Die kritische Stimme der Arbeiterklasse

Dietrich Allert/Hubert Wetzelt: FREIHEIT, Halle, 31. 8. 1963

(...) Da Manfred von niemandem überzeugt wird, im Gegenteil seine Zweifel - und die anderer - im Raum stehenbleiben, erhebt sich die Frage nach dem Standpunkt der Autorin. [...] Von der alles verändernden Kraft unserer Gesellschaft ist in der Erzählung zuwenig spürbar. Überall schimmert der Gedanke durch, den die Autorin in einer Fernsehsendung nach Erscheinen des Buches äußerte: Sie habe auf das Unglück hinweisen wollen, das durch die Spaltung in Deutschland besteht. Ist das wirklich ein Unglück? [...]
Wir wissen, daß in diesem Kampf [um die Gestaltung der sozialistischen Republik] die Front nicht allein durch die Grenze zwischen beiden deutschen Staaten abgesteckt ist. Der Kampf, die wirklichen Grenzen gehen durch ganz Deutschland, erfordern oft in der einzelnen Familie ein Bekenntnis, das nur hart errungen werden kann, aber für die Entscheidung über das Glück in Deutschland notwendig ist. Dazu hätte das Buch Wege ebnen müssen. Wer aber von der Spaltung als der deutschen Tragik ausgeht, schafft das nicht. [...] Ein solcher Standpunkt muß zu Irrtümern führen. Sie häufen sich in der Erzählung "Der geteilte Himmel". [. . .] Die fortschrittlichen, positiven Gestalten des Buches hinterlassen beim Leser einen negativen Eindruck, die schwankenden, kleinbürgerlichen Gestalten erscheinen durch die Darstellung von Christa Wolf als positiv. [. . .] Eine typische, verquere, dekadente Lebensauffassung. Deutlich wird das vor allem am Brigadier Meternagel. [. . .] Männer wie Meternagel oder Ermisch können doch nicht in der von Christa Wolf gewählten Darstellung - allein und einzig den Genossen unserer Tage verkörpern. Damit wird die Wirklichkeit verzerrt. Auch hier kommt die dekadente Lebensauffassung bei Christa Wolf zum Ausdruck. [. . .] Christa Wolf spinnt an einigen Stellen und Figuren den Faden dekadenter Lebensauffassung in unsere sozialistische Entwicklung, und das hinterläßt beim Leser das Gefühl, daß hier eine noch zwiespältige Autorin versucht, unvereinbare Ideologien miteinander zu verbinden. [. . .] In dem Bestreben, ihre Gestalten psychologisch zu begründen, hat Christa Wolf sie zu sehr als von der Vergangenheit geformt, zu wenig verändert von den alles ergreifenden Einflüssen des Sozialismus angelegt. [. . .] "Der geteilte Himmel" ist ein literarischer Erfolg in der Gestaltung intimer Gefühle. Ob unser Lebensgefühl insgesamt richtig gestaltet wurde, ob es nicht notwendiger rationaler Elemente entkleidet wurde, ob die Konzeption auf der weltanschaulichen Höhe unserer Tage ist, bezweifeln wir. Die Erzählung von Christa Wolf ist ein Fortschritt, mit dem wir nicht lange zufrieden bleiben wollen. Die Diskussion um die Entwicklung unserer Literatur wird fortgesetzt.“
FREIHEIT, Halle, 31. 8. 1963. Zitiert nach: Martin Reso, 'Der geteilte Himmel' und seine Kritiker, Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale) 1965, S. 80-85.


Zirkel schreibender Arbeiter des VEB Waggonbau Ammendorf:
[Nicht nur Beifall, sondern auch kritische Diskussionen] (1963)

Liebe Christa Wolf! Mit Interesse verfolgen wir die Diskussion um Deine Erzählung "Der geteilte Himmel". Du warst in unserem Werk, wir freuten uns mit dir über deinen Erfolg und wünschen, daß du noch viele gute Bücher für uns schreiben mögest. Du hast für deine Erzählung einen Stoff gewählt, mit dem sich bisher nur wenige Autoren beschäftigt haben ... Es ist erstaunlich, wie du die einzelnen Situationen erfaßt, die Charaktere der menschen gezeichnet hast. Wir finden das Leben in unserem Betrieb ungeschminkt wieder.
Wem begegnen wir? Da ist Meternagel. Ein untadeliger Mensch, der alles zu geben bereit ist, seine Kenntnisse und Fähigkeiten, seine Nervenkraft, ja, selbst seine Gesundheit . .. Wir glauben, daß Rita in ihm den Menschen sah, dem sie sich zugehörig fühlte, an dessen Standhaftigkeit und dessen Lebensauffassung sie auch, wohl unbewußt, Manfred gemessen hat. Der Typ des klugen, verständigen und ebenso selbstlosen Menschen wird in Schwarzenbach verkörpert. In der Versammlungsszene hat er Mangold, der wegen seiner starren Haltung nicht verstanden wurde, die rechte Art gezeigt, Probleme zu lösen, ohne ihn zu demütigen . . . Die drei sind Genossen von der Art, wie wir sie auch in unserer Wirklichkeit finden.
Der Wanderer zwischen zwei Welten ist Manfred. Ein Mensch, der zwar für seine Arbeit als Chemiker ein Ziel sucht, der aber kein Ziel für sich selbst, für sein eigenes Leben findet und deshalb scheitert. Rita fühlt sich durch eine echte und tiefe Liebe an Manfred gebunden. Doch der Himmel dieser Liebe ist geteilt. Rita muß sich entscheiden, auf welche Seite Deutschlands sie gehört, und sie entscheidet sich.
Daß sie an dieser Entscheidung fast zerbricht und den Leser dann vom Krankenbett aus rückblendend miterleben läßt, wie es dazu kam, erfordert, daß man sich ernsthaft mit ihrem Erleben auseinandersetzt, doch es stimmt manchen traurig und bedrückt auch uns. Und hierin liegt wohl die Ursache, weshalb Dein Buch nicht nur Beifall findet, sondern auch die kritischen Diskussionen heraufbeschworen hat. Rita hat den geliebten Menschen verloren und ist zusammengebrochen. Und in dieser Situation durchdenkt und erzählt sie ihre Geschichte. Was geschehen ist, erlebt der Leser nicht unmittelbar, er erfährt es, gespiegelt durch dieses Krankenbettprisma, notwendigerweise - verdüstert. Manche Figuren werden sogar teilweise durch ein doppeltes Prisma gezeigt, nicht aus Ritas eigener Sicht, sondern durch die Augen dritter. Was wir zum Beispiel über Rudi Schwabe erfahren, ist fast ausschließlich die Meinung Manfreds. Und Manfreds schlechte Meinung über ihn wird kaum an irgendeiner Stelle deutlich widerlegt. Wir wissen s zum Schluß nicht recht, was für ein Mensch Rudi Schwabe nun in Wirklichkeit ist. Ein »Dogmatiker«, vielleicht ähnlich wie Mangold? Oder nur ein Mensch, der seiner Aufgabe nicht ganz gewachsen ist und noch lernen muß? Ist er bewußt Meternagel, Schwarzenbach, Wendland gegenübergestellt? Ein »schlechter« Genosse? Hier bist Du uns als Deinen Lesern die Antwort schuldig geblieben. Auch das Leben der Brigade verliert etwas durch dieses Krankenbettprisma, bekommt eine düstere Atmosphäre. Gewiß, der Weg zum Sozialismus ist kein Spaziergang. Es gibt Berge und Krater, die Hindernisse bilden. Auch in Deiner Patenbrigade hier in unserem Betrieb hat es Konflikte und Auseinandersetzungen gegeben. Wo gibt es die in unserem Leben nicht? Aber der Kampf um das Neue bringt eine große Anzahl Menschen hervor, die bewußt für unsere Sache kämpfen. Solche Menschen gab es auch in Deiner Brigade. Wir fragen uns deshalb, weshalb Du nicht stärker bei der Wirklichkeit geblieben bist. Der "wirkliche" Meternagel hat den Sozialismus nicht erst während der Kriegsgefangenschaft kennengelernt, er war schon im kommunistischen Jugendverband. Das macht doch seine Haltung ganz anders verständlich. Die verunglückte Geburtstagsfeier des Brigadiers hat nicht stattgefunden, dafür gab es einige gut gelungene Brigadeabende, auf denen der Werkleiter anwesend war und über die Brigade die Patenschaft übernahm. All dies steht im Brigadetagebuch. Auch, daß die Brigade großartige sozialistische Hilfe über das Werk hinaus geleistet hat, eine Hausfrauenbrigade gebildet hat und vieles mehr. Wenn sich Rita auf ihrem Krankenbett oder gleich nach Manfreds Verrat an all dies erinnert hätte, wäre das nicht ein Quell gewesen, leichter und rascher ihre eigene Düsterkeit fortzuspülen?
Wir haben nun selbst etwas Kritisches zu Deiner Erzählung gesagt. Das soll aber keineswegs heißen, daß wir mit den vorangegangenen Diskussionsbeiträgen in allem einverstanden sind. Wir meinen vor allem, der Vorwurf »dekadente« Lebensauffassung geht über das Ziel einer helfenden Kritik hinaus. Dein Buch regt zum Nachdenken an. Wir sind stolz auf Dich.

FREIHEIT, Halle, 12. 10. 1963. Zitiert nach: Martin Reso, s. o., S. 115-117. Ausschnitte.


3. Redaktion der "FREIHEIT": Schlußbemerkungen zur Diskussion über die Erzählung Der geteilte Himmel‘ von Christa Wolf - Nützlicher Streit (30.11.1963)

(1963) In den vergangenen Wochen wurde auf den Seiten der "Freiheit" eine Diskussion über die Erzählung "Der geteilte Himmel" von Christa Wolf geführt. Diese Diskussion hat in unserer Republik Aufsehen erregt. An ihr beteiligten sich auch solche bedeutenden Publikationsorgane wie das "Forum", der "Sonntag", Radio DDR I, die "Sächsische Zeitung", der "Eulenspiegel" und andere. Hinzu kamen viele Versammlungen und Aussprachen in den Organisationen des Deutschen Schriftstellerverbandes, des Verbandes der deutschen Journalisten, Leserforen, an denen sich die Autorin beteiligte, öffentliche Seminare der Universitäten usw. Es waren lebhafte Diskussionen und gehaltvolle Gespräche - oft in überfüllten Räumen. Die ganze Diskussion beweist, daß ein außerordentliches Interesse besteht, offen, freimütig und in echtem Streit über die Probleme unserer Gegenwartsliteratur zu sprechen. [...] Wir sind wiederholt gefragt worden, welchen Zweck wir mit der Diskussion über Christa Wolfs Erzählung verfolgten. Es gibt drei Gründe:
1. Die Märzberatung des Politbüros und des Ministerrats mit Schriftstellern und Künstlern hatte gefordert, über neuentstandene (oder entstehende) Kunstwerke Diskussionen zu führen, an denen sich die interessierte Öffentlichkeit beteiligen kann. In zunehmendem Maße wird das Leben in der DDR, das Denken und Wirken der Menschen mit all seinen komplizierten und widersprüchlichen Aspekten und Problemen zum Gegenstand der Kunst. Daraus folgt die Notwendigkeit, daß die Menschen in unserer Republik selbst ihre Meinung sagen über den Wahrheitsgehalt und die künstlerische Bewältigung ihres eigenen Lebens, über die politisch-erzieherische Qualität des Kunstwerkes. Das führt zu neuen Erkenntnissen für die Künstler und die Kunst, das unterstützt das Reifen der Künstler und der Kunst, das ist eine wichtige Form der schöpferischen Mitarbeit der Bürger unseres Staates bei der Entwicklung der nationalen Kunst in unserer Republik.
Das war unser wichtigstes Anliegen bei der Eröffnung der Diskussionen, und wir sind darin bestätigt worden durch Kurt Hager, der auf der 4. Tagung des ZK der SED sagte: »Um einige neue Werke - z. B. den Roman von Christa Wolf "Der geteilte Himmel" und den Roman von Strittmatter Ole Bienkopp‘ - gibt es rege Diskussionen. Ich halte dies für gut und wichtig. Es zeigt sich, daß in den Werken jener Genossen Schriftsteller, die den Bitterfelder Weg gingen, die echten Konflikte, die tatsächlichen Widersprüche der Entwicklung beim Aufbau des Sozialismus aufgedeckt werden, natürlich in der Sicht des betreffenden Schriftstellers. Was hier verkehrt oder da falsch ist, wird die Diskussion über diese Werke zeigen. Diese Diskussionen regen - sofern sie gehaltvoll sind- das geistige Leben in unserer Republik an.« (...)
3. Christa Wolf hat ein Buch für unsere Republik geschrieben in dem Bestreben, in die große geistige Auseinandersetzung einzugreifen, die in einem Land, das aus zwei selbständigen Staaten mit völlig unterschiedlicher sozialer Ordnung besteht, härter und tiefgreifender geführt werden . muß als irgendwo auf der Welt. Besonders, weil an der iL geographischen Grenze zwischen diesen Staaten der neuralgischste Punkt im Ringen zwischen dem Lager des aufsteigenden Sozialismus und dem Lager des untergehenden Kapitalismus liegt. Christa Wolf gehört zu den Schriftstellern, die die Reflexion der ungelösten nationalen Frage t in Deutschland in den Köpfen der Menschen literarisch zu gestalten versucht haben. Christa Wolf handhabt die literarischen Ausdrucksmittel so gekonnt wie nur wenige Schriftsteller in unserer Republik. Die von ihr schon früher geschriebene "Moskauer Novelle" und "Der geteilte Himmel" lassen uns hoffen, daß unsere junge sozialistische Nationalliteratur und ihre Leser noch viele gute Bücher von Christa Wolf erhalten werden. [.. .] .
In einigen Diskussionen wurden wir von Genossen ... gebeten, vor allem den ersten Artikel vom 31. August zurückzunehmen, wenigstens aber den Vorwurf dekadenter Lebensauffassung im Buch. Auch in anderen Gesprächen gab es erhitzte Proteste und ähnliche. Empfehlungen. Es sei uns gestattet, daß wir nach wie vor . zu folgenden Worten in unserem Artikel vom 31. August 1963 stehen: »Christa Wolf spinnt an einigen Stellen und Figuren den Faden dekadenter Lebensauffassung in unsere sozialistische Entwicklung, und das hinterläßt beim Leser das Gefühl, daß hier eine noch zwiespältige Autorin . versucht, unvereinbare Ideologien miteinander zu verbinden.« [. .]
Wenn wir uns heute fragen, ob es richtig war, unsere Diskussion über den "Geteilten Himmel" zu beginnen und zu führen, so müssen wir diese Frage uneingeschränkt mit Ja beantworten. Es hat eine Reihe von sehr wertvollen Diskussionsbeiträgen gegeben, die dazu angetan sind, der Literatur in der DDR weiterzuhelfen. Es hat sich gezeigt, daß für eine solche Diskussion ein sehr großes Interesse vorhanden ist, daß sie viele Menschen angeregt hat, über unsere Gegenwartsliteratur gründlicher nachzudenken und zu Erkenntnissen zu kommen, die für die Autoren und für die Leser überaus wertvoll sind. Von Christa Wolf, dieser begabten und talentierten Schriftstellerin, erwarten wir in den nächsten Jahren Bücher, die fest in den Bestand unserer jungen sozialistischen Nationalliteratur eingehen werden.

FREIHEIT, Halle, 30. 11. 1963. Zitiert nach: Martin Reso, s. o., S. 149/150, 152-153, 159. Ausschnitte.

Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht ganz themengerecht sein sollte.
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