Liebe und Lyrik - Denkanstöße 2
Weitere Denkanstöße
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Norbert Elias über Minne und Minnesang im „Prozess der Zivilisation”
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„Im überwiegenden Teil der frühmittelalterlichen Feudalgesellschaft, wo der Mann der Herrscher ist, wo die Abhängigkeit der Frau vom Mann [...] kaum eingeschränkt ist, nötigt auch nichts den Mann, seinen Trieben Zwang und Zurückhaltung aufzuerlegen. Die Befriedung der Seelen ist noch längst nicht so weit gediehen wie zur Zeit des Absolutismus (16.-18. Jahrhundert), wo der absolute König schließlich sogar die Duelle verbieten kann; noch immer sitzt das Schwert locker, und Krieg und Fehde sind nahe. Von „Liebe“ ist in dieser Kriegergesellschaft wenig die Rede. Die Frauen sind von der Zentralsphäre männlichen Lebens, der kriegerischen Betätigung, ausgeschlossen; die Männer den Hauptteil ihres Lebens unter sich. Und der Überlegenheit entspricht eine mehr oder weniger ausgesprochene Verachtung des Mannes für die Frau: Geht in Eure zierlich geschmückten Gemächer, Dame, unser Geschäft ist der Krieg.“ Das ist durchaus typisch. Und man hat den Eindruck, dass der Verliebte unter diesen Kriegern lächerlich erscheinen müsste. Die Frau erscheint hier im Allgemeinen den Männern als ein Wesen minderwertiger Art. Es sind genug davon vorhanden. Sie dienen zur Befriedigung der Triebe in ihrer einfachsten Form. [...]“
Allerdings trat im Lebensraum der im Hochmittelalter aufkommenden großen Feudalhöfe die kriegerische Funktion der Männer bis zu einem gewissen Grad zurück. Hier lebte zum ersten Mal in der weltlichen Gesellschaft eine größere Anzahl von Menschen in hierarchischer Ordnung und in sehr enger Verflechtung unter Aufsicht des an Macht gewinnenden Landesherrn zusammen. Und schon das allein zwang alle Abhängigen zu einer gewissen Zurückhaltung. Hier war eine Fülle von unkriegerischer Verwaltungsarbeit, von Schreibarbeit zu leisten. All das schuf eine etwas friedlichere Atmosphäre. Wie überall dort, wo die Männer zum Verzicht auf körperliche Gewalt gezwungen sind, stieg das soziale Gewicht der Frauen. Hier im Innern der großen Feudalhöfe stellte sich eine gemeinsame Geselligkeit von Männern und Frauen her. Es ist kein Zufall, dass sich in dieser menschlichen Situation als gesellschaftliches, nicht nur individuelles Phänomen, das herausbildet, was wir Lyrik nennen und jene Umformung der Lust, jene Tönung des Gefühls, die wir Liebe nennen.
Da ist, ebenfalls nur in dieser kleinen Oberschicht der Rittergesellschaft, der Minnesang Ausdruck einer ersten Form der Emanzipation, der größeren Bewegungsfreiheit für die Frau, Zwang zum An-sich-Halten für den sozial abhängigen Mann, zur Rücksicht, zu einer gewissen, noch sehr gemäßigten Regelung und Umformung des Trieblebens. [...] In eben dieser Situation, nämlich an den großritterlichen Feudalhöfen, bildet sich zugleich eine festere Konvention der Umgangsformen, eine gewisse Mäßigung der Leidenschaften, eine Regelung der Manieren heraus.“
Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt 1976 Bd. 2, S.97ff
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Ingo Stöckmann: Liebe und Kultur - Über die Abwesenheit eines Gefühls in der Lyrik des Barock aus: Der Deutschunterricht 6/2003
- „Wer der barocken Liebeslyrik im Zeichen ... erlebnishermeneutischer Kategorien begegnet, wird die irritierende Erfahrung machen, sich historisch nachhaltig verzettelt zu haben. Liebe ist in der Lyrik des 17. Jahrhunderts kein Gefühl. ... Anders als in den lyrischen Texten späterer Jahrhunderte offenbart sich Lesern in den barocken Textexempeln ... kein Versprechen, einer unmittelbaren Erlebnisfülle begegnen zu können. (...) Barocke Literatur ist rhetorisches Sprechen, also genealisierte und auf Generalisierung zielende, repräsentierende Rede, zu deren kunstvoll produzierten, affektiven Bewegungen eine authentische Individualität sich ebenso störend wie missverständlich verhalten würde. (...) Als lyrischer Text ist Liebe keine emotionale Grundbefindlichkeit menschlicher Existenz, sondern ein regelnhaftes Ausdrucksverhalten, das (nicht allein) im 17. Jahrhundert von Kulturellen Codes gesteuert wird. Liebe ist, anders formuliert, ... eine Textfigur, die die Art und Weise der Sinnproduktion und Bedeutungserzeugung im Text festlegt. (...) Weil Poeten immer in die Gefahr verstrickt sind, keine Einfälle zu haben und damit der Blödigkeit“ ausgeliefert sind, benötigt das Barock spezifische Verstärkungen der poetischen Erfindung. Die „Liebessachen“ (Opitz) bilden hierauf die prominenteste Antwort des Barock.“ (S.23/24)
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Peter von Matt: Liebesverrat - Die Treulosen in der Literatur, Hanser München 1986, dtv München 2001, insbesondere Kapitel XVI: Das Wort ‘Liebe’ und die deutsche Gegenreligion S. 215-226
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„Es ist bezeichnend, daß in den 1830er Jahren, als die klassisch-romantische Epoche an ihr Ende kommt, für kurze Zeit ein heftiges Bewußtsein sichtbar wird von der so fundamentalen wie monumentalen Einheit dieser Periode. Dabei wird diese Einheit ganz selbstverständlich unter dem Konzept einer neuen Religion gefaßt, zu der drei Dinge wesentlich gehören: die aggressive Negierung des alten Gottes, die Hingabe an eine vergöttlichte Welt und die vielfältigen Manöver des Versteckens und Verbergens.“ (S.215)
„Die deutsche Gegenreligion hat zum Kern den in die Natur gefahrenen, unendlich bewegten Gott, der „Liebe” genannt mit dem einfachsten aller Namen, das Ding an sich ausmacht für jene Erfahrung von Ich und Welt, welche der ganzen klassisch-romantischen Periode als magmatische Tiefe unterlagert ist. [...] Der in die Natur gefahrene, unendlich bewegte Gott - „Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!”, so Faust zu Gretchen - hat nun aber seinerseits so etwas wie ein Schicksal oder eine Geschichte ... Es gibt den gefesselten Gott, die in die gefrorene Natur eingesperrte, eingemauerte Liebe, und es gibt den Akt der Entfesselung, des Sprengens aller Ketten und Mauern. ... Die deutsche Literatur ist aus letzter Notwendigkeit unersättlich in den Visionen vom Zusammenfügen des Getrennten, vom Auftauen und Verflüssigen, vom Lodern und Brennen, vom Fliegen und Segeln und Fahren, vom Wachsen und Werden, Sich-Ausfalten und -Auswickeln. ... Das Schicksal der Liebenden ist das Schicksal Gottes - dies ist der vielleicht zentralste Glaubensinhalt der deutschen Gegenreligion. Im Zusammenfinden der Liebenden fährt auch der zertrennte Gott zusammen. Und wer die Liebenden trennt, vergeht sich an der Gottheit selbst. Nichts anderes, nichts Geringeres steht hinter dem kleinen Gedicht Hölderlins, das die Überschrift trägt Das Unverzeichliche”:
„Wenn ihr Freunde vergeßt, wenn ihr den Künstler verhöhnt,
Und den tieferen Geist klein und gemein versteht,
Gott vergibt es, doch stört nur
Nie den Frieden der Liebenden.”
Das ist nicht ein empfindungsreiches Stück Lyrik, das ist eine Aussage, die klar, hart und bedrohlich verstanden sein will. Sie benennt das größte Verbrechen. Wer den „Frieden der Liebenden” stört, greift in die Selbstbewegung Gottes ein. Er verhindert, daß der werdende Gott zu sich selbst gelangt und in dieser Bewegung die gefrorene Erde befreit, die universale Gefangenschaft löst, und hier und jetzt, in diesem Deutschland, den Einklang von Liebe und Freiheit schafft, einen Zustand, der so gelöst und doch geordnet, so bewegt und doch gesetzmäßig wäre wie der tanzende Kosmos.” (S. 220-222)
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Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007,
- über Novalis, seine Verlobte Sophie von Kühn und den Liebes- und Todeskult:
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„Die Verliebtheit hindert ihn nicht daran zu bemerken, wie er sich etwas vormacht. Das nennt er ... sich eine „künstlerische Bestimmung” zu machen, und weiter: es ist allemal ein Poem, denn dies bedeutet in der Ursprache nichts, als „Machwerk”.
Wenn Novalis von Poem und Machwerk spricht, dann ist ... gemeint ... die Äußerung einer lebendigen Kraft, die im philosophischen Diskurs seiner Zeit, vor allem bei Kant und Fichte, Einbildungskraft genannt wird.
Diese Kraft, die er in seinen Fichte-Studien „produktive Imagination” nennt, läßt er auch in bezug auf Sophie wirken. Dadurch entsteht in einem doppelten Sinne eine neue Wirklichkeit. Denn erstens beschwingt und steigert die Einbildungskraft sein Lebensgefühl. (...) Zweitens aber wirkt die Einbildungskraft nach außen wie ein Magnet. Sie zieht aus der anderen Personen etwas hervor, das wirklich in ihr steckt. Durch die Einbildungskraft steigert man sich selbst und den anderen. Diese doppelte, sowohl subjektive wie objektive, Steigerung bezeichnet Novalis in anderem Zusammenhang als „Romantisieren” und gibt dafür die Definition: „Romantisieren ist nichts, als eine qualitative Potenzierung.” In der romantischen Liebe zu Sophie gelingt Novalis diese doppelte „qualitative Potenzierung, er potenziert sich selbst und die Geliebte.“ (115)
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Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, Hanser München 2002
In dieser wirklich ‚kurzen‘ Geschichte der deutschen Literatur verfolgt H. Schlaffer den Grundgedanken, dass eine ernstzunehmende deutsche Literatur nur in der klassisch-romantischen Epoche zu finden sei. Diese wiederum sei entstanden aus dem Geiste des Protestantismus und Pietismus, weswegen der Begriff Seele darin auch so prominent vorkomme. In diesem Zusammenhang führt er den Begriff „Aufrichtigskeitsliteratur“ ein und darin findet dann auch der Begriff LIEBE seine Eindordnung.
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„Die deutschen Dichter dehnen das Gebot der Aufrichtigkeit sogar auf ein Gebiet aus, das seit der Renaissance ein Hauptschauplatz rhetorischer Übertreibung gewesen war: auf die Liebe. [...] In der Poesie der Liebe hat die deutsche Lyrik durch die Überwindung der Rhetorik zu einem eigenen Ton gefunden. Johann Christian Günthers Gedicht „Auf den Tod seiner geliebten Flavie“ (1714) bringt den Bruch mit der rhetorischen Metaphorik selbst zur Sprache:
Die ohne den Kompaß und ohne den Leitstern schifft,
Die ohne - doch was ein großes Wortgepränge?
Dem Schmerzen ist mein Herz und mir die Welt zu enge.
Goethes „Mailied“ (1771) genügt der schlichteste Wortschatz, um die Unbedingtheit und Wahrhaftigkeit einer wechselseitigen Liebe auszusprechen (auch solche Wechselseitigkeit ist ein Novum in der Liebeslyrik, sofern sie nicht dem erotisch-scherzhaften Genre angehört).
O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb ich Dich!
Wie blickt dein Auge!
Wie liebst du mich!
Im Unterschied zu einer Dichtung der Ferne, wie sie die alteuropäische Lyrik als „amour de loin“ beschrieb, ist die neue deutsche Liebeslyrik eine Dichtung der „Nähe [...| so in Mörikes „Früh im Wagen" (1846):
Dein blaues Auge steht
Ein dunkler See, vor mir.
Der „dunkle See“ ist weder eine konventionelle noch eine ertüftelte Umschreibung des Auges. Kommt man dem Auge der Geliebten so nahe, daß es das ganze Sehfeld einnimmt, dann weitet sich ihre blaue Iris zu einem See. Mörikes neue Metapher hat also in der Erfahrung körperlicher und seelischer Erfahrung ihren Grund - ist also wahr.“ (S.84/85)