Kapitel 34: Neurogenetik

34.3.4.4 Nullmutationen in Genen für Adhäsionsmoleküle können überraschend geringe Auswirkungen haben

Bei Vertebraten wurde die Funktion von Adhäsionsmolekülen in Zellkulturen und in vivo lange Zeit nur mit biochemischen und immunbiologischen Methoden studiert. Zunehmend werden jedoch auch knock-out-Mäuse und Zebrafischmutanten eingesetzt.

Nullmutanten für NCAM sind relativ gut lebensfähig, sie zeigen nur subtile Defekte. Die mutanten Gehirne zeigen vor allem einen verkleinerten Bulbus olfactorius. Offensichtlich akkumulieren die Vorläufer der Körnerzellen an ihrem Geburtsort und wandern nicht. Angesichts der fast schon ubiquitären Verbreitung von NCAM im Gehirn war dieser lokalisierte Effekt ein überraschendes Ergebnis. Allerdings trat bei der genaueren Analyse dieser Mäuse zutage, daß sie verhaltensdefekt waren: In einem speziellen Verhaltenstest zeigen sie schlechtes räumliches Lernen, was als ein Hinweis auf eine mögliche Rolle von NCAM bei der Gedächtniskonsolidierung gewertet worden ist (s. 34.5.5).

Die ersten vier Mutationen, die in Drosophila-Genen für Adhäsionsmoleküle identifiziert wurden, waren diejenigen für Neuroglian, Fasciclin I, Fasciclin III und irreC-rst. Dabei sprangen zunächst folgende Phänotypen ins Auge:

Eine Deletion des Fasciclin-I-Gens hat keine sichtbaren Auswirkungen auf die Entwicklung des Nervensystems, obwohl Fasciclin I im embryonalen Nervensystem in einem Teil der Neurone exprimiert wird. Mutante Larven wie Fliegen sind lebensfähig. Allerdings zeigen die Fliegen Unsicherheiten beim Laufen, was auf subtile, bisher nicht identifizierte Verschaltungsfehler im adulten Nervensystem schließen läßt.

Ähnlich überraschende Resultate liefern Nullmutationen im Neuroglian-Gen. Obwohl in späten embryonalen Entwicklungsstadien letal, zeigen mutante Embryonen in Bezug auf die Entwicklung des ZNS und des PNS keine auffälligen Defekte. Da Neuroglian in zwei Isoformen vorliegt, von denen eine in nichtneuronalen Geweben exprimiert wird (s.o.), darf vermutet werden, daß die Letalität keine neurale Ursache hat. Auch Nullmutationen im Fasciclin-III-Gen stören die ZNS-Morphogenese entgegen der ursprünglichen Erwartung nicht nachhaltig. Ähnliches scheint für Mutationen im Amalgam-Gen zu gelten, denn mehrere Versuche, mutante Phänotypen zu isolieren, sind fehlgeschlagen.

Auch ohne das irreC-rst-Genprodukt (Abb. 34-46) sind Fliegen lebensfähig und verfügen über ein fast normales Nervensystem. Auffällig im NS sind hier allerdings die irregulären optischen Chiasmata (Abb. 34-37).

Fasciclin-II wurde ursprünglich aufgrund des dynamischen Expressionsmusters entlang der Konnektive und motorischen Nerven in Heuschreckenembryonen identifiziert was die Klonierung des Gens in Drosophila die Herstellung von Mutanten ermöglichte. Funktionsverlust führt zur Defaszikulierung der Fas II exprimierenden Nerven, deren Wachstumskegel allerdings trotzdem noch in die richtige Richtung wachsen und ihre Ziele finden. Dieser Phänotyp läßt sich durch transgene Konstrukte, die das Fas II in den richtigen Axonen anschalten, retten. Durch die gentechnische Addition einer zusätzlichen Genkopie erzeugte Gain-of-function-Phänotypen zeigen dagegen eine zu starke Faszikulierung. Axonbündel, die normalerweise getrennt verlaufen, verkleben (Abb. 34-51).

Die subtilen Mutantenphänotypen machen deutlich, daß axonale Wegfindung offensichtlich mehrfach (redundant) abgesichert ist und die Eliminierung eines einzigen Typs von Adhäsionsmolekül nicht immer ausreicht, um dramatische Effekte zu erzielen. Allerdings darf das nicht so verstanden werden, daß verschiedene Genprodukte identischer Funktion vorkommen (es sei denn, die Gene sind durch Genduplikation erst jüngst auseinander hervorgegangen). Eher ist es so, daß sich die Markierungen unterschiedlicher Zellpopulationen gegenseitig unterstützen. Fehlt die Markierung "1" ist "Nicht-2" noch immer richtig. Wenn das "richtige" Substrat für einen Typ Axon attraktiv und das "falsche" Substrat zusätzlich abstoßend (s.u.) ist, kann der Ausfall eines Signals u.U. verkraftet werden.

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