Jakob und seine Lügen
Wahrheit und Lüge-
1. im Alltag,
2. aus psychologischer Sicht,
3. in Jakobs Geschichte und
4. aus philosophischer Sicht.
1. Klärungsversuche:
Fragen zum Diskutieren:
Wann nennen wir eine sprachliche Handlung "Lüge"?
Aus Not lügen, Halbwahrheiten erzählen, die Hälfte verschweigen, ein bisschen schwindeln, flunkern, "Märchen" erzählen, sich herausreden, jemandem einen Bären aufbinden, in den April schicken, reinlegen, Ausreden erfinden, die Lage beschönigen ('Euphemismus'), vortäuschen, ironisch sein, dichten ... ? Und was meint der "Volksmund"? Wie meint er das?
Er/Sie kann lügen, dass sich die Balken biegen. Er/Sie lügt das Blaue vom Himmel herunter. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Ehrlich währt am längsten. Die Welt will betrogen werden. Die Wahrheit zu sagen, oft schwer Die Wahrheit ertragen, noch mehr. |
2. Fünf Hauptkategorien von Lügen
nach Charles Ford, Psychiatrie-Professor an der Universitätsklinik in Birmingham, Alabama:
- "manipulierende Lügen" - kühl berechnete Gaunereien, charakteristisch etwa für betrügerische Verkäufer, Heiratsschwindler oder Karrieresüchtige, denen jedes Mittel recht ist;
- "melodramatische Lügen", womit liebebedürftige Menschen sich Zuwendung und Anteilnahme verschaffen wollen. Aufgeregte Übertreibungen jeder Art, hysterische Leidensgeschichten, heuchlerische Skandalauftritte sind hier die auffälligeren Formen;
- "grandiose Lügen": Sie setzen den Aufschneider als beherzten Helden oder allwissenden Experten ins Szene;
- "ausweichende Lügen": Sie sind typisch für Menschen, die innere Konfusion und von ihnen angerichteten Verdruss möglichst verheimlichen oder, wenn das nicht geht, billige Ausflüchte zur Ablenkung und Rechtfertigng erfinden;
- die "skrupelhafte Lüge" empfindet der Unwahrhaftige selber als höchst peinvoll und ist sich seinr Schuld bewusst. Sonst überaus korrekte Menschen, die von sich selbst Makellosigkeit erwarten, schämen sich selbst harmloser Gedanken, Worte und Werke, die ihnen als unvereinbar mit ihrem Vollkommenheitsideal erscheinen."
(Franz Mechsner: Warum wir alle lügen - Lug und Trug als Lebensprinzip, GEO 5/1998 S.81/2)
1. Finde Beispiele für jede der fünf Kategorien und bewerte sie: akzeptabel/inakzeptabel.
2. Wo ist Jakob der Lügner hier einzuordnen?
3. Wie sind die folgenden literarischen Gestalten zu beurteilen:
- Wenzel Strapinski in G. Kellers "Kleider machen Leute",
- der junge Herr Chlestakow in Nicolai Gogols "Revisor",
- Schuster Voigt in Karl Zuckmayers "Hauptmann von Köpenick",
- Felix Krull in Thomas Manns "Bekenntnissen" des gleichnamigen Hochstaplers?
3. Spielarten des Täuschens in "Jakob der Lügner":
Suche Beispiele und Textstellen! Bewerte und ordne sie nach selbstgewählten Kriterien!
- Fundstellen:
- Jakobs Lügen gegenüber den Ghetto-Bewohnern und Freunden: Mischa, Kowalski, Schmid, Rosa ...
- Jakobs Radio-Imitation für Lina im Keller (S.162 ff)
- Jakobs Märchen für Lina (S.170>
- Die Täuschung der kranken Prinzessin durch den Gärtnerjungen (S. 172)
- Professor Kirschbaums Tabletten "gegen Sodbrennen" (S.205)
- Der Besuch des Erzählers bei Preuß (S.209)
- Kowalskis "Abschied" (S.253)
- Der Soldat, der Jakob ins Revier schickt (S.10/11)
- Der Soldat, der zwei Zigaretten fallen läst (S.110/11)
4. Das Lügenproblem in der Philosophie: Im folgenden geht es um den Normenkonflikt zwischen der Pflicht zur Wahrheit und der Pflicht dem Nächsten zu helfen .
Immanuel Kant: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen.
In dieser kleinen Schrift aus dem Jahre 1797 erörtert Kant die Frage, ob ich einen Mörder, der meinen Freund verfolgt, darüber belügen darf, dass er sich in meinen Haus versteckt.
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"Hast du nämlich einen eben mit Mordsucht Umgehenden durch eine Lüge an der That verhindert, so bist du für alle Folgen, die daraus entspringen möchten, auf rechtliche Art verantwortlich. Bist du aber strenge bei der Wahrheit geblieben, so kann dir die öffentliche Gerechtigkeit nichts anhaben; die unvorhergesehene Folge mag sein, welche sie wolle. es ist doch möglich, daß, nachdem du dem Mörder auf die Frage, ob der von ihm Angefeindete zu Hause sei, ehrlicherweise mit Ja geantwortet hast, dieser doch unbemerkt ausgegangen ist und so dem Mörder nicht in den Wurf gekommen, die That also nicht geschehen wäre; hast du aber gelogen und gesagt, er sei nicht zu Hause und er ist auch wirklich (obzwar dir unbewußt) ausgegangen, wo denn der Mörder ihm im Weggehen begegnete und seine That an ihm verübte: So kannst du mit Recht als Urheber des Todes desselben angeklagt werden.
(...) Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietenden, durch keine Convenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein."
(I. Kant, Akademie-Textausgabe, Bd VIII, Berlin 1968, S. 427)
In einem vor der "Deutschen Philosophischen Gesellschaft" in Leipzig 1938 gehalten Vortrag bezieht sich der Physiker Max Planck auf eine ähnliche und damals schon sehr aktuelle Situation und legt - ohne eine Lösung vorzuschlagen - den Konflikt folgendermaßen dar:
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"Denken wir uns also etwa, ein unschuldig Verfolgter sei von einem ihm nahestehenden mutigen Freundeheimlich an einen verborgenen Platz gebracht worden, wo er sich einstweilen sicher fühlen kann, und dieser Freund werde von den Verfolgern aufgesucht und nach dem Aufenthaltsort seines Schützlings befragt. Wie wird er sich verhalten? Wenn er eine ehtisch hochstehende Persönlichkeit ist, wird seine Wahrheitsliebe mit seiner Freundesliebe in Konflikt geraten. Da die Erteilung einer sachgemäßen Antwort auf die gestellte Frage den Freund sicherlich ins Verderben bringen würde, so könnte er, um bei der Wahrheit zu bleiben, vielleicht auf den Gedanken kommen, eine Antwort zu verweigern und im übrigen alles zu versuchen, um die Unschuld des Verfolgten ans Licht zu bringen. Aber der Erfolg wäre dann vielleicht nur der, daß man dann Zwangsmaßnahmen gegen ihn selber anwenden würde, um ihn zu einer Aussage zu bewegen. Viel einfacher und für die Rettung seines Schützlings aussichtsvoller wäre es, wenn er durch eine Lüge die Verfolger irreführte und statt des richtigen Verstecks eine weit davon entfernte Örtlichkeit nennen würde. Dann wäre wenigstens eimal Zeit gewonnen. Auch andere Verhaltensmöglichkeiten bieten sich ihm dar. Er könnte z.B. antworten, daß er den Aufenthaltsort nicht kenne, oder er könnte die Antwort hinauszögern, oder er könnte auch überhaupt nicht antworten und sich taub stellen. Für jede dieser Verhaltensmaßregeln ließe sich einiges anführen, aber jede hat auch ihre Nachteile."
(zit. nach Funkkolleg: Praktische Philosophie I, S.230)
Denselben Normenkonflikt handelt der Arzt Viktor E. Frankl an einem etwas anderen Beispiel so ab:
- "In Detroit ist die Selbstmordrate plötzlich ganz brüsk abgesunken, für sechs Wochen unten geblieben und nach sechs Wochen ebenso plötzlich wieder angestiegen. Während dieser sechs Wochen war ein kompletter Zeitungsstreik in Detroit. Jetzt werden wir verstehen, was das heißt, zu behaupten, es sei das Recht oder die Pflicht, um jeden Preis alles zu sagen. Wenn ich einem Patienten den Blutdruck messe und er hat 160, und ich sage ihm, der Blutdruck ist leicht erhöht, dann hat er schon nicht mehr 160, sondern 180, weil er sich vor dem Schlaganfall fürchtet. Wenn ich ihm auf seine Frage, wie der Blutdruck ist, sage:"Praktisch normal", dann sagt er: "Gott sei Dank, ichhabe schon gemeint, ich bekomme einen Schlaganfall", und er hat gar nicht mehr 160, sondern 140, wirklich einen normalen Blutdruck. Man muß nicht alles sagen; das ist ein Mißverständnis, meine Damen und Herren. Sie werden verstehen, daß mir als Arzt näher liegt, einem Menschen zu helfen, als ihm um jeden Preis irgendeine Wahrheit zu sagen, die existentiell in dem Augenblick, kraft der Paradoxie des Wahrheits-Sagens, in eine Lüge umschlägt."
V.E.Frankl: Der junge Mensch auf der Suche nach Sinn, in: Die Jugend und ihre Zukunftschancen. Hamburg: Jugendwerk der Deutschen Shell 1979, S.183
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Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz themengerecht sein sollte.