Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas

     

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Novelle und Chronik

„Michael Kohlhaas" als Novelle:

Kennzeichen des literarischen Genres Novelle sind:

  • Sie ist ein Text von mittlerer Länge (zwischen Erzählung und Roman)
  • Sie besitzt eine dramatische Struktur, die sich mit den Kategorien des Fünf-Akt-Dramas beschreiben lässt:
    Exposition → Krise/Wende → Katastrophe/Lösung.
  • Die Handlung wird durch eine „unerhörte Begebenheit“ (J.W.Goethe) ausgelöst, die unerwartet in das Leben und die Welt des Protagonisten einbricht und beides entscheidend verändert (siehe unten: Die Grenze)
  • Die Novelle weist Elemente auf, die von zentraler Symbolik sind und den Ereignissen eine bedeutsame, oft unvorhergesehene Wendung geben: Im „Kohlhaas‘ sind es die Rappen im ersten Teil der Erzählung und ist es die Kapsel im zweiten Teil. (Siehe auch Symbolik der Örtlichkeit, unten)
  • Die Novelle ist im 19. Jahrhundert eine beliebte literarische Form, insbesondere die „historische Novelle“.

„Michael Kohlhaas" als Chronik:

Kennzeichnend hierfür sind:

  • Die Fülle der erwähnten Personen, Orte und Sachinformationen
  • Die lineare d.h. chronologische Erzählweise und die genaueren Zeitangaben
  • Die auktoriale Erzählweise, die einen neutralen Erzähler/Berichterstatter vorgibt. Kleist wollte mit diesem neutral-distanzierten Chronisten-Stil Aussagen über die eigene Zeit in ein historisches Gewand kleiden.
  • Aber: Sein Erzähler hält diesen Ton nicht durch, sondern durchbricht ihn durch moralisierende Kommentare oder durch Hinweise auf seine Unwissenheit oder die Undurchsichtigkeit, ja Unwahrscheinlichkeit mancher Ereignisse. Er hält so den Wahrheitsgehalt des „Berichteten“ in der Schwebe, als ein „unzuverlässiger“ Chronist.

Die Symbolik der Örtlichkeit

    Berlin war zu Kleists Zeiten die Hauptstadt des Königreiches Preußen, im 16. Jh die Hauptstadt des Kurfürstentums Brandenburg. Berlin ist der Ort, an dem Michael Kohlhaas sein Recht bekommt und seine gerechte Strafe zugleich. Im Berlin der Novelle findet schließlich und endlich ein geordnetes Rechtssystem statt (Positives Recht /Rechtsnorm). Demgegenüber herrschen im benachbarten Kurfürstentum (also jenseits der Grenzen Brandenburgs) feudale Willkür, Eigennutz und Vetternwirtschaft (Nepotismus) vor. Eine verlässliche Rechtsordnung, die den Bürger schützt und sich einer verbindlichen Rechtsnorm unterwirft, gibt es dort weiterhin nicht. Die beiden entscheidenden Ereignisse werden auf der Grenze zwischen Sachsen und Brandenburg ausgelöst.

Kohlhaas‘ Handeln aus rechtlicher Sicht

  1. Im Kontext des 16. Jahrhunderts (Zeitebene der Handlung) führt Kohlhaas eine Fehde. Zu dieser Fehde sieht er sich berechtigt, weil er auf keinem anderen Wege „sein“ Recht bekommen kann und weil er den Tod seiner geliebten Ehefrau rächen will. Es handelt sich also um einen Privatkrieg und Rachefeldzug ( „Blutrache” wegen des Todes der Ehefrau).
  2. Im Kontext der Aufklärung (Zeitebene der Entstehung der Novelle) macht Kohlhaas zunächst von dem „Naturrecht” auf Widerstand Gebrauch, das dem Bürger dann zustehe, wenn der Staat und sein ?Positives Recht‘ den (natürlichen) Grundrechten und der Würde des Menschen zuwiderhandelt.
  3. Die Idee und die Diskussion um das Widerstandsrecht ist im 18. Jahrhundert von den modernen Staats- und Naturrechtstheoretikern (John Locke, Montesquieu, Jean-Jacques Rousseau) aufgebracht worden und gehört zu den geistigen Vorbereitungen der Französischen Revolution. Der Gott-gegebenen Autorität des Adels wird das Natur-gebene Recht jedes Menschen auf ein menschenwürdiges Leben entgegengesetzt. Daraus erwächst dem modernen Staat die Pflicht, dieses menschenwürdige Leben durch seine Rechtsordnung zu schützen. In diesem Sinne argumentiert Kohlhaas dem Dr. Luther gegenüber.
  4. Aus der Sicht des Reformators Luther steht einem Menschen dieses Recht nicht zu. Nach dessen Argumentation steht a) der Landesherr über den Rechtsbeugungen seiner Beamten und steht es b) einem Christen am besten an, Vergebung zu üben.
  5. Kohlhaas verzichtet schließlich auf sein (angemaßtes?) Widerstandsrecht, als Luther ihm die Rückkehr in die Gemeinschaft und die Hoffnung auf ein geordnetes Rechtswesen in Aussicht stellt.
  6. Es liegt in der Novelle also eine Verschränkung der historischen Ebenen und rechtlichen Bezugssysteme vor. Relevant für die Aussage-Intention Heinrich von Kleists ist die politische Situation in Preußen nach der Französischen Revolution, dem Siegeszug Napoleons und der erniedrigenden Behandlung Preußens. Hier war die Frage nach dem Recht auf Widerstand und dem Recht auf souveränes, also unabhängiges Handeln von aktueller Bedeutung. Was ist, wenn der preußische König der napoleonischen Herrschaft keinen Widerstand leistet? Wer dann?
  7. Kleists Botschaft für die preußische Nation ist nicht die Kohlhaas‘sche „Revolution“, sondern deren Verhinderung durch die Reform des Staats- und Rechtswesens. Ein geordnetes Rechtswesen muss vor allem Rechtssicherheit gewährleisten. Die Krise des preußischen Staates bietet eine Chance dazu.

(cc) Klaus Dautel

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