Privaterziehung oder öffentliche Schule?
Eine Diskussion im ausgehenden 18. Jahrhundert
- Vermischte Stimmen:
- F. Hölderlin: Schule oder Privaterziehung? (Briefe)
- J.W.Goethe über 'öffentliche Schulen'("Dichtung und Wahrheit")
- J.G. Feder: Bitterböse Schilderung eines Hofmeisterkandidaten 1774
- Friedrich der Große: 1779 über die Bildung auf dem "platten Lande"
- Gymnasialdirektor G.W.F. HEGEL (in Nürnberg) an Friedrich Immanuel Niethammer: Beschwerde über den fehlenden "Abtritt" in seiner Schule (12.2.1809):
- Argumente für und dagegen
- Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) an seinen Vater über seine Schwierigkeiten als Hofmeister mit dem Arbeitgeber (10.5.1793)
- Friedrich Schleiermacher an seine Schwester Charlotte von Kathen 1814 über die Vorteile der Schulbildung
- Carl Müller: Schädlichkeit der Hauserziehung für Erzieher, Zögling und Staat, Stendal 1783 Unzureichende pädagogische Ausbildung Rücksichten auf die Grillen der Herrschaften: Die Nachteile der Privaterziehung für den Staat: Wachsen und Gedeihen der öffentlichen Schule durch die Teilnahme der Vornehmen:
- F.A.Crome, Über die Erziehung durch Hauslehrer(1788) Über den Werth der Erziehung durch Hauslehrer im Hinblick auf die Beschäftigungslage junger Männer (Arbeitsbeschaffung) die finanzielle Lage der Eltern und die Gefahren der Stadt die Möglichkeit der besseren Beaufsichtigung und damit sittlichen Bildung Über die Mängel und Nachtheile des Hauslehrerwesens Gefahr der Unselbständigkeit und Disziplinlosigkeit, wenn zu lange im Hause Die Unterschiedlichkeit der Altersklassen in einer Familie Die mangelnde Reife und Ausbildung der Hauslehrer Fazit: Die Verpflichtung des Staates, für bessere Schulen zu sorgen
- Peter Villaume, Professor an einem Berliner Gymnasium 1788: "Ich glaube also, daß der Staat nicht allein kann, sondern MUSS für die Erziehung sorgen;..."
- Weitere Materialien
- Aus Wilhelm Roessler: Die Entstehung des modernen
Erziehungswesens in Deutschland, Stuttgart 1961 (S.243 ff)
Fünftes Kapitel: Die Gründung eines neuen Erziehungswesens
Im Frühjahr 1795 unternimmt Hölderlin von Jena aus "eine kleine Fußreise" nach Halle, Dessau und Leipzig. Dabei besucht er in Halle eine öffentliche Prüfung. Über diese noch im 17. Jhdt von dem Theologen August Hermann Frankke (1663-1727) im Geiste des Pietismus gegründete Erziehungsanstalt schreibt Hölderlin der Schwester:
"In Halle war mir das Waisen- und Erziehungshaus das Merkwürdigste. Die Simplizität seines Äußern freute mich. Von dem Geiste, der da in der Erziehung herrscht, kann ich, als Augenzeuge, nur so weit urteilen, als ich bei einer öffentlichen Prüfung der Waisenkinder und andern Zöglinge bemerken konnte. Da herrschte ganz die kleinliche, spielende, pedantische und doch kindische Manier der Pädagogen, die eine Weile so großen Lärm machten. Es ist freilich schwer, gegen das Kind in Belehrung und Behandlung sich so zu äußern, wie es der Menschheit würdig ist, und wie man einen edlen männlichen Geist und keinen egoistischen, faden, arbeitsscheuen Schwächling aus ihm zu bilden hoffen kann, also mit reinen Begriffen, und strengen, aber gerechten Forderungen, und doch darüber nicht zu vergessen, daß man es mit einem Kinde zu tun hat; aber es ist doch auch zu arg, im Wesentlichen kindisch, in Nebensachen pedantisch zu sein, kleinliche Begriffe so vorzutragen, daß das Kind kein Wort versteht von dem feierlichen Bombaste, und armselige Forderungen so wichtig zu nehmen, als ob an ihnen das Heil der Welt läge." (An die Schwester 20. April 1795)
Des Weiteren interessierte Hölderlin auch das Schulgebäude in Dessau, welches der Fürst den Schulreformern zur Einrichtung des 'Philantropin' zur Verfügung gestellt hatte. Man kann diese Fußreise als Informationsreise betrachten, auf der Hölderlin sich mit dem Stand der öffentlichen Erziehung bekannt macht. Das Ergebnis dürfte für ihn wenig überzeugend gewesen sein, denn Ende desselben Jahres, schreibt er an seinen Gönner Ebel, der ihm die Hauslehrerstelle im Hause Gontard vermittelt hatte,
"daß in unserer jetzigen Welt die Privaterziehung noch beinahe das einzige Asyl (sei), wohin man sich flüchten könnte mit seinen Wünschen und Bemühungen für die Bildung des Menschen." (2.9.95 StA 6,1 S.177)
Ein Jahr später schlug ihm die Mutter die respektable Position des Präzeptors (=Oberlehrer) an
der Nürtinger Lateinschule vor. Er antwortete:
"Sie können ... wohl glauben, daß es mir nicht so leicht wird, den günstigen ehrenhaften Ruf meiner guten Mitbürger unbenützt zu lassen."Aber er könne jetzt das so zuvorkommende Haus der Gontards und vor allem seinem Zögling nicht verlassen, zum anderen fürchte er um seine gerade erst wiedergewonnenes geistiges und körperliches Gleichgewicht, deshalb:
"Schulmeistern könnt' ich unmöglich, und 40 Knaben nach reinen Grundsätzen und mit anhaltendem belebendem Eifer zu erziehen, ist wahrhaft eine Riesenarbeit, besonders wo häusliche Erziehung und anderweitige Anstalten so sehr entgegenwirken."
(20.11.1796 StA 6,1 S.225)
Ein weiteres Jahr später, im November 1797, klingt es etwas anders, wenn er über seine Stellung in Frankfurt schreibt:
"... dieses ganze Jahr haben wir fast beständig Besuche, Feste und Gott weiß! was alles gehabt, wo dann freilich meine Wenigkeit immer am schlimmsten wegkommt, weil der Hofmeister besonders in Frankfurt überall das fünfte Rad am Wage ist, und doch der Schicklichkeit wegen muß dabei sein."(An die Mutter, Nov. 1797)
Und wieder ein Jahr später, mittlerweile in Homburg, zieht er das Fazit:
"Ich gestehe Ihnen, ich hätte sehr gewünscht ... in meiner vorigen Lage noch länger zu bleiben ... Aber der unhöfliche Stolz, die geflissentliche tägliche Herabwürdigung aller Wissenschaft und aller Bildung, die Äußerungen, daß die Hofmeister auch Bedienten wären, daß sie nichts besonders für sich fordern könnten, weil man sie für das bezahlte, was sie täten, u.s.w. ... das kränkte mich ... doch immer mehr, und gab mir manchmal ei- nen stillen Ärger, der für Leib und Seele niemals gut ist."(An die Mutter, Homburg 10.10. 1798)
GOETHE zur 'öffentlichen Schule'
"Hartnäckig setzte der Vater die erste Zeit seinen Plan durch; doch als zuletzt auch das Dach teilweise abgetragen wurde und ... der Regen bis zu unsern Betten gelangte, so entschloß er sich, obgleich ungern, die Kinder wohlwollenden Freunden ... auf eine Zeitlang zu überlassen und sie in eine öffentliche Schule zu schicken. Dieser Übergang hatte manches Unangenehme: denn indem man die bisher zu Hause abgesondert, reinlich, edel, obgleich streng gehaltenen Kinder unter eine rohe Masse von jungen Geschöpfen hinun- terstieß, so hatten sie vom Gemeinen, Schlechten, ja Niederträchtigen ganz unerwartet alles zu leiden, weil sie aller Waffen und aller Fähigkeiten ermangelten, sich dagegen zu schützen."
(J. W. Goethe: Dichtung und Wahrheit, Hamburger Ausgabe S. 14/15)
"Es ist ein frommer Wunsch aller Väter, das, was ihnen selbst abgegangen, an den Söhnen realisiert zu sehen, so ungefähr als wenn man zum zweiten Mal lebte und die Erfahrung des ersten Lebenslaufes nun erst recht nutzen wollte. Im Gefühl seiner Kenntnisse, in Gewißheit einer treuen Ausdauer und im Mißtrauen gegen die damaligen Lehrer nahm der Vater sich vor, seine Kinder selbst zu unterrichten und nur so viel, als es nötig schien, einzelne Stunden durch eigentliche Lehrmeister zu besetzen. Ein pädagogischer Dilettantismus fing sich überhaupt schon zu zeigen an. Die Pedanterie und Trübsinnig- keit der an öffentlichen Schulen angestellten Lehrer mochte wohl die erste Veranlassung dazu geben. Man suchte nach etwas Besserem und vergaß, wie mangelhaft aller Unterricht sein muß, der nicht durch Leute vom Metier erteilt wird." (S.30)
"Privatstunden, welche sich nach und nach vermehrten, teilte ich mit Nachbarskindern. Dieser gemeinsame Unterricht förderte mich nicht; die Lehrer gingen ihren Schlendrian, und die Unarten, ja manchmal die Bösartigkeiten meiner Gesellen bachten Unruh, Verdruß und Störung in die kärglichen Stunden." (S.32)
Schilderung eines Kandidaten für eine Hofmeisterstelle
1774
"Ich weiß nicht, wie
ein gewisser, allererst von der Universität zurückgekommener Herr A. die
Nachricht bekommen hatte, daß ich einen Hofmeister für ein adeliges Haus in
unserer Nachbarschaft suchte, kurz, er kam nach S. Er mochte sich wohl
vorgenommen haben, mit allem Anstande zu erscheinen. Denn er war so steif
aufgeputzt, wie an einem Ehrentage. An Komplimenten ließ er es gewiß auch
nicht fehlen. Sobald er mich aus der Stube ihm entgegenkommen sah, bückte
er sich bis auf die Erde, warf, ohne mich anzusehen, vielerlei untertänig
und gnädig durcheinander und machte mir mit seiner Höflichkeit Mühe genug,
bis ich ihn in die Stube brachte. Die gute Miene und der seidene Rock des
Grafen machten ihn noch ehrerbietiger. Exzellenz, und was ihm sonst für
Titulaturen einfielen, wurden verschwendet. Der gute Graf, der so etwas
noch nicht gesehen hatte und zur Sittsamkeit gewöhnt war, wußte nicht, wie
er seine Höflichkeiten genug erwidern sollte, kam selbst in Verlegenheit
darüber und ging erschrocken und beschämt zur Stube hinaus. Ich tat alles,
was ich nur tun konnte, um diesem guten Menschen es leicht zu machen,
anfangs schien es unmöglich zu sein, und nach einer halben Stunde war
es mir fast gelungen. Denn sobald er die Furcht abgelegt hatte, wurde er
sogleich so vertraut, daß er ohne den geringsten Anlaß
meinerseits sich erkundigte, wie stark meine Besoldung wäre, was ich
und wo ich studiert hätte, ob ich Tabak rauchte. Ja, ich glaube, wenn
ich noch eine halbe Stunde mit ihm allein gewesen wäre, er hätte
mir Brüderschaft angetragen. - Man ging zur Tafel. Zum Unglück
für A. war sie diesmal wegen einiger Fremden zahlreich. Er stutzte
sehr und wußte nicht, was er machen sollte. Auf eine sehr
ungeschickte Art nahm er seinen Platz ein. Aufgerichtet zu sitzen schien
seinem Körper etwas Unmögliches zu sein. Den Löffel
faßte er so plump an, daß er ihn über die Hälfte mit
der Hand bedeckte; viele Male ließ er Messer und Gabel fallen; seine
Nachbarn waren immer in Gefahr, von ihm gestoßen oder beschmutzt, und
die Gläser umgeschmissen zu werden. Selten wagte er jemand anzusehen,
außer mit ziemlich freien Blicken Frauenzimmer. Man fragt ihn
deutsch, ob er französisch spräche. Sogleich fing er an zu
parlieren, auf eine Art, davon allen, die die Sprache halb verstunden, die
Ohren wehetaten. Auf die Frage, was er studiert habe, ... konnte er ...
versichern, daß er außer Theologie hauptsächlich Sprachen
und Philosophie vorzüglich getrieben hätte. Einge Gäste
ließen sich mit ihm in eine Unterredung vom akademischen Leben ein.
Anfangs wollte er ausweichen. Als er aber glaubte, daß ihnen Ernst
wäre, und der Wein ihn beherzt gemacht hätte, stattete er hiervon
als Kenner weitläufige Berichte ab. Ich wollte wünschen,
daß dieses Gemälde, das ich nach der Natur lieferte, nun auf ein
Original passe. Aber gewiß, man muß staunen, wenn man die
Subjekte nacheinander ansieht, die sich um Hofmeisterstellen bewerben, wie
wenig sie sie Wirkung dieses Amtes kennen und wie wenig sie sich dazu
anzuschicken bedacht sind. Der größte Teil der Studierenden
hält eine solche Stelle noch immer für die bequemste Gelegenheit,
um die Kandidatenjahre hinzubringen. ... Und was gibt es unter diesen für Leute! Was für Sitten! "
(J.G.H. Feder, Der neue Emil, 2.Aufl. Erlangen 1774, S. 244 - zitiert nach Hans Gerth, Bürgerliche Intelligenz um 1800: zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus, Göttingen 1976 S. 120/1)
Friedrich der Große an den Minister von Zedlitz - 1779
Nach Einführung des General-Landschulreglements 1763 ging es darum festzulegen, was in den
Schulen des Landes in welchem Umfange zu unterrichten ist. In diesem Brief
äußert sich Friedrich der Große recht ausführlich über die Beudeutung von
Rhetorik und Logik für das "Raisonieren" und schlägt hierfür einige
Klassiker vor (Quintilian und Wolf). All dies gilt für die Schulen der
großen Städte Preußens, genannt werden Königsberg, Stettin, Breslau,
Berlin, Magdeburg. Auch die kleineren Städte sollen berücksichtigt werden.
Zum Schluss des Briefes kommt der Preußenkönig dann noch auf das "platte
Land" zu sprechen:
"Daß die Schulmeister auf dem Lande die Religion und
die Moral den jungen Leuten lehren, ist recht gut, und müssen sie davon
nicht abgehen, damit die Leute bei ihrer Religion hübsch bleiben und nicht
zur katholischen übergehen ... Darum müssen die Schulmeister sich Mühe
geben, daß die Leute Attachement zur Religion behalten, und sie soweit
bringen, daß sie nicht stehlen und nicht morden... sonsten ist es auf dem
platten Lande genug, wenn sie ein bisgen Lesen und Schreiben lernen; wissen
sie aber zu viel, so laufen sie in die Städte und wollen Sekretärs und so
was werden; deshalb muß man auf´n platten Lande den Unterricht der Leute so
einrichten, daß sie das Notwendige ... lernen, aber auch in der Art, daß
die Leute nicht aus den Dörfern weglaufen, sondern hübsch da bleiben."
(Ulrich Herrmann: AUFKLÄRUNG UND ERZIEHUNG, Weinheim 1993 S.195 ff)
Gymnasialdirektor J.W.G. HEGEL, der Philosoph, an
Friedrich Immanuel Niethammer über den fehlenden "Abtritt" in seiner
Schule in Nürnberg (12.2.1809):
"Ein zweiter Umstand ist überhaupt das Äußerliche unserer
Schulen; doch darüber ist es überflüssig, im allgemeinen ein Wort zu
verlieren; nur dies kann ich nicht übergehen, daß in den beiden Lokalen,
der Sebalder und Lorenzer Schule, also in dem Progymnasium, den Primär- und
Kollaboraturschulen, sich kein Abtritt befindet. Diese Geschichte ist gar
zu schmählich und sozusagen scheußlich. Ich habe den Kultusadministrator,
unter dem diese Gebäude noch stehen, und den Bauinspektor wiederholentlich
schriftlich und mündlich um Abhelfung dieses schimpflichen Übelstandes
angegangen, heute ist noch nichts geschehen. Sie haben uns ... eine
doppelte Mittelklasse im Gymnasium und eine zweite Primärklasse dekretiert;
zwei Abtritte wären uns eine größere Wohltat, aber nicht dekretierte,
sondern gemachte. - Bei der Aufnahme von Schülern muß ich nun jedesmal
auch danach die Eltern fragen, ob ihre Kinder die Geschicklichkeit haben,
ohne Abtritt aus freier Faust zu hoffieren. - Es ist dies ein neuer Teil
des öffentlichen Unterrichts, dessen Wesentlichkeit ich habe kennenlernen,
nämlich der Hinterteil derselben. - Indem ich nunmehr mich an das
Generalkommissariat gewendet habe, um durch die Polizei Abhülfe zu erhalten
- weil in einem der Lokale das Militär und die Nachtwächter den notwendigen
Ort in Besitz haben, - so ist jetzt zu erwarten, wie weit wir damit kommen.
Aber Sie werden sich selbst vorstellen, wie sehr diese Salopperie des
Äußerlichen, die sich sogar auf jenen scheußlichen Übelstand erstreckt, das Publikum zu keinem Zutrauen kommen läßt.? (a.a.O.S.177)