Georg Büchner  LEONCE & LENA

Leonce und Lena - Ein Lustspiel (1836)

Basisinformationen und Verstehensansätze
1. Der Verleger Cotta (Stuttgart) schrieb am 26. 1. 1836 einen Wettbewerb für die beste Ein- oder Zwei-Akt-Komödie aus, der Abgabetermin war der 1. 7. 1836. Büchner erhoffte sich durch das Preisgeld von 300 Gulden die Verbesserung seiner finanziellen Lage in Straßburg. Er reichte dann aber seinen Beitrag zu spät ein, so dass der Brief ungeöffnet wieder zurückgeschickt wurde. Büchner überarbeitete das Manuskript und baute die Komödie zu einem Drei-Akter um.
Die Veröffentlichung erlebt er nicht mehr, sie wird von seinem Gönner Karl Gutzkow unternommen (basierend auf einer "saubern Abschrift" von Büchners Verlobter, Wilhelmine Jaegle); die Uraufführung findet 1895 in München statt. Büchners Werke finden erst gegen Ende des 19. Jh großes Interesse bei Naturalisten wie Gerhart Hauptmann.

2. Büchner verfasste ein Lustspiel, das zu einem Großteil aus Zitaten und Anspielungen (*) besteht und auch inhaltlich an die Tradition und Grundmuster der Verwechslungskomödien Shakespeares anknüpft ("Wie es euch gefällt"): Liebespaare, die für einander bestimmt sind, finden sich schließlich auch, obwohl - oder gerade indem - sie sich aus dem Wege zu gehen versuchen. Damit kreist Büchners Lustspiel ideengeschichtlich um die Frage: "Vorsehung oder Zufall?"
(* Primärquellen: W. Shakespeare "Wie es euch gefällt", A. de Musset "Fantasio" (1833) und C.v.Brentano: Ponce de Leon (1804). Eine Liste der Quellen und motivischen Anleihen findet man bei Knapp S.156/7).

3. Das mehr oder weniger direkte Zitieren aus Quellen unterschiedlichster Art ist ein charakteristisches Merkmal von Büchners Werken:

    - Die Flugschrift "Der Hessische Landbote" zitiert aus Statistiken.
    - Die Erzählung 'Lenz' bezieht sich z.T. wörtlich auf das Tagebuch des Pfarrers Oberlin.
    - Das Drama 'Dantons Tod' zitiert aus den Protokollen der Revolutionssitzungen.
    - Dem Drama "Woyzeck" liegen die Gerichtsgutachten des Dr. Clarus zugrunde.
Grund: Büchner arbeitete an der Umsetzung eines persönlichen literatur-ästhetisches Programmes: Er sah den Zweck von Kunst darin, der unbeschönigten, unidealisierten Wirklichkeit gerecht zu werden (siehe 'Kunstgespräch' in 'Lenz')

4. In 'Leonce und Lena' aber benutzt er keine dokumentarischen Vorlagen, sondern er recycelt - vielleicht auch aus Zeitmangel - literarische Muster und Handlungs-Motive. Mögliche Intentionen:

    - Er stellt das traditionelle und vielleicht auch verbrauchte Genre Lustspiel in Frage und unterwandert deren vordergründige Harmlosigkeit und Weltferne.
    - Er benutzt diese politisch unverdächtige Gattung um bestehende Verhältnisse lächerlich zu machen, eine Tragödie würde den bestehenden Verhältnissen zu viel Würde und Daseinsberechtigung verleihen.
    - Vielleicht kam auch noch eine jugendliche Lust am Spiel zu, das Bedürfnis des noch sehr jungen Mannes (22 Jahre), seine noch frischen Lektüre-Erlebnisse aus der Weltliteratur und der Philosophie in eigener Produktion zu verarbeiten.
Die neuere Literatur-Wissenschaft sieht gerade in diesem Geflecht von Zitaten, Selbstzitaten und motivischen Anleihen "das entscheidende ästhetische Bauprinzip und Teil der Kommunikationsstrategie" (Knapp S. 155) der Komödie.

5. Die Rezeptionsgeschichte dieses Zitaten- und Anspielungs-Kaleidoskops zeigt zwei gegensätzliche Deutungsschwerpunkte: Einerseits als romantisches Märchen von Liebe, Schwärmerei und Vorsehung (19. Jahrhundert); andererseits Adelskritik und Sozialsatire (20. Jahrhundert) auf die spätfeudalen Zustände der Restaurationszeit: Kleinstaaterei, Metternich, Deutscher Bund, Karlsbader Beschlüsse, Zensur, Demagogen-Verfolgung (Siehe hierzu: Lesarten)

Ein dritter Deutungsansatz: Leonce und Lena als Parodie des Genres 'Lustspiel', ein Spiel mit den Elementen und der Tradition des Liebes- und Verwechslungsstoffes. Im Gegensatz zur Satire ist der Parodie eine Stück Verehrung gegenüber dem parodierten Vorbild eigen.

6. Es spricht alles dafür, 'Leonce und Lena' vor allem als soziale und politische Stellungnahme zu lesen, eine - resignative - Stellungnahme zur schlechten Wirklichkeit in Zeiten von Armut, brutaler Reaktion, allgegenwärtiger Zensur und der historischen Überlebtheit der herrschenden Klasse.

"Ich glaube, man muß in socialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen, die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen. Zu was soll ein Ding, wie dieße, zwischen Himmel und Erde herumlaufen. Das ganze Leben desselben besteht nur in Versuchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben. Sie mag aussterben, das ist das einzig Neue, was sie noch erleben kann." (Büchner an K.Gutzkow, Juni 1836)
7. Unter diesem Vorzeichen ist nicht nur die sozialpolitische Lage im Reiche Popo zu sehen, sondern auch die Identitätsproblematik der Hauptfiguren: Sie sind verzweifelt bemüht, eine innere Leere durch über(ge)zogene Identitäten zu be-kleiden: Siehe König Peters Ankleidungsszene, mit jedem Kleidungsstück kommt eine Kantsche Kategorie der reinen Vernunft hinzu; Lena möchte sich als Naturwesen verstehen, Leonce als tiefsinniger Melancholiker: Übergestülpte Identitäten, Masken, hinter denen nur neue Masken hervorkommen, vgl. Valerios Auftritt in III,3:
Peter: Wer seid ihr?
Valerio: Weiß ich's? ... Bin ich das? oder das? oder das?"

Auch ein Interpretationsansatz: 'Leonce und Lena' und 'Der Hessische Landbote'
"Als Projektionshintergrund des Lustspielscheins ist die Realität des "Hessischen Landboten" nicht wegzudenken: "ach die erbärmliche Wirklichkeit!" Das schon eingangs mit dem Bild: "Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag (...) Das Leben der Bauern ist ein langer Werktag" enthüllte eklatante Mißverhältnis von Privileg und Ausbeutung, gesetzlichem Zustand und gewaltsamer Unterdrückung, das als agitatorische Wirkungsstrategie die Flugschrift durchzieht, , wird im Lustspiel sozusagen zur Hälfte verdeckt. Allein in der Bauernszene (III,2) wird der Vorhang kurz gelüftet, aber auch hier freilich nur in grotesker Überzeichnung. Das Bild der "fürstliche(n) Puppe" bildet einen Referenzpunkt der höfischen Automatenwelt. Die Passage "Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer dort lustig machen (...)" liest sich wie ein Subtext des Lustspiels. dort fällt auch das Stichwort vom "Erbprinzen", und direkte Anklänge an III,2 sind gegeben. Erst vor diesem Projektionshintergrund wird der Kunstcharakter des Lustspiels als schneidend dissonante Provokation überhaupt verständlich." (Knapp S. 159)
Quellen: G.P. Knapp: Georg Büchner, Metzler Stuttgart 2000
Joseph Kiermeier-Debre, Nachwort zu Büchner: Leonce und Lena, Bibliothek der Erstausgaben, dtv 1998


(cc) Klaus Dautel

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