Arthur Schnitzler: Traumnovelle (1926)

Traumnovelle  
AlbertineImpulse  
S. Freud und A. Schnitzler  
Vier Novellen  


Traumnovelle (1926)

(Zitiert wird nach der Reclam-Ausgabe)

    Die Handlung spielt in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Hauptpersonen sind Fridolin, 35, von Beruf Arzt, sowohl mit eigener Praxis als auch im Krankenhaus, und seine etwas jüngere Frau Albertine, Hausfrau und Mutter. Sie haben eine kleine Tochter und führen einen gut ausgestatteten Haushalt mit Haus- und Kindermädchen.

1.
Es ist Abend, im späten Winter, Fridolin und Albertine sprechen über den am Vortag besuchten Maskenball ("Redoute"). Einiges daran scheint ihre Fantasie noch zu beschäftigen, denn sie geraten in

„ein ernsteres Gespräch über jene verborgenen, kaum geahnten Wünsche, die auch in die klarste und reinste Seele trübe und gefährliche Wirbel zu reißen vermögen" (S.13).

Sie beginnen von jenen Verführungen zu erzählen, die aus unerwarteten Zusammentreffen und unverblümten Blicken hervorgehen und die Bereitschaft wecken, die Grenzen des bürgerlichen Anstandes zu überspringen, dann aber doch nur im Gedanken, im gegenseitigen Erkennen desselben Wollens stecken bleiben. Auch Albertine, zum Erstaunen ihres sich weitaus erfahrener dünkenden Mannes, weiß von einem solchen Augenblick zu berichten. Sie beschließen, daraus in Zukunft kein Geheimnis mehr zu machen.
Da wird der Arzt in die Nacht hinaus zu einem Patienten gerufen, einem Hofrat, welcher wieder einen Herzanfall erlitten hat.


  Kapitel 1 als Exposition

Wann und Wo? Im Wien der Jahrhundertwende

Wer?

    Fridolin, 35, Arzt im Krankenhaus und mit Privatpraxis in seiner Wohnung, ein Mann mit Vorleben: "erfahren", auch in erotischen Affairen, (nicht allzu ambitioniert, was die wissenschaftliche Kariere (Professor) betrifft ->Kapitel II)
    Albertine, um einiges jünger als ihr Mann, lernte diesen mit 16 kennen, Mutter und Hausfrau, aufrichtig, klug, selbstbewusst ...

Ausgangssituation:

    gutsituierte Verhältnisse, größerer Haushalt mit Personal, glückliches Ehe- und Liebesleben, harmonisches Familienleben mit Tochter

Konfliktpotenzial:

    Gefährdung der Beziehung durch die - trotz alledem vorhandenen - geheimen Wünsche und Sehnsüchte, deren Einbruch in das Eheleben als schicksalshaft empfunden wird,
    Paradoxie von Offenheit und Geheimnis: Die Offenlegung dieser Wünsche dem Partner gegenüber beruhigt diesen nicht, sondern weckt Misstrauen und Eifersucht

Erzählperspektive und Sprache:

    - auktoriale Perspektive, die aber umschlagen kann in personale Perspektive und die Wiedergabe innerer Vorgänge (was vor allem in den nachfolgenden Kapiteln stärker in den Vordergrund tritt)
    - Die Satzsyntax ist zuweilen recht kompliziert, vor allem die Satzlänge kann beträchtlich werden, auffällig ist der Gebrauch von Adjektiven,
    - dem Autor gelingt dadurch eine Balance von distanzierter Erzählhaltung einerseits und intensiver Teilhabe am inneren Erleben des Protagonisten andererseits.

2.
Fridolin kommt zu spät, er trifft den Hofrat tot an, bewacht von seiner Tochter Marianne, welcher in der Pflege des kranken Mannes die schönsten Jahre ihres Frauseins verbraucht zu haben scheint, so sieht es aus Fridolins Perspektive aus.
Durch den Tod des Vaters nun innerlich befreit, kommt es zu einem Liebesgeständnis Mariannes, das den Arzt jedoch nicht überrascht, dafür aber peinlich berührt. Ihr Verlobter, ein Universitätslehrer, kommt und auch andere Verwandte, Fridolin vollzieht die letzten ärztlichen Verrichtungen an dem Verstorbenen und verlässt das Haus, welches er - wie er meint - jetzt nicht mehr zu betreten Anlass haben wird.

3.
Durch das Erlebnis nachdenklich gestimmt, auch wohl durch das einsetzende milde Tauwetter, lässt Fridolin sich nun durch das als gespenstisch empfundene nächtliche Wien treiben. Er sieht Obdachlose, wird von einem betrunkenen Verbindungsstudenten herausfordernd angerempelt, gerät in eine Bordellgasse, schließlich sogar in das Zimmer einer 17-jährigen Prostituierten ("Mizzi"), doch diese Begegnung nimmt nicht den zu erwartenden Verlauf, das Geschäft wird nicht vollzogen, er verspürt so etwas wie väterliche Fürsorge und nimmt sich vor, dem Mädchen bei nächster Gelegenheit etwas Gutes zu tun.

4.
Es treibt ihn in ein Cafe, wo er im Klavierspieler den verkrachten Medizinstudenten und ehemaligen Komilitonen Nachtigall wiedererkennt, der sich als Pianist mit Gelegenheitsarbeiten durchschlägt. Unter anderem soll er noch heute Nacht in einem Hause außerhalb der Stadt Wien spielen, er macht Andeutungen, dass es sich hierbei um eine Art Maskenball unter Beteiligung unbekleideter Frauen handele, er selbst muss mit verbundenen Augen spielen und um eingelassen zu werden bedarf es eines Erkennungswortes.
Fridolin verlangt es, an dieser Gesellschaft teilzunehmen, er lässt sich die Parole geben und besorgt sich noch schnell mitten in der Nacht eine Verkleidung (Mönchskutte mit Hut) bei einem Maskenverleiher, den er aus seiner Wohnung herausläutet und dessen Tochter sie mit zwei Herren beim heimlichen Stelldichein in der Kleiderkammer überraschen.
Dann fährt er mit einer Kutsche dem Pianisten hinterher. Es gelingt ihm, sich in das Haus bzw. in die Gesellschaft einzuschleichen und er erkennt, dass eine streng ritualisierte Orgie sich vorbereitet, wo Männer und Frauen, durch Masken unerkannt, erotische Spiele treiben. Fridolin wird von einer Unbekannten gewarnt, dass ihm Unheil drohe, wenn er nicht sofort gehe, aber er lässt sich nicht warnen.
Zwei Vermummte treten auf ihn zu und verlangen ein weiteres Passwort, das er natürlich nicht kennt. Plötzlich kehren sich alle Männer gegen ihn, man will ihm die Maske vom Gesicht reißen, er wehrt sich, da erscheint seine Warnerin und löst in dadurch aus, dass sie sich selbst "opfert". Was dies bedeutet, bleibt ein Rätsel, Fridolin jedenfalls wird aus dem Haus gebracht, mit einer Kutsche ins freie Feld gefahren und dort ausgesetzt.

Siehe "Traum"

5.
Um vier Uhr morgens gelangt er zu Hause an und findet Albertine schlafend vor. Er weckt sie und reißt sie aus einem wirren Traum, den sie ihm auf sein Drängen hin schildert: In verschwimmenden, sich überlagernden Traumbildern erlebt Albertine mit, wie ihr Gatte gefangengehalten und von einer orientalischen Fürstin zur Untreue aufgefordert wird. Er verweigert sich und wird dafür ausgepeitscht und zur Kreuzigung geführt. All dies beobachtet Albertine ohne Reue oder Schuld, während sie selbst in den Armen eines namenlosen Traum-Mannes liegt. - Fridolin ist von dieser Traumschilderung irritiert, ja gewillt, seine Frau dafür zu hassen: „Ein Schwert zwischen uns, dachte er wieder." (73)

6.
Am Morgen geht Fridolin seinen Geschäften nach (Patientenbesuche), in der freien Zeit aber sucht er zunächst nach Nachtigall und erfährt in dessen Absteige, dass er von zwei unbekannten Herren abgeholt und auf den Bahnhof gebracht worden sei. Er habe sich in einem erregten Zustand befunden und es sei ihm nicht erlaubt worden, noch eine Nachricht zu hinterlassen.
Dann bringt Fridolin die Mönchskutte zum Kostümverleih zurück, begibt sich ins Krankenhaus, um den plötzlich verreisten Chefarzt bei der Visite zu vertreten, schließlich fährt er mit einer Kutsche zu dem Haus, in welchem die nächtliche Gesellschaft stattgefunden hat. Er findet es und erhält von einem alten Diener wortlos ein Schreiben, in welchem er aufgefordert wird, seine Nachforschungen aufzugeben.

Fridolin kehrt nach Hause zurück, um seine Privatpraxis zu betreiben und Sprechstunde abzuhalten. Am Nachmittag setzt er seine Recherchen fort, mit dem klaren Hintergedanken, sich auch an Albertine zu rächen, denn ihm war zu Bewusstsein gekommen,

„daß all diese Ordnung, all dies Gleichmaß, all diese Sicherheit seines Daseins nur Schein und Lüge zu bedeuten hatte."(83)

So besucht er Marianne, die Tochter des gestern verstorbenen Hofrates, welche sein Kommen herbeigesehnt hat, aber Fridolin bringt es nicht weiter als zu einem unpersönlichen Gespräch, während doch offensichtlich Marianne auf die Erwiderung ihrer Leidenschaft gehofft hatte. Er flüchtet sich in leere Floskeln und lässt sie „wie versteinert" (86) zurück.

Es ist jetzt halb acht und Fridolin spürt, wie ihm der feste Boden unter den Füßen verloren geht,

„alles wurde unwirklich, sogar sein Heim, seine Frau, sein Kind, sein Beruf, ja, er selbst." (86)

Fridolin, das "allmähliche Versagen seiner Nerven" verspürend, will schon die Nachforschungen nach jener wunderbaren Frau, die sich für ihn "geopfert" hat, aufschieben, da liest er in einem Cafe in der Zeitung von der Selbstvergiftung der überaus schönen Baronin D. heute Morgen in ihrem Hotel. Er folgt nun dieser Spur, findet auch das Hotel, erährt, dass sie ins Krankenhaus gebracht worden und dort gestorben sei und sucht nun - gegen Mitternacht - die Totenkammer des Pathologisch-anatomischen Institutes auf, wo der ihm gut bekannte Dr. Adler noch am Arbeiten ist. Dieser führt ihn zu den Leichentischen und tatsächlich ist da auch der Körper einer Frau. Doch da Fridolin nie ihr Gesicht gesehen hat, kann er sich auch nicht sicher sein, zumal der Körper dieser Frau nun im kalten Licht der elektrischen Lampe seine Schönheit verloren hat und schon Spuren von Alter aufweist. Fridolin erkennt, gleich, ob es diese Frau war oder nicht, dass seine Suche zu Ende ist: Ergebnislos, sinnlos.

Den weiteren Fortgang überlasse ich der genaueren Lektüre ...

... und springe zu der schönen Schlussstelle mit Fridolins banger Frage und Albertines Antwort:

„Was sollen wir tun, Albertine?"
„Dem Schicksal dankbar sein, glaube ich, daß wir aus allen Abenteuern heil davon gekommen sind - aus den wirklichen und aus den geträumten." (103)

Zur Struktur der "Traumnovelle"

Exposition:

    1. Die gegenseitige Entdeckung geheimer Sehnsüchte bei Mann und Frau: Der Abgrund der Gefühle.

Verwicklungen

    2. Der tote Hofrat, dessen Tochter Marianne und deren Verlobter
    3. Das nächtliche Wien im Tauwetter, der pöbelnde Student, die Begegnung mit Mizzi
    4. Im Nachtcafe: der Pianist Nachtigall, die Versuchung, der Kostümverleiher und seine liebestolle Tochter, die Fahrt zum Haus, die Geheimgesellschaft, die Warnung und die rätselhafte Rettung durch eine Unbekannte.
Krise

5. Albertines Traum

und Fridolins Zweifel

Nachforschungen

    6. Suche nach Nachtigall,
    • beim Kostümverleiher,
    • Suche nach dem Haus und die Warnung,
    • Besuch bei Fräulein Marianne,
    • Besuch bei der abwesenden Mizzi,
    • im Nachtcafe: Nachricht vom Selbstmord der Baronin D.,
    • Suche im Hotel, im Krankenhaus und in der Totenkammer

Lösung

    7. Die Maske, die Beichte und die Erlösung

(cc) Klaus Dautel

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