Franz Kafka: Der Prozess (Roman 1914/15)
in der Kursstufe - ein Erfahrungsbericht mit Unterrichtsvorschlägen
Vorbemerkung: Mein Kafka und sein „Prozess“
Da ich Kafkas Roman „Der Prozess“ nun zum dritten Mal in der Kursstufe unterrichte, glaube ich einiges klarer sehen zu können. Zwar meine ich, den Roman die ersten Male auch ganz ordentlich behandelt zu haben - schließlich war er in Baden-Württemberg Abiturspflicht-Lektüre - ich traue mich aber nun eher zur Fokussierung auf einen Themenkomplex, den ich für wesentlich und angemessen für ein Schüler-orientiertes Kafka-Verständnis halte: Freiheit oder Gebundenheit? Frei sein oder in Schuldgefühlen gefangen!
Natürlich weiß ich um die Vielschichtigkeit des Romans und seine existenziellen oder gesellschaftskritischen oder religiösen oder biografischen Deutungsmöglichkeiten und deren komplexe Verwobenheit. Ebenso weiß ich um die vielfältige Rezeptionsgeschichte (ich sage nur: Reclam grün) - es nützt aber nichts, an allem rühren zu wollen, denn das berührt am Ende niemanden, schon gar nicht Schüler.
Also vollziehe ich eine radikale didaktische Reduktion und setze alles auf die Legende vom Türhüter (nicht „Torhüter“), sie ist zu meinem Einstieg und unserem ständigen Bezugspunkt geworden.
Der Mann vom Lande hatte drei Möglichkeiten:
- 1. Er kann die Worte des Türhüters ignorieren, sich ihnen widersetzen und beherzt durch das offene Tor schreiten und schauen, wie es weitergeht. Er würde also der vom Türhüter ausgehenden Macht oder Drohung standhalten.
- 2. Er kann angesichts der vom Türhüter dargestellten Sachlage sein Begehr zurückstellen und nach Hause gehen. Er würde also auf ein für ihn im Augenblick nicht erreichbares Ziel verzichten, es vielleicht ganz hinter sich lassen, es abhaken.
- 3. Er kann warten und hoffen und sich hinhalten und beeindrucken und einschüchtern und zurechtweisen lassen und immer weiter hoffen und warten.
Darüber disputiert Josef K. mit dem Gefängniskaplan. Die Frage scheint zu sein, wer in dieser Legende wen täuscht. Josef K. identifiziert sich mit dem Mann vom Land und sieht ihn vom Wächter getäuscht, dem stellt der Gefängniskaplan folgende Aussage entgegen:
-
„Vor allem ist der Freie dem Gebundenen übergeordnet ... die Geschichte erzählt von keinem Zwang.“ (Reclam S. 201f)
Immer wieder steht Josef K. vor einer Entscheidung und immer wieder heißt es im Roman: „Noch war er frei!“ (S.10) oder „Vorläufig war er noch frei, er konnte noch weitergehen ... Falls er sich aber umdrehte, war er festgehalten“ (S. 193).
Josef K. war frei zu handeln, er tat es immer weniger; der Roman erzählt von keinem Zwang, Josef K. aber lässt sich immer mehr vom Gesetz in einen Prozess „hineinzwingen“, der ihn körperlich und seelisch zermürbt und schließlich zur (Selbst-)Bestrafung bereit macht. Vom trotzig auftretenden Ankläger (vor dem Untersuchungsgericht) wird er zum kindlich zutraulichen Zuhörer im Dom und schließlich zum Führer nach der Richtstätte.
Was schwächt und zermürbt ihn? Die Tatsache, dass er von Beginn an eine Schuld, ein wie auch immer geartetes Schuldigsein für möglich hält, und sich des Schuldgefühls immer weniger erwehren will. Er findet zwar eine konkrete Schuld nie heraus, aber er verschuldet sich zunehmend im Prozess seiner Entschuldigungsversuche: Er instrumentalisiert und erniedrigt Menschen (Frau Grubach, Fräulein Bürstner), handelt unentschlossen in der „Rumpelkammer“, lässt sich ab jetzt treiben (im doppelten Sinne) und verliert den Kampf gegen den Sellvertreter-Direktor. Er wird zum Gehetzten oder fühlt sich gehetzt („Ja, sie hetzen mich“, S. 187), versucht ein letztes Mal im Dom seinen Prozess zu begreifen und ergibt sich schließlich dem, was für ihn „bestimmt“ (S. 206) ist.
Er wird dreimal angerufen, vom Untersuchungsrichter (S. 14), telefonisch vom Gericht (S. 35) und von der Kanzel herab durch die „mächtige“ Stimme des Kaplans (S. 193): Jedes Mal folgt er der Anrufung, widersetzt sich nicht („vorläufig war er noch frei“, S.193), lässt sich binden; und in bizarre Prozesse verstricken. Er handelt nicht frei, auch nicht da, wo er noch als Ankläger auftritt, er ist immer an die Situation und die Erwartung der anderen (oder das, was er für deren Erwartungen hält) gebunden.
Hier eine kleine Phänomenologie des Schuldgefühls im „Prozess“.
Was könnte uns dieser Roman folglich nahebringen, worüber es sich lohnt nachzudenken? Ich behaupte: Wer handelt, verschuldet sich, wer nicht handelt, verschuldet sich auch, aber jeder hat die Freiheit, damit offensiv und beherzt umzugehen: Entweder 1 oder 2, aber nicht 3. Oder ist das zu einfach?
Ohne etwas Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz themengerecht sein sollte.