Begriff & Merkmale Novelle - Kurzgeschichte: Vergleich Biedermeier & Vormärz (1834) Ian McEwan über die Novelle (2012)

Begriff, Gattungsgeschichte und -merkmale

NOVELLE → novella (ital.) Neuigkeit

Als literarischer Begriff bekannt seit BOCCACCIOs "Decamerone" (1348/53):
An einem Ort unweit der Stadt Florenz, in der die Pest herrscht (1348), werden in einer Gesellschaft an zehn Tagen lebensbejahende Geschichten reihum erzählt.
Nachahmungen davon sind z.B.

    CHAUCERs "Canterbury Tales" (1387/1400)
    Marguerite de NAVARRAs "Heptameron" (1559)
    und CERVANTES` "Exemplarische Novellen" (1613).

Auch in J.W. GOETHEs "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter" unterhält sich eine deutsche Adelsfamilie, die vor der französischen Revolution auf das rechte Rheinufer geflüchtet ist, mit dem Reihum-Erzählen von sechs Geschichten.


"Poetik in Stichworten" (Hirt Verlag Kiel 1972 S. 212) listet folgende Charakteristika für "Wesen und Form der Novelle" auf :

  • Zusammenziehung eines Vorgangs zu einem krisenhaften Vorfall
    F.T.Vischer (1857): "Sie gibt nicht das umfassende Bild der Weltzustände, aber einen Ausschnitt aus ihnen, der mit intensiver momentaner Stärke auf das größere Ganze als Perspektive hinweist, nicht die vollständige Entwickluing einer Persönlichkeit, aber ein Stück aus einem Menschenleben, das eine Spannung, eine Krise hat und uns durch seine Gemüts- und Schicksalswendung mit scharfem Akzente zeigt, was Menschenleben überhaupt ist."
  • Verknüpfung von Schicksal und Charakter der Protagonisten
  • Wendepunkt: "Alles wird in einem einzigen Vorfall zusammengefasst, von dem aus das Leben (des Helden) dann nach rückwärts und vorwärts bestrahlt wird; und dieser Vorfall ist seltener und eigentümlicher Art..." (Paul Ernst) oder Ludwig Tieck (1829): "Diese Wendung der Geschichte, dieser Punkt, von welchem aus sie sich völlig unerwartet umkehrt, und doch natürlich, dem Charakter und den Umständen angemessen, die Folge entwickelt, wird sich der Phantasie des Lesers um so fester einprägen..."
  • Zu diesem Wendepunkt wird oft durch ein DINGSYMBOL, ein äußeres, gegenständliches Zeichen des Angel- und Drehpunkts hingeführt, z.B. A.v.Drostes Judenbuche oder G. Hauptmanns Bahnstrecke.
  • Form: Konzentrierung des Erzählten, äußerste Verdichtung und geraffter Zeitablauf. Die Struktur ist der des Dramas verwandt: Knappe Exposition, zusammenraffendes Hinführen zum Höhe- und Wendepunkt, Abfall und Ausklang.


"Novellen werden vorzüglich eine Art von Erzählung genannt, welche sich von den großen Romanen durch die Simplizität des Planes und den kleinen Umfang der Fabel unterscheiden. " (C.M.Wieland 1772)
"Denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit." (Goethe, Gespräche mit Eckermann, 29. Jan. 1827)
"Ein Menschenleben durch die unendliche sinnliche Kraft einer Schicksalsstunde ausgedrückt." (Georg Lukacs, Die Seele und die Formen 1911)
"Das Charakteristikum der Novelle liegt vor allem in der Beschränkung auf eine Begebenheit." (Benno v.Wiese)

  Und jetzt noch einmal in Kürze - zum Abschreiben und/oder Auswendiglernen:

NOVELLEN (= novella (ital.) Neuigkeit) sind Erzählungen, welche

  • 1. kürzer sind als ein Roman, keine Nebenhandlungen und nur wenige Hauptfiguren (=Protagonisten) haben.
  • 2. Die Handlung konzentriert sich auf ein plötzliches, krisenhaftes Ereignis, durch welches der Lebensweg des Protagonisten eine schicksalshafte Wendung erfährt.
  • 3. Die Struktur der Novelle ist der des Dramas ähnlich:
    Exposition - Hinführung zur - Krise - Verzögerung - Lösung bzw. Katastrophe

Zur Abgrenzung: Novelle - Kurzgeschichte

Zwei Auszüge aus Volker Meid: Sachwörterbuch zur Deutschen Literatur (Reclam Verlag)

Novelle,

Prosa- oder (selten) Verserzählung von mittlerem Umfang, die sich durch straffe Handlungsführung, formale Geschlossenheit und thematische Konzentration auszeichnet. Gegenstand des Erzählens ist nach der Definition Goethes »eine sich ereignete unerhörte Begebenheit«, eine Begebenheit also, die einen gewissen Anspruch auf Wahrheit erhebt und von etwas Neuem oder Außergewöhnlichem erzählt. Zu den zahlreichen Versuchen, die Novellenform näher zu charakterisieren, gehören die Hinweise auf die Zuspitzung des Erzählens auf einen Wendepunkt hin (und damit auf einen dem Drama verwandten Aufbau) und auf die Strukturierung durch ein sprachliches Leitmotiv oder durch ein Dingsymbol. [...]
Nach Vorläufern in Humanismus, Barock und Aufklärung begann mit Goethes 'Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten' (1795), nach dem Beispiel Boccaccios als Zyklus mit Rahmenhandlung angelegt, die Geschichte der dt. Novelle. Auch Christoph Martin Wieland folgte mit dem Hexameron von Rosenhain (1805) der ital. (und frz.) Tradition. Zahlreiche weitere Novellenzyklen entstanden bis hin zu Gottfried Kellers Sinngedicht (1881), doch trat seit der Romantik und den N.n Heinrich v. Kleists die Einzelnovelle immer stärker in den Vordergrund. Auch Goethes Novelle (1828) bestätigt diese Tendenz. Neue Ausdrucksmöglichkeiten gewann die N. in der Romantik durch die Integration märchenhafter, phantastischer und dämonischer Elemente (Ludwig Tieck, Achim v. Arnim, Clemens Brentano, Friedrich de la Motte Fouqué, E. T. A. Hoffmann, Adelbert v. Chamisso, Joseph v. Eichendorff).
Nach der Novellistik der Biedermeierzeit (Annette v. Droste-Hülshoff, Jeremias Gotthelf, Franz Grillparzer, Eduard Mörike, Adalbert Stifter) erreichte die dt. N. im Realismus ihren künstlerischen Höhepunkt (Keller, Theodor Storm, Conrad Ferdinand Meyer). Mit Gerhart Hauptmanns »novellistischer Studie« Bahnwärter Thiel (1888) beginnt die Geschichte der modernen N., die sich über Autoren wie Thomas und Heinrich Mann, Arthur Schnitzler oder Alfred Döblin bis zu Günter Grass und Martin Walser als äußerst fruchtbar ... erwiesen hat. (S.774/5)

Kurzgeschichte,

kurze Erzählform in Prosa. Das Wort K. ist eine Lehnübersetzung der angloamerikanischen Gattungsbezeichnung short story und lässt sich seit der Wende zum 20. Jh. nachweisen. Es wurde neben Begriffen wie Skizze oder Novelette gebraucht und diente zur Abgrenzung kürzerer Prosaformen von der Erzählung oder der Novelle. [...]
Einen Neubeginn brachte die Zeit nach 1945, die zugleich den Höhepunkt der Gattungsentwicklung in Deutschland bedeutete. Die K. wurde nun als eigenständige, literarisch hochstehende Form der Kurzprosa verstanden, deren Kunstprinzip in der Reduktion und Komprimierung aller Elemente zu einer komplexen Kürze bestand; als »ein Stück herausgerissenes Leben« sah sie Wolfdietrich Schnurre. Zu den Charakteristika der K. gehören u. a.: Themen aus dem Alltag, die sich zu ungewöhnlichen Situationen zuspitzen; nichtidealisierte Figuren, Durchschnittsmenschen oder Außenseiter der Gesellschaft; andeutende, verkürzende Darstellungsweise, Verzicht auf Erklärungen, Reflexionen, Beschreibungen, Figurenentwicklung; unmittelbarer Beginn des Geschehens ohne Einleitung; pointierter Schluss, aber nicht als einfacher Schlusseffekt, sondern als Teil einer auf den hintergründigen Sinn gerichteten Erzählstruktur; Verwendung moderner Erzähltechniken wie assoziative, andeutende Kompositionsweise, Auflösung der zeitlichen Linearität etwa durch inneren Monolog usw.
Die K. erwies sich in ihrer Flexibilität als geeignete Form, die Erfahrungen des Dritten Reiches, des Krieges, der Nachkriegszeit und der Wiederaufbau- und Wirtschaftswunderjahre in exemplarischer Verdichtung zu vergegenwärtigen. Zu dem großen Publikumserfolg der Gattung, die seit den späten 50er-Jahren zunehmend auch im Deutschunterricht der Schulen Eingang fand, trugen zahlreiche bedeutende Autoren der Nachkriegsliteratur bei: Ilse Aichinger, Heinrich Böll, Wolfgang Borchert, Wolfgang Hildesheimer, Marie Luise Kaschnitz, Kurt Kusenberg, Siegfried Lenz, Wolfdietrich Schnurre, Martin Walser u. a. (S.601/2)
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Die NovelleDie Kurzgeschichte








Novelle in Biedermeier und Vormärz

"... die Deutschen mit der Novelle fangen ..."

Der Vormärz-Dichter Theodor Mundt charakterisiert in einem leicht satirischen Text die Novelle als zeitgemäße "poetische Kunstform" in Zeiten von Zensur und Biedermeierlicher Stubenkultur (Leipzig 1834)


"Nicht schwer wird es mir, mich zu entscheiden, in welcher Form ich dichten soll! ... Es ist die Novelle. Das Drama ist einer kunstgerechteren Form fähig, es ist vielleicht der schönste Gipfel eines künstlerisch gefügten Organismus, der Triumph einer vollendeten Architektonik der Poesie.

Aber darauf kommt es in diesem Augenblick nicht an, es kommt auf die Lebensperspektiven an, welche die Poesie vor den Augen der Zeit auftun soll. Und dafür ist die Novelle biegsamer, weil sie unbegrenzter ist, und mit einer größeren Keckheit der Darstellung in alle Gebiete des inneren und äußeren Lebens übergreifen kann. Das Drama ist zu feierlich gemessen, zu tatenmutig und unmittelbar heraustretend für den heutigen Tag; man muß die Deutschen mit der Novelle fangen. Die Novelle nistet sich noch am meisten in Stuben und Familien ein, sitzt mit zu Tische und belauscht das Abendgespräch, und man kann da dem Herrn Papa zur guten Stunde etwas unter die Nachtmütze schieben oder dem Herrn Sohn bei gemächlicher Pfeife eine Richtung einflüstern, die vielleicht einmal für die ganze Nation Folgen haben mag. Die Novelle ist ein herrliches Ährenfeld für die politische Allegorie, wozu sie noch viel zu wenig angebaut ist. [...]

Man kann auch auf die Deutschen nicht wirken, wenn sie in Schauspielhäusern sitzen. Sie sind da entweder nur modisch aufgelegt, denn sie fühlen im Zusammensein nie als eine Nation, oder es graut sie heimlich untereinander vor der Öffentlichkeit, in der sie sich da gegenübersehen, und man darf ihnen in diesem Zustande kein erregendes Wort sagen, weil sie es gleich von wegen der offenbaren Öffentlichkeit als gefahrbringend ansehn. Draußen vor dem Schauspielhause ist auch Gendarmerie und Polizei aufgestellt, und behüten das Drama. Die Novelle steht sich mit der Polizei besser, und sie flüchtigt sich auf die Stube, wo es keine Gendarmerie gibt. In seiner Stube ist der Deutsche auch ein ganz anderer Mensch, da kann man mit ihm reden. Hier sitzt er still und läßt sich gern für Alles begeistern, er glaubt an die Freiheit und schwört auf ein höheres Nationalleben. er sieht ein, wo ihm Unrecht geschieht und Recht widerfahren muß. er ist ein vorzüglicher Mensch. Er schaut fast so aus, als könnte ihn die Weltgeschichte noch einmal brauchen. (...) In dieser seiner glücklichen Stimmung muß ihn die Novelle zu Hause zu treffen suchen, sie muß sich in diese einschleichen oder sie aufrufen in ihm. Mitten in der Trägheit der Novellenleserei, wo er recht zu faullenzen glaubt, muß sie ihm einen Floh ins Ohr setzen, und muß ihn allmählich durch Gebilde eines glückseligeren, kräftigeren, hochherzigeren Lebens überraschen, daß er vor Ungeduld und Sehnsucht ganz unbändig wird. So fasse ich die Novelle als Deutsches Haustier auf, und als solches ist sie mir jetzt die berufenste Kunstform, das Höchste darzustellen.”

(Quelle: T. Mundt: Moderne Lebenswirren, Leipzig 1834,
zitiert nach: Der Literarische Vormärz, hrsg. von W.W.Behrens u.a. List Verlag München 1973 S.48 ff)

Fragen zum Text:

  • Wie schätzt der Verfasser den Zustand des (gebildeten) Deutschen ein?
  • Was erfahren wir über die politischen Umstände?
  • Welchem Zweck soll Literatur dienen?
  • Wie hilft ihm die Kunstform der Novelle dabei?
  • Warum kann das Drama nicht weiterhelfen?
  • Welcher Art müssen Novellenstoffe sein, um in diesem Sinne wirkungsvoll zu sein?

Ian McEwan über die Novelle (2012)

„Ich glaube, dass die Novelle die perfekte Form der Prosa ist. Sie ist die schöne Tochter eines umherstreunenden, aufgeblähten, unrasierten Riesen (wenn auch eines Riesen, der zu seinen besten Zeiten ein Genie ist). Und dieses Kind ist das Medium, durch das viele Menschen unsere größten Schriftsteller überhaupt erst einmal kennen lernen. Viele Leser entdecken Thomas Mann durch Der Tod in Venedig, Henry James durch Die Drehung der Schraube, Kafka durch Die Verwandlung, Joseph Conrad durch Das Herz der Dunkelheit, Albert Camus durch Der Fremde. Ich könnte so weitermachen. Voltaire, Tolstoi, Joyce, Solschenizyn. Und Orwell, Steinbeck, Pynchon. Und Melville, Lawrence, Munro. Das ist eine lange und ruhmreiche Tradition. Ich könnte sogar noch weiter gehen: Die ökonomischen Erfordernisse zwingen die Autoren dazu, ihre Sätze hinsichtlich Präzision und Klarheit auf Hochglanz zu polieren, die Effekte mit besonders großer Intensität einzusetzen, sich auf den zentralen Aspekt ihrer Schöpfung zu konzentrieren, ihn mit einer funktionalen Zielstrebigkeit vorwärts zu treiben und mit einem Sinn für seine Einheit zu Ende zu bringen. Sie schwafeln und predigen nicht, sie verschonen uns mit zahlreichen Nebenhandlungen und aufgeblasenen Mittelteilen.

Nehmen wir zum Beispiel als willkürlichen Maßstab einen Text, der zwischen zwanzig und vierzig Tausend Wörtern lang ist. Er ist lang genug, damit der Leser eine Welt oder eine Vorstellungswelt bewohnen kann und davon gefangen genommen wird, und kurz genug, um in einer oder zwei Sitzungen gelesen zu werden und die gesamte Struktur bei der ersten Begegnung im Kopf zu behalten – die Architektur der Novelle gehört zu ihren direkten Freuden. Wie oft liest man einen langen zeitgenössischen Roman und denkt sich, unwillig, dass er besser funktioniert hätte, wenn er nur halb oder ein Drittel so lang gewesen wäre.”

Ian McEwan: Anmerkungen zur Novelle. Aus dem Englischen von Oliver Wieters, Hamburg 2012.
Im englischen Original: The New Yorker October 29, 2012.


(cc) Klaus Dautel

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