Liebe und Lyrik - Denkanstöße
Denkanstöße
Denkanstöße zum historischen Stellenwert von Liebes-LYRIK folgen auf der nächsten Seite. |
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„Es war Liebe auf den ersten Blick und damit ein Verbot von Alternativen,
eine Reduktion der unendlichen Menge an Möglichkeiten auf ein Jetzt und Hier.“
(Juli Zeh, Schilf. btb 2009 S. 16)
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Niklas Luhmann: LIEBE - eine Übung 1969 (Suhrkamp 2008)
Niklas Luhmann bezeichnet LIEBE als eines von mehreren „Kommunikationsmedium“, das in einer Welt, die vom Zufälligen bestimmt ist („komplex“ und „kontingent“), die „Selektion von Erlebnisperspektiven aus einem weiten Bereich anderer Möglichkeiten“ (S.13) erlaubt. In dieser Funktion ist Liebe mehr als eine „Motivation zu bestimmtem Handeln - etwa zu geschlechtlicher Hingabe“ (15). Vielmehr „färbt (sie) zunächst das Erleben, verändert damit die Welt als Horizont des Erlebens und Handelns. Sie verleiht gewissen Dingen und Ereignissen, Personen und Kommunikationen eine besondere Überzeugungskraft.“ (15/16)
Geschichtlich wird das Phänomen LIEBE in zwei historischen Ausdrucksformen dargestellt:
Einmal das antike und mittelalterliche Verständnis von Liebe als Bekanntheit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft einem bekannten Menschen gegenüber, also eine für den Erhalt von Gemeinschaft, Sippe oder Stamm relevante Haltung (philia/amicitia). Liebe ist so gesehen eine „Interaktionserleichterung“, die „positive Empfindungen ihrer Mitglieder zueinander, nicht aber gegenüber Fremden erwartet - Liebe aufgrund von Bekanntheit und Vertrautheit, Zugehörigkeit und wechselseitiger Hilfe. Das Erotische ist nicht ausgeschlossen, aber ... nicht wesentlich.“ (29/30)
Die damit verbundene Hoffnung, dass in diesen überschaubaren Gemeinschaft alle einander liebevoll zugetan sind, hat sich nicht realisiert, ist „utopisch“ geblieben, vielmehr ging die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung, nicht „dass man alle liebt, sondern ... dass man einen beliebigen, ausgewählten anderen Menschen liebt.“ (30)
Mit dem Ausgang des Mittelalters wird das Kommunikationsmedium LIEBE neu umrissen, nämlich als „Passion“, als Leidenschaft, die das Verhältnis der Individuen in der Gemeinschaft neu gestalten lässt, dadurch eine Reihe von Problemen löst und dafür neue Dysfunktionalitäten aufweist. Liebe, als Passion, zuvor zwar vorhanden, aber ohne gesellschaftliche Funktion, wird nun zum zentralen Merkmal:
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„Mit ihr verbinden sich in der heute geläufigen, ja fast schon trivialisierten Vorstellung Sinnmomente wie: willenloses Ergriffensein und krankheitsähnliche Besessenheit, der man ausgeliefert ist, Zufälligkeit der Begegnung und schicksalhafte Bestimmung füreinander, unerwartetes (und doch sehnlich erwartetes) Wunder, das einem irgendwann im Leben widerfährt, Unerklärlichkeit des Geschehens, Impulsivität und ewige Dauer, Zwanghaftigkeit und höchste Freiheit der Selbstverwirklichung - all dies Sinnbestimmungen, die eine positive oder negative Bewertung offenlassen, sich widersprechen können und für sehr verschiedenartige Situationen ein Deutungsschema bereithalten, die aber in einem Grundzug konvergieren: daß der Mensch sich in Angelegenheiten der Liebe von gesellschaftlicher und moralischer Verantwortung freizeichnet. „Passion“ meint einen Zustand, in dem man sich passiv leidend, nicht aktiv wirkend vorfindet. Das schließt Rechenschaftspflicht für passioniertes Handeln an sich noch nicht aus. [...] Die Lage wendet sich jedoch, wenn Passion als Institution Anerkennung findet und als condition sozialer Systeme erwartet, ja gefordert wird - wenn erwartet wird, daß man einer Passion verfällt, für die man nichts kann, bevor man heiratet.“
Hiermit ist der „romantische Liebesmythos“ bezeichnet, dass es „bei wahrer, echter Liebe ... weder auf Stand noch auf Geld, weder auf Reputation noch auf Familie noch auf sonstige ältere Loyalitäten ankommen kann. Das Zerstörerische daran wird gesehen - und gerade mitgenossen.“ Davon gebe das „große literarische Thema der standeswidrigen oder im weitesten Sinne unvernünftigen Liebe“ Belege und Beispiele genug. (33)
Die „Institutionalisierung“ des romantischen Liebesmythos als „Ehegrundlage“ ist für Luhmann eine „entschieden neuzeitliche Errungenschaft“ (33). Sie ist in ihren ersten Formulierungen „dem Sentimentalismus des 18. Jahrhunderts zu danken und dort Bestandteil bürgerlicher Kritik (an) aristokratischer Unmoral“. Dadrch aber wird passionierte Liebe zum gesellschaftlichen Programm, mit dem soziale Erwartungen verknüpft werden. Passioniertes Lieben wird zur Erwartung, auf die hin gelernt und erzogen wird.“ (34) Am Ende dieser Entwicklung finden wir in hochmodernen Gesellschaften schließlich „die Liebesheirat“ (36).
- „Sie ist 'formal frei‘ institutionalisiert wie Arbeit, Vertrag und Organisation. Das heißt nicht, daß alle sozialen Einflüsse auf die Partnerwahl verschwunden wären - schon ein Blick in die Statistik zeigt, daß schichtenhomogene Partnerwahl dominiert -, wohl aber, daß die Kontrollen in der Form selbstauferlegter Rücksichten beim Sich-Verlieben in der Form vorsorglicher elterlicher Kontaktbahnung oder Kontaktverhütung oder auf ähnliche, von der institutionellen Vorschrift der Liebe abweichende Weise geübt werden müssen.“
Dass dies so ist, deutet darauf hin, dass die Gesellschaft nunmehr das Risiko beliebiger Heiraten tragen kann, also von solchen Steuerungsmechanismen unabhängig geworden ist. Mehr noch: Die „Freigabe des Lebens und Liebens nach eigenem Gefühl“ (37) erhöht die Realisierungschancen des Kommunikationsmediums Liebe, denn in „sehr komplexen Gesellschaften mit ausgeprägten Persönlichkeitsindividualisierung kann nur durch hohe Kontaktmobilität erreicht werden, daß Partner, die Intimbeziehungen bilden können, zueinander finden. [...] Die publizierten Idole der Liebe, vor allem äußerliche Anhaltspunkte wie körperliche Schönheit oder Attraktivität, bilden dafür generalisierte Suchmuster. “(37/8)
In der Literatur des 18. Jahrhunderts werde dann vollends die „Reflexivität des Liebens“ (39) registriert und legitimiert:
- „Man liebt das Lieben und deshalb einen Menschen, den man lieben kann. [...]
Reflexivität des Liebens ist mehr als ein einfaches Mitfungieren des Ichbewußtseins in der Liebe, mehr auch als das bloße Bewußtsein der Tatsache, daß man liebt und geliebt wird. Es gehört dazu, daß ein entsprechendes Gefühl gefühlsmäßig bejaht und gesucht wird; daß man sich als Liebenden und Geliebten liebt und auch den anderen als Liebenden und Geliebten liebt, also gerade sein Gefühl auf diese Koinzidenz der Gefühle richtet. Die Liebe richtet sich auf ein Ich und Du, sofern sie beide in der Beziehung der Liebe stehen, das heißt, eine solche Beziehung wird sich wechselseitig ermöglichen - und nicht, weil sie gut sind, oder schön sind, oder edel sind, oder reich sind.
Reflexivität des Liebens ist eine Möglichkeit für alle Talente und Situationen [...] Sie kann, braucht aber nicht auf eine Verstärkung des Gefühls hinauslaufen. Was sie verstärkt ist die Genußfähigkeit des Gefühls und auch die Möglichkeit, am Gefühl zu leiden. Man kann jetzt Liebe schon lieben, ohne bereits einen Partner zu haben oder nur einen solchen, der nicht wiederliebt. [...] Setzt nicht „Liebe auf den ersten Blick“ voraus, daß man schon vor dem ersten Blick verliebt war?“ (40f)
- Unterstreiche im Text die drei für Dich wichtigsten Stellen.
- Nenne literarische Texte, auf welche die Ausführungen Luhmanns zutreffen könnten.
- Hat sich in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts Entscheidendes an Liebe und Liebesgefühl verändert?