Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern
64. Brief
Windisch- Matrei, 2. 9. 1855.
Liebe Eltern!
Meinen letzten Brief aus Hofgastein werdet Ihr hoffentlich ebenso wie die
Pflanzensendung aus Berchtesgaden (resp. Ramsau) erhalten haben . . .
Mir ist es inzwischen in jeder Beziehung sehr gut ergangen, in Hinsicht der
Reise überhaupt, des Wetters, der Gesellschaft, der Pflanzen, der Beine usw.
usw.
Dienstag, 28. 8., ging ich früh von Hofgastein nach Wildbadgastein, wo ich
mich umsah, dann mit Dr. med. Fürstenberg aus Wien über die Wasserfälle bis
Naßfeld und überschritt dann allein, ohne Führer und Träger, mit vollem
Gepäck, namentlich mit Heu reich beladen, die Zentralkette der Alpen über
dem Naßfelder Tauern, von wo ich abends äußerst ermüdet, aber sehr glücklich
in Malwitz ankam. Am 29. 8. mit Führer von Fragant über das 7000 Fuß hohe
Joch des Schobers nach Döllach (alles in Kärnten). Dann am 30. 8. früh nach
Heiligenblut (ganz herrlich!). Nächmittag mit einem Wieder Urphilister auf
die Fleiß. 31. 8. mit einem Lyzealprofessor der Naturwissenschaften, Hofmann
aus Bamberg, von Heiligenblut durch das oberste Mölltal bis zum
Pasterzengletscher, über diesen hinweg zur Johannshütte und Gamsgrube, dem
berühmtesten botanischen locus classicus. Dort einen halben Tag wirklich in
den seltensten Gletscherpflanzen, im Angesicht des Gletschers selbst und des
prachtvollen Großglockner geschwelgt. Dann zurück. Gestern, am 1. 9. 1855,
früh um 4 Uhr mit einem englischen Juristen von 60 Jahren, Mr. Anderson aus
London, einem sehr netten Mann, das Leitnertal auf dem Katzenstieg (rechts
vom engen Pfad steile, hohe Feswände, links ein tiefer Abgrund mit
schäumendem Gletscherbach, ganz herrlich!) emporgeklettert, dann über das
Kalser Törl nach Kals, über das Matreier Törl (d. h. Joch) nach
Windisch-Matrei, wo ich allein im Dunkeln schon im 8 Uhr ankam, während der
Engländer mit dem Führer erst um 11 Uhr nachkam. Heute äußerst ermüdet, aber
ganz glücklich im Genuß der herrlichen botanischen Ausbeute, die seltensten
und merkwürdigsten Gletscherpflänzchen, die ich, da es alles große Raritäten
sind, in der Nähe des ewigen Schnees auf den Tauern gesammelt, Dich liebste
Mutter, recht sorgfältig zu trocknen bitte. Laß sie möglichst in derselben
Ordnung liegen. Die kleinsten, feinsten Sachen lege in alte Bücher; die
Moose kannst Du so an der Luft trocknen. Sollte einiges verschimmelt sein,
so schmeiß es nicht weg. Presse sie nicht zu stark. Wohin ich heute
eigentlich gehe, weiß ich selbst noch nicht, da es stark regnet.
Lienz, 3. 9. 1855.
Reiseplan ganz geändert, Nordtirol und Pinzgau aufgegeben, gehe durch das
Pustertal und Fassatal nach Südtirol (Bozen) . . .
Euch allen herzliche Grüße, Dir, liebste Mutter, insbesondere gute
Besserung.
Dein alter Ernst.
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Erstellt von Christoph Sommer am 02.07.1999
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