Zur Abwechslung mal ein anderes Thema: Der Zeitgeist und ich. Eigentlich bin ich noch ganz fit im Kopf und auch sonst, es steht auch noch lange kein Ü80-Impftermin an und dennoch gibt es ein paar Dinge, die mich alt aussehen lassen. Das hat – wen wundert’s – vornehmlich mit meinem Medienverhalten zu tun! Hier einige Beispiele:

1. Ich zahle vorzugsweise mit Bargeld und bin sogar bemüht, das Geld so genau wie möglich auf den Tisch zu legen. Dazu krame ich längere Zeit in meinem Geldbeutel. Manchmal stelle ich der Dame an der Kasse auch eine kleine Kopfrechenaufgabe, wohl wissend, dass es sowieso die Maschine ist, die da rechnet. Mit dem Handy zahle ich nur im Notfall, denn bis ich es gefunden habe, ist die Schlange noch größer geworden.

2. Ich schreibe weiterhin E-Mails und das in vollständigen Sätzen, mit Anrede und Grußformel. Dazu bevorzuge ich eine Tastatur und schreibe mit 10 Fingern, wie ich es gelernt habe. Mit der Zwei-Daumen-Technik auf dem Handy komme ich nicht so gut voran und manchmal steht auch etwas ganz anderes da als gewollt.

3. Ich misstraue immer noch Rechtschreibhilfen, vor allem im Hinblick auf Klein- und Großschreibung, Komma-Setzung und den Unterschied zwischen dass und das. Da ist einfach kein Verlass. Ich weiß schon, dass dies alles nicht wichtig ist, weil es ja auf den Inhalt ankommt. Dennoch frage ich mich, wie man z.B. sauberen Programm-Code schreiben kann, wenn schon die einfachen Grundlagen der Rechtschreibung sich nicht verfestigen konnten.

4. Und wenn wir schon dabei sind: Ich verstehe nicht, wo das Problem mit der Apostrophe liegt: die CD’s, die Video’s, die Todo’s  und Nogo’s – alles falsch. Vielleicht liegt es daran, dass die ’native speakers‘ jenseits des Kanals da auch nicht mehr durchzublicken scheinen und folglich keine guten Vorbilder sind.

5. Mir ist das Adjektiv „einfach“ verdächtig, wenn es gehäuft auftaucht in Aufforderungen zum Registrieren und Kaufen oder im Zusammenhang mit der Installation von Programmen und Konfigurationen. Wenn das der Fall ist, rüste ich mich vorsorglich für Komplikationen. In den Anfangszeiten des Internets hieß es: Der ‚einfache‘ User ist immer der ‚Loser‘ (mit einem o), denn er bewegt sich in Welten, die andere für ihn gebaut haben, und deren Interessen sind meistens undurchsichtig. Daran hat sich nichts geändert.

6. Und es bereitet mir Unbehagen, Standard-(„default“)-mäßig geduzt zu werden. Von Flixbus, Microsoft und erst recht von Apple, in Spam-Mails, in Internet-Tutorials, in Sonderangeboten für Handy-Tarife und überhaupt. Solche durchschaubare Kumpelhaftigkeit rückt mir zu nahe.

7. Ich mache mir Mühe, beim Grüßen nach Tageszeiten und Gegenüber zu differenzieren. Ich sage und schreibe also gerne Guten Morgen am Morgen und Guten Abend am Abend, manchmal auch Grüß Gott –  das aber mit einem kleinen Ironie-Signal im Augenwinkel (Mundwinkel geht nicht wegen der Maske). Weniger gerne sage und schreibe ich Hallo oder High (Hi‘). Das ist zwar intellektuell weniger herausfordernd, aber irgendwie unbefriedigend.

8. Ich zucke zusammen, wenn der Gender-Differenzierungs-Knacklaut (glottal stop) zu hören ist. Ich bemühe mich – auch wenn es länger dauert – um die Nennung von Leserinnen und Lesern, Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern. Bei letzteren greife ich auch gerne zum Wort „Lehrkraft“, schon allein wegen der Kraft, die da drin steckt.

Ich bin jetzt ein moderner Alter. Das ist zwar eine paradoxe Formulierung, aber kein Widerspruch. Eher ein Problem. Und vermutlich bin ich nicht allein damit. Will sich noch jemand ‚outen‘? Ich bin gespannt.

Nach dem Motto: Lieber vorgestrig als zeitgeistig.

1 Kommentar zu “Vorgestrig statt zeitgeistig

  1. D.Tiesfeld says:

    Lieber vorgestrig als zeitgeistig

    Sehr geehrter Herr Kautel,

    ich denke, dass wir ungefähr im gleichen Alter sind – ich bin seit 2019 im Ruhestand, und ich kann dem, was Sie schreiben, im Wesentlichen anschließen. Am meisten stört mich auch das ständige Geduze, das ich nie mitgemacht habe. Allerdings kann man Webseiten kaum fragen, ob man mit ihnen schon einmal von demselben Teller gegessen habe (so oder so ähnlich war früher die Reaktion, wenn jemand „unberechtigt“ geduzt wurde), auf diese Webseiten kann man höchstens verzichten. Gewöhnt habe ich mich allerdings an die Anrede mit „Hallo…“ (Hi‘ geht gar nicht), wenn mir „Sehr geehrte(r)…“ zu förmlich und „Liebe(r)“ zu persönlich erscheint. Mit der Gender-Neutralität (auch so ein Modewort) tu ich mich auch sehr schwer, manchmal geht es, aber oft wird es nur Krampf. Auch dem übrigen Ihnhalt Ihres Artikels kann ich fast voll zustimmen.

    In diesem Sinne oute ich mich gerne!

    Mit freundlichen Grüßen,

    D.Tiesfeld

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