.

5.2.1 Die berichtende Erzählung

Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört, und der Siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuiten-Orden wurde aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, und der Struensee wurde hingerichtet, Amerika wurde frei, und die vereinigte französische und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die Türken schlossen den General Stein in der Veteraner Höhle in Ungarn ein, und der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schweden eroberte Russisch-Finnland, und die Französische Revolution und der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold der Zweite ging auch ins Grab. Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt.

aus. Johann Peter Hebel, „Unverhofftes Wiedersehen”

In der Darbietungsform der „berichtenden Erzählung”berichtet der Erzähler mit dem Mittel der „Zeitraffung”nur über Geschehenes.

5.2.2 Die szenische Darstellung

(Effi Briest sitzt mit ihrer Mutter bei einer Nadelarbeit im Garten vor einem Flügel ihres Hauses, als ihre drei Freundinnen Bertha und Hertha Jahnke und Hulda Niemeyer kommen. Effi und ihre Mutter brechen die Arbeit ab, die Mutter verschwindet, Effi bietet den Freundinnen Stachelbeeren an. Sie sollen die Stachelbeerschalen auf eine Zeitung legen, damit keiner ausrutschen kann.)

„Glaub ich nicht”, sagte Hertha, während sie den Stachelbeeren fleißig zusprach.

„Ich auch nicht”, bestätigte Effi. „Denkt doch mal nach, ich falle jeden Tag wenigstens zwei‑, dreimal, und noch ist mir nichts gebrochen. Was ein richtiges Bein ist, das bricht nicht so leicht, meines gewiss nicht und deines auch nicht, Hertha. Was meinst du, Hulda?”

„Man soll sein Schicksal nicht versuchen; Hochmut kommt vor dem Fall!”

„Immer Gouvernante; du bist doch die geborne alte Jungfer.”

„Und hoffe mich doch noch zu verheiraten. Und vielleicht eher als du.”

„Meinetwegen. Denkst du, daß ich darauf warte? Das fehlte noch. Übrigens, ich kriege schon einen, und vielleicht bald. Da ist mir nicht bange. Neulich hat mir der kleine Ventvegni von drüben gesagt: Fräulein Effi, was gilt die Wette, wir sind hier noch in diesem Jahre zu Polterabend und Hochzeit.”

„Und was sagtest du da?”

„Wohl möglich, sagt ich, wohl möglich; Hulda ist die älteste und kann sich jeden Tag verheiraten.’.....”

aus Th. Fontane, Effi Briest, 1. Kapitel

In der szenischen Darstellung wird sozusagen eine Szene im epischen Text dargestellt. Diese Darbietungsform wirkt sehr lebendig; denn der Leser fühlt sich wie in einem Drama in die Szene versetzt. Er muss in diesem Textauszug sogar aufpassen, um herauszubekommen , wer hier was sagt. Die Erzählzeit und die erzählte Zeit decken sich ungefähr.

5. 2.3 Die Zeitstruktur

5.2.3.1 Die Zeitraffung

Durch den Erzähler können lange Zeiträume gerafft werden ( vgl. Hebel-Text in 5.2.1); dabei kann auch ein „Zeitsprung” stattfinden; d,h., die Zeit zwischen zwei Ereignissen wird nicht dargestellt, sondern einfach übersprungen.

5.2.3.2 Rückblende und Vorausdeutung

Der Begriff „Rückblende” stammt aus dem Film. Vergangenes wird in der Erzählgegenwart dargestellt.

(Franz Biberkopf wird von seinem absoluten Feind Reinhold nach einem Einbruch mit der Pumsbande aus einem Lastwagen vor ein Auto geworfen: Er wacht am 9. April vormittags in einer Privatklinik in Magdeburg auf und dann wird erzählt, was des Nachts in Berlin geschah.)

Das große Privatauto, in das Franz Biberkopf gelegt wird ‑ohne Bewusstsein, er hat Kampfer und Skopolaminmorphium bekommen ‑ rast zwei Stunden. Dann ist man in Magdeburg. Nahe einer Kirche wird er ausgeladen, in der Klinik läuten die beiden Männer Sturm. Er wird noch in der Nacht operiert ...

Um elf ist Verbandswechsel. Es ist Montag vormittags ‑ die Urheber des Malheurs krakehlen um diese Stunde, einschließlich Reinhold, fröhlich und schwerbesoffen bei ihrem Hehler in Weißensee ‑, Franz ist ganz wach, liegt in einem feinen Bett, in einem feinen Zimmer, die Brust ist ihm eng und furchtbar ein­gepackt, er fragt die Schwester, wo er ist. Die sagt, was sie von der Nachtschwester gehört hat und bei dem Gespräch vorhin aufgeschnappt hat. Er ist wach. Versteht alles, tastet nach seiner rechten Schulter. Die Schwester legt die Hand wieder zurück: ganz ruhig liegen. Da war in dem Straßenmatsch aus seinem Ärmel Blut gelaufen, er hatte es gefühlt. Dann waren Leute neben ihm, und in dem Moment geschah etwas in ihm. In dem Moment ereignete sich etwas in ihm. Was hatte sich in dem Moment in Franz ereignet? Er hatte eine Entscheidung getroffen. Bei den eisernen Armschlägen Reinholds im Hausflut am Bülowplatz hatte er gezittert, der Boden zitterte unter ihm, Franz begriff nichts.

Als das Auto mit ihm fuhr, zitterte der Boden noch, Franz wollte es nicht merken, aber es war doch da.

Wie er dann im Matsch lag, 5 Minuten Unterschied, bewegte es sich in ihm. Es riss etwas durch, es brach durch und tönte, tönte. Franz ist steinern, er fühlt, ich bin überfahren, er ist kühl und ruhig. Franz merkt, ich geh vor die Hunde ‑ und er gibt Befehle. Vielleicht geh ich kaputt, schadt nichts, aber ich geh nicht kaputt. Vorwärts. Man bindet ihm mit seinem Hosenträger den Arm ab. Dann wollen sie ihn ins Krankenhaus Pankow fahren. Aber er passt wie ein Schießhund auf jede Bewegung: Nein, nicht ins Krankenhaus, und sagt eine Adresse. Welche Adresse? Elsässerstraße, Herbert Wischow, sein Kollege aus einer früheren Zeit, vor Tegel. Die Adresse ist im Moment da. Das bewegt sich in ihm, wie er im Matsch liegt, reißt durch, bricht durch, tönt und tönt. Im Moment ist der Ruck in ihm erfolgt, es gibt keine Unsicherheit.

Sie sollen mich nicht erwischen. Er ist sicher, Herbert wohnt noch da und ist jetzt zu Haus. Die Leute rennen durch das Lokal in der Elsässerstraße, sie fragen nach einem Herbert Wischow. Da steht schon ein schlanker junger Mann auf neben einer schönen schwarzen Frau, was ist los, was, draußen im Auto, rennt mit ihnen zum Auto raus, das Mädchen hinterher, das halbe Lokal mit. Franz weiß, wer jetzt kommt. Er befiehlt der Zeit.

Franz und Herbert erkennen sich. Franz flüstert ihm zehn Worte zu, die machen draußen Platz , Franz wird im Lokal hinten auf ein Bett gelegt, ein Arzt wird geholt, Eva, die schöne Schwarze, bringt Geld. Sie ziehen ihm andere Sachen an. Eine Stunde nach dem Überfall fährt man im Privatauto aus Berlin nach Magdeburg..

aus: A. Döblin, Berlin Alexanderplatz

Die Vorausdeutung/ der Vorgriff weist schon aus der Erzählgegenwart in die Zukunft.

Zweites Buch

Damit haben wir unseren Mann glücklich nach Berlin gebracht. Er bat seinen Schwur getan, und es ist die Frage, ob wir nicht einfach aufhören sollen. Der Schluss scheint freundlich und ohne Verfänglichkeit, es scheint schon ein Ende, und das Ganze bat den großen Vorteil der Kürze.

Aber es ist kein beliebiger Mann, dieser Franz Biberkopf. Ich habe ihn hergerufen Zu keinem Spiel, sondern zum Erleben seines schweren, wahren und aufhellenden Daseins.

Franz Biberkopf ist schwer gebrannt, er steht jetzt vergnügt und breitbeinig im Berliner Land, und wenn er sagt, er will anständig sein, so können wir ihm glauben, er wird es sein.

Ihr werdet sehen, wie er wochenlang anständig ist. Aber das ist gewissermaßen nur eine Gnadenfrist.

aus: A. Döblin, Berlin Alexanderplatz

5.2.3.3 Simultangeschehen

Man spricht von „Simultangeschehen”, wenn Geschehnisse erzählt werden, die zum gleichen Zeitpunkt stattfinden. In der Epik müssen sie allerdings notwendigerweise nacheinander erzählt werden.

5.2.4 Andere wichtige Begriffe in der Epik (und auch in der Dramatik)

5.2.4.1 äußere Handlung und innere Handlung

Die „äußere Handlung” bezieht sich auf die von außen wahrnehmbare Handlung, die „innere Handlung” auf das, was im Bewusstsein der Personen sich abspielt.

5.2.4.2 direkte Charakteristik und indirekte Charakteristik

Die „direkte Charakteristik” erfolgt durch den Erzähler oder eine andere Person, die „indirekte Charakteristik” ergibt sich aus dem, was eine Person sagt, und daraus, wie sie handelt. Die indirekte Charakteristik muss also von dem Leser erschlossen werden.


1. Aufsatzarten | 2. Wortarten | 3. Bildlichkeit | 4. Stilfiguren | 5. Fiktionale Prosatexte |
6. Gedichtinterpretation | 7. Arbeitsblätter

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© Wolfgang Winter 2006

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