NATUR - oder was dafür gehalten wird ... Denkanstöße
I. Naturerkundungen:
- Gruppe 1: Geht ins Schulgelände und sammelt dort mindestens fünf Gegenstände, die irgendetwas mit „Natur” zu tun haben! Stellt eure Sammlung vor und begründet eure Wahl.
- Gruppe 2: Geht ins Schulgelände und sammelt dort fünf Gegenstände, die nichts mit „Natur” zu tun haben! Bringt diese mit und begründet eure Wahl.„
- Gruppe 3 (der Großteil des Kurses / der Klasse): bleibt in der Schule und stellt schriftlich (!) Vermutungen darüber an, was Gruppe 1 oder Gruppe 2 mitbringen könnte.
- Gruppe 4: Führt in der Bibliothek und/oder im Internet Recherchen zum Begriff „Natur” durch und einigt euch auf eine Definition.
Erweiterungen: - Gruppe 5 (zur Erweiterung): Erstellt einen Wortspeicher, in dem die Wörter „Natur” und „natürlich” in allen erdenklichen Verbindungen vorkommen. Lässt sich das ordnen?
- Gruppe 6: Sammelt Vergleiche, in denen Naturphänomene vorkommen, z. B. schön wie / schöner als eine Rose ... Erfindet noch eigene dazu.
II. Was ist das: Natur?
- „Natur, in vielfältiger Funktion bedeutender und häufig zentraler Gegenstand der Dichtung. Sie ist primärer Daseins- und Erlebnisraum des Menschen; zum Ausdruck seiner elementaren Empfindungen und Gefühle bedarf er, bedarf die Poesie der Naturbilder. Gerade die Lyrik lebt von Naturbildern: der 'Natureingang' des Minnesangs, die Naturanrufung und das Beschwören einer ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur in der Goethezeit, der romantische Bildzauber, die 'naturmagische' Lyrik des 20. Jh.s.
Neben dieser gleichsam elementaren Bedeutung der N. und des Naturbilds für die Lyrik gibt es eine spezifische Naturdichtung, Dichtung, die N. thematisiert: als Objekt ästhetischer Anschauung, als Detail, als Landschaft (Barthold Heinrich Brockes, Annette v. Droste-Hülshoff, Wilhelm Lehmann, Karl Krolow u. a.), als über sich hinausweisender Ort (etwa in der allegorisierenden Naturdichtung des Barock, der symbolischen Naturauffassung Goethes und der Romantiker u. a.), als Gegenwelt zur als mangelhaft empfundenen gesellschaftlichen Wirklichkeit (in der Hirten- und Schäferdichtung und der Idylle).
aus: Volker Meid, Sachwörterbuch zur Deutschen Literatur, CD-ROM-Ausgabe 2000,
Philipp Reclam jun., Stuttgart, S. 755
Fragen zum Text:
-
Schauen wir einmal genauer hin:
- Natur: "primärer Daseins- und Erlebnisraum des Menschen"
- Was mag mit dem Adjektiv "primär" in diesem Zusammenhang gemeint sein?
- Warum könnte man diesen Begriff auch für falsch halten?
- Ist ein primäres Naturerlebnis vorstellbar?
III. Von der richtigen und der künstlichen Natur: Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft:
-
„ Der Gesang der Vögel verkündigt Fröhlichkeit und Zufriedenheit mit seiner Existenz. Wenigstens so deuten wir die Natur aus, es mag dergleichen ihre Absicht sein oder nicht. Aber dieses Interesse, welches wir hier an Schönheit nehmen, bedarf durchaus, dass es Schönheit der Natur sei; und es verschwindet ganz, sobald man bemerkt, man sei getäuscht, und es sei nur Kunst: sogar, dass auch der Geschmack alsdann nichts Schönes, oder das Gesicht etwas Reizendes mehr daran finden kann. Was wird von Dichtern höher gepriesen, als der bezaubernd schöne Schlag der Nachtigall, in einsamen Gebüschen, an einem stillen Sommerabende, bei dem sanften Lichte des Mondes? Indessen hat man Beispiele, dass, wo kein solcher Sänger angetroffen wird, irgend ein lustiger Wirt seine zum Genuß der Landluft bei ihm eingekehrten Gäste dadurch zu ihrer größten Zufriedenheit hintergangen hatte, dass er einen mutwilligen Burschen, welcher diesen Schlag (mit Schilf oder Rohr im Munde) ganz der Natur ähnlich nachzumachen wußte, in einem Gebüsche verbarg. Sobald man aber inne wird, dass es Betrug sei, so wird niemand es lange aushalten, diesem vorher für so reizend gehaltenen Gesänge zuzuhören; und so ist es mit jedem anderen Singvogel beschaffen. Es muß Natur sein, oder von uns dafür gehalten werden, damit wir an dem Schönen als einem solchen ein unmittelbares Interesse nehmen können; noch mehr aber, wenn wir gar andern zumuten dürfen, daß sie es daran nehmen sollen, welches in der Tat geschieht, indem wir die Denkungsart derer für grob und unedel halten, die kein Gefühl für die schöne Natur haben (denn so nennen wir die Empfänglichkeit eines Interesse an ihrer Betrachtung), und sich bei der Mahlzeit oder der Bouteille am Genusse bloßer Sinnesempfindungen halten."
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 10, Kritik der Urteilskraft § 42. Vom intellektuellen Interesse am Schönen, Frankfurt am Main 1977, S. 231-236.
Fragen zum Text
-
„Es muss Natur sein, oder von uns dafür gehalten werden ..."
- Findet andere, aktuellere Beispiele für das, was Immanuel Kant hier „Täuschung” nennt.
- Ist der Begriff "Täuschung" noch angemessen?
IV. Woher rührt unsere Liebe zur Natur? Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795)
- „Es gibt Augenblicke in unserm Leben, wo wir der Natur in Pflanzen, Mineralien, Thieren, Landschaften, so wie der menschlichen Natur in Kindern, in den Sitten des Landvolks und der Urwelt, nicht weil sie unsern Sinnen wohlthut, auch nicht, weil sie unsern Verstand oder Geschmack befriedigt ..., sondern bloß weil sie Natur ist, eine Art von Liebe und von rührender Achtung widmen. Jeder feinere Mensch, dem es nicht ganz und gar an Empfindung fehlt, erfährt dieses, wenn er im Freien wandelt, wenn er auf dem Lande lebt oder sich bei den Denkmälern der alten Zeiten verweilet, kurz, wenn er in künstlichen Verhältnissen und Situationen mit dem Anblick der einfältigen Natur überrascht wird. Dieses nicht selten zum Bedürfniß erhöhte Interesse ist es, was vielen unserer Liebhabereien für Blumen und Thiere, für einfache Gärten, für Spaziergänge, für das Land und seine Bewohner, für manche Produkte des fernen Alterthums u. dgl. zum Grunde liegt; Vorausgesetzt, daß weder Affektation, noch sonst ein zufälliges Interesse dabei im Spiele sei. Diese Art des Interesses an der Natur findet aber nur unter zwei Bedingungen statt. Fürs erste ist es durchaus nöthig, daß der Gegenstand, der uns dasselbe einflößt, Natur sei oder doch von uns dafür gehalten werde; zweitens, daß er (in weitester Bedeutung des Wortes) naiv sei, d. h., daß die Natur mit der Kunst im Contraste stehe und sie beschäme. Sobald das Letzte zu dem Ersten hinzukommt, und nicht eher, wird die Natur zum Naiven.
Natur in dieser Betrachtungsart ist uns nichts andres, als das freiwillige Dasein, das Bestehen der Dinge durch sich selbst, die Existenz nach eignen und unabänderlichen Gesetzen.
Diese Vorstellung ist schlechterdings nöthig, wenn wir an dergleichen Erscheinungen Interesse nehmen sollten. Könnte man einer gemachten Blume den Schein der Natur mit der vollkommensten Täuschung geben, ... so würde die Entdeckung, daß es Nachahmung sei, das Gefühl, von dem die Rede ist, gänzlich vernichten. Daraus erhellet, daß diese Art des Wohlgefallens an der Natur kein ästhetisches, sondern ein moralisches ist; denn es wird durch eine Idee vermittelt, nicht unmittelbar durch Betrachtung erzeugt; auch richtet es sich ganz und gar nicht nach der Schönheit der Form. Was hätte auch eine unscheinbare Blume, eine Quelle, ein bemooster Stein, das Gezwitscher der Vögel, das Summen der Bienen u.s.w. für sich selbst so Gefälliges für uns? Was könnte ihm gar einen Anspruch auf unsere Liebe geben? Es sind nicht diese Gegenstände, es ist eine durch sie dargestellte Idee, was wir in ihnen lieben. Wir lieben in ihnen das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Dasein nach eigenen Gesetzen, die innere Nothwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst.
Friedrich Schiller: Über naive und sentimentale Dichtung, 1.Kapitel (zit. nach Projekt Gutenberg)
Fragen zum Text
- Gibt es solche "Augenblicke" des Gerührt- oder Berührtseins noch?
- Nach Friedrich Schiller gehört zum "Wohlgefallen" an der Natur vor allem eine "Idee". Wie ist das zu verstehen?
- Kann man an Natur-Erscheinungen vielleicht auch ohne eine "Idee" Gefallen finden?
V. Wozu dient sie, wem nützt Natur? Heinrich Heine: Harzreise (1824)
- „Von Goslar ging ich den andern Morgen weiter ... Ich bestieg Hügel und Berge, betrachtete wie die Sonne den Nebel zu verscheuchen suchte, wanderte freudig durch die schauernden Wälder, und um mein träumendes Haupt klingelten die Glockenblümchen von Goslar. In ihren weißen Nachtmänteln standen die Berge, die Tannen rüttelten sich den Schlaf aus den Gliedern, der frische Morgenwind frisierte ihnen die herabhängenden, grünen Haare, die Vöglein hielten Betstunde, das Wiesental blitzte wie eine diamantenbesäete Golddecke, und der Hirt schritt darüber hin mit seiner läutenden Herde. Ich mochte mich wohl eigentlich verirrt haben. Man schlägt immer Seitenwege und Fußsteige ein, und glaubt dadurch näher zum Ziele zu gelangen. Wie im Leben überhaupt, geht's uns auch auf dem Harze. Aber es gibt immer gute Seelen, die uns wieder auf den rechten Weg bringen; sie tun es gern, und finden noch obendrein ein besonderes Vergnügen daran, wenn sie uns mit selbstgefälliger Miene und wohlwollend lauter Stimme bedeuten: welche große Umwege wir gemacht, in welche Abgründe und Sümpfe wir versinken konnten, und welch ein Glück es sei, daß wir so wegkundige Leute wie sie sind, noch zeitig angetroffen. Einen solchen Berichtiger fand ich unweit der Harzburg. Es war ein wohlgenährter Bürger von Goslar, ein glänzend wampiges, dummkluges Gesicht; ...
Er machte mich auch aufmerksam auf die Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit in der Natur. Die Bäume sind grün, weil grün gut für die Augen ist. Ich gab ihm recht und fügte hinzu, dass Gott das Rindvieh erschaffen, weil Fleischsuppen den Menschen stärken, daß er die Esel erschaffen, damit sie den Menschen zu Vergleichungen dienen können, und daß er den Menschen selbst erschaffen, damit er Fleischsuppe essen und kein Esel sein soll. Mein Begleiter war entzückt, einen Gleichgestimmten gefunden zu haben, sein Antlitz erglänzte noch freudiger, und bei dem Abschiede war er gerührt.
Solange er neben mir ging, war gleichsam die ganze Natur entzaubert, sobald er aber fort war, fingen die Bäume wieder an zu sprechen, und die Sonnenstrahlen erklangen, und die Wiesenblümchen tanzten, und der blaue Himmel umarmte die grüne Erde. Ja, ich weiß es besser: Gott hat den Menschen erschaffen, damit er die Herrlichkeit der Welt bewundere. Jeder Autor, und sei er noch so groß, wünscht, dass sein Werk gelobt werde. Und in der Bibel, den Memoiren Gottes, steht ausdrücklich: daß er die Menschen erschaffen zu seinem Ruhm und Preis.”
Sämtliche Werke II Artemis & Winkler Verlag München Reisebilder (Kap. 6), oder: Projekt Gutenberg.
Fragen zur Erörterung: Die „NATUR” ist da,
- um dem Menschen zu nützen
- um vom Menschen bewundert zu werden
- um gepflegt und geschützt zu werden
- um den Menschen zu bezaubern, zu erfreuen, zu ergötzen
- zu keinem Zwecke, nur für sich.
Welche Haltung spricht aus Heinrich Heines Naturdarstellung?
Ohne etwas Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz themengerecht sein sollte.