1795

„... ein Rad welches schnell läuft!” -
Friedrich Hölderlin im Jahre 1795

Im März des Jahres 1795 wurde Friedrich Hölderlin 25 Jahre alt. Er war gutaussehend, empfindsam, voller Projekte und - arbeitslos. Eineinhalb Jahre zuvor hatte er das Studium am Tübinger Stift abgeschlossen, durfte sich 'Magister' nennen und nun - im Frühjahr 95 - hatte er die erste Kündigung bereits hinter sich. Er war hochqualifiziert durch eine Ausbildung, die nur den besten des Schwabenlandes zuteil wurde, und er war besten Willens, sich zum Wohle der Menschheit einzusetzen. Wo aber fanden sich in den damaligen Kleinstaaten und Städten Deutschlands die Kanzleien oder Lehranstalten, welche diesen jungen Leuten angemessene Stellen anbieten konnten? Es gab sie nicht, oder - fast nicht. Da war ja noch die württembergische Kirche, die ihn sehr wohl haben wollte.


Der Magister
"Auch muß ich fürchten," schreibt er Ende 1793, "das Konsistorium möchte mich beim Kopf kriegen,und mich auf irgendeine Vikariatstelle zu einem Pfarrer hinzwingen, der keinen freiwilligen Vikar bekommen kann. Ich will aber mit allen Kräften mich um eine Hofmeisterstelle bewerben." (StA 6,1 S.91)Hölderlin wollte nicht predigen, er wollte erziehen: Kinder zu Menschen bilden. Das bedeutete jedoch auch, das Schwabenland, wo ihn der Arm der Kirchenleitung erreichen konnte, zu verlassen. So ging er ins 'Ausland': Thüringen, Frankfurt, die Schweiz, zuletzt Bordeaux. Er hätte auch die Lehrer-Laufbahn in einer "Erziehungsanstalt" anstreben können, aber davon hielt er nicht viel. Er setzte auf die Vorzüge der Privaterziehung, schließlich hatte er - wie es sich für fortschrittliche Intellektuelle gehörte - den großen Jean Jaques Rousseau und dessen Erziehungsroman 'Emile' gelesen.

"Schulmeistern könnt' ich unmöglich," schreibt er der Mutter, als diese ihm die Präzeptoratsstelle an der Nürtinger Lateinschule offeriert, "und 40 Knaben nach reinen Grundsätzen und mit anhaltendem belebendem Eifer zu erziehen, ist wahrhaft eine Riesenarbeit, besonders wo häusliche Erziehung und anderweitige Anstalten so sehr entgegenwirken." (20.11.1796, StA 6,1 S.225)

Hölderlins erste Stelle bei der Majorsgattin Charlotte v. Kalb in Thüringen begann hoffnungsvoll und endete unglücklich. Zögling Fritz stellte sich bald als Problemfall heraus, an dem schon der Dorfpfarrer und der vorige Hauslehrer gescheitert waren. Der Knabe war 'verstockt', was auf ein 'Laster' zurückgeführt wurde, das der Hauslehrer Hölderlin durch unablässige Ablenkung, stetige Überwachung und gerechte Strenge zu verhindern suchte: Die Selbstbefriedigung. Nach dem Stande der damaligen Medizin führte dies zu Epilepsie, Stumpfsinn oder Rückenmarksschwindsucht. Hölderlin, der seine Aufgabe ernst nahm, verausgabte sich dabei körperlich und seelisch.

"..ich wagte meine Gesundheit durch fortgesetztes Nachtwachen, denn das machte sein Übel nötig, (...)und ich fing auch an, auf eine gefährliche Art an meinem Kopfe zu leiden, durch das öftere Wachen,wohl auch durch den Verdruß." (An Neuffer 19.1.1795 StA 6,1 S.150)

Hölderlins Situation war - nach damaligen Maßstäben - pädagogisch aussichtslos und drohte ihn zugrunde zu richten. Also trennte man sich. Am Ende wußte die aufgeklärte Frau v. Kalb mit ihrem mißratenen Fritz auch nicht mehr weiter und steckte ihn ins Gymnasium nach Weimar! Er wurde schließlich preußischer Offizier.

Aber da war noch etwas. Auf dem v. Kalbschen Gut, in jenem landschaftlich schönen, aber weltabgewandten Waltershausen trifft er auf Wilhelmine Kirms, Gesellschafterin der Frau v. Kalb und mit 22 Jahren bereits Witwe.

"...eine Dame von seltenem Geist und Herzen, spricht französisch und englisch und hat soeben die neuste Schrift von Kant bei mir gehohlt. Überdiss hat sie eine ser interessante Figur." (An die Schwester, StA 6,1 S.105)

Wilhelmine Kirms verläßt im Dezember '94 das Gut und bringt im Juli '95 ein uneheliches Kind zur Welt. Über die Zusammenhänge kann spekuliert werden, als potentielle Väter kämen außer dem jungen Hauslehrer noch der alte Major, der Pfarrer und der Gärtner in Frage, jedenfalls wird im Januar das Dienstverhältnis mit Hölderlin gelöst und Frau v. Kalb versieht ihn mit Geld auf ein Vierteljahr.



So beginnt das Jahr 1795. Hölderlin zieht in die nahegelegene Universitätsstadt Jena. Er hat fürs erste genug gearbeitet, jetzt will er bei dem berühmten Professor Fichte Philosophie studieren, möchte Gedichte schreiben, veröffentlichen und in Muße an seinem Romanprojekt, dem 'Hyperion', weiterarbeiten. Keine Stadt konnte da bessere Bedingungen bieten als Jena, die literarische und wissenschaftlicheHauptstadt Deutschlands, die Stadt der Zeitschriften und Journale.Und was benötigt ein 25-jähriger Mann noch? Er braucht Freunde! Solche, die seine Wellenlänge haben und ihn nehmen, wie er ist, aber auch solche, die ihm Orientierung geben und väterlichen Rat.


Isaac von Sinclair
Den"Herzensfreund" findet er in dem 19-jährigen Adligen Isaac von Sinclair, mit welchem er im April einGartenhäuschen bezieht. Den väterlichen Freund findet er in dem verehrten Schiller, seit 1789 Professor für Geschichte. Dank diesem bekommt er Zugang zu den wichtigen Kreisen, gelangt in die Nähe Fichtes und trifft sogar Goethe. Die Zeit der Zusammenarbeit Goethes und Schillers - 'Weimarer Klassik' genannt - beginnt, und Schiller stellt Hölderlin Veröffentlichungsmöglichkeiten in deren geplanten Zeitschriften und Musen-Almanachen in Aussicht. Schillers Einfluß bewirkt sogar, daß der Verleger Cotta den noch unvollendeten 'Hyperion' zu veröffentlichen bereit ist - wenn auch für ein recht bescheidenes Honorar.

Die Dinge laufen gut für den jungen Mann. Er hat Freunde, Gönner, Beziehungen, kann veröffentlichen,bei Fichte Vorlesungen hören (abends 6-7 Uhr), muß nicht darben - und da geschieht das Unerwartete: Er verläßt Ende Mai plötzlich die Stadt und kehrt nicht wieder. Das 'Jenaische Projekt' ist beendet. Warum? Genaues weiß man nicht, vier Hypothesen seien aber angeführt:

Wie immer es auch gewesen sein mag, zwei Wochen nach seinem Verschwinden trifft Hölderlin in Heidelberg mit Johann Gottfried Ebel zusammen, eine Begegnung, die noch Sinclair vermittelt hat. Ebel ist Arzt, Reiseschriftsteller und Lebensgefährte von Margarete Gontard, der Schwester des Frankfurter Bankiers Jakob Friedrich Gontard, welcher seinerseits mit Susette Gontard geb. Borkenstein vermählt ist und vier Kinder hat. Für das älteste Kind, den achtjährigen Sohn Henry, wird ein Erzieher gesucht. Hölderlin und Ebel verstehen sich sofort, vor allem sind sie gleichermaßen von den Ideen der Französischen Revolution begeistert, und Ebel verspricht, sich bei den Gontards für ihn zu verwenden. So etwas hieß damals `Konnexion`!



Hölderlin reist weiter nach Nürtingen. Dort befällt ihn tiefe Schwermut, er klagt über innere Kälte, über den Winter in seinem Kopf. Wie später noch oft, wenn er seelisch und finanziell am Ende ist, sucht er Zuflucht in der 'Mutter-Stadt', aber schnell fällt ihm dann der kleinstädtische Himmel auf den Kopf und er wünscht sich wieder weg. Er muß aber auf Ebels Bescheid aus Frankfurt warten und der kommt nicht. Wie übersteht er diese Wartezeit, wie entkommt er dem Drängen der Mutter, die ihren Sohn endlich in einem schwäbischen Pfarrhaus untergebracht sehen will? Er nimmt Reißaus und besucht Freunde in Stuttgart, Vaihingen, Markgröningen, die Schwester Rike in Blaubeuren. Er arbeitet an seinen pädagogischen Überzeugungen, die er in einem Brief an Ebel - gleichsam als Eignungsnachweis - niederschreibt.

"Ich glaube," heißt es darin, "daß die Ungeduld, womit man seinem Zwecke zueilt, die Klippe ist, woran gerade oft die besten Menschen scheitern. So auch in der Erziehung. Man möchte so gerne in sechs Tagen mit seinem Schöpfungswerke zu Ende sein; das Kind soll oft Bedürfnisse befriedigen, die es noch nicht hat, und vernünftige Dinge anhören und fassen, ohne Vernunft! und das macht dann die Er-zieher, weil sie auf dem rechten Wege ihre Absicht nicht erreichen, tyrannisch und ungerecht, das macht den Erzieher und den Zögling gleich elend." (2. Sept. 1795, STA 6.1 S. )

Es wird Oktober, November, Weihnachten steht vor der Tür und Hölderlin sieht schon den Arm der Kirchenleitung auf sich zugreifen.

"...so muß ich erwarten," schreibt er an Ebel, "da die Weihnachtsfeiertage heranrüken, zu einem Pfarrer geschickt zu werden, um ihn zu unterstützen..." (November 1795, StA6,1 S.183)

Da kommt der erlösende Brief. Er soll in Frankfurt die Erziehung des kleinen Henry Gontard übernehmen, für 400 Gulden jährlich bei freier Kost und Logis, ein stattlicher Verdienst für einen Hauslehrer. Mitte Dezember sagt er in Nürtingen Adieu, erreicht Ende des Monats nach beschwerlicher Reise durch kriegsnahes Gebiet Frankfurt und lernt am 30. Dezember seinen neuen Zögling kennen. Wenige Tage später wird er auch die Hausherrin Susette Gontard, die Frau seines Lebens kennenlernen.



Dieser Aufsatz wurde verfasst für und veröffentlicht im Jahrbuch 1995 des Hölderlin-Gymnasiums Nürtingen.


Klaus Dautel, 2000-2009

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