Das Nachleben
Als das Nibelungenlied
wiederentdeckt wurde, war die Germanistik noch eine Wissenschaft
in den Kinderschuhen und hatte alle Hände voll zu tun, aus dem
Rankenwerk der damaligen, von ausländischen Einflüssen befrachteten
Moderne das "alte" deutsche Kulturgut herauszuschälen. Es war
groß, schon vom Umfang her, und den Vergleich dazu fand man in
Homers Ilias. Wie diese musste auch das Nibelungenlied uralte
Erzählungen aus mythischer Vorzeit bündeln, wie Homer musste auch
dieser Dichter ein aus der Volksseele herrührendes unnennbares
Kollektiv gewesen sein.
Im Lauf des
19. Jahrhunderts wuchs die nationale Schwärmerei an, und das Nibelungenlied
sah sich in den Rang eines, ja DES nationalen Epos gerückt. Es
war groß, es war gewaltig, und es thematisierte eine Tragik, die
man nur von den altgriechischen Tragödien kannte.
Aber warum
das Nibelungenlied? Hatte das deutsche Volk keine Auswahl? Kein
anderes Thema als Verrat, Mord, Heimtücke und grauenhafte Gemetzel?
Nein, hatte
es nicht. Weil kein anderes Thema das Trauma des deutschen Volkes
gleichermaßen widerspiegelte, kein anderes Thema besser geeignet
war, den trotzigen Schmerz über die verlorene Revolution von 1848/49,
über den verlorenen Schatz der Freiheit zu wiederholen.
Sigfried im
Ersten Weltkrieg gegen eine Welt von Feinden - das ist eine fatale
Missdeutung des übermütigen Tölpels, der das Geschick der Götter
verriet und die Welt in den Untergang reißt. Aber: Viel Feind,
viel Ehr, das war das nationale Pathos der wilhelminischen Zeit.
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