Natur & Lyrik: Wandern, Lustwandeln und Spazierengehen
- Welche Formen des Aufenthaltes in der Natur sind euch geläufig?
- Wie mag das in früheren Zeiten gewesen sein?
- Wie lässt sich der Unterschied zwischen Wandern und Spazierengehen beschreiben?
- Wozu würdet ihr euch eher überreden lassen?
- Wie erklärt ihr euch den aktuellen Wander-Boom?
Das Wandern - Eine akademische Erfindung
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„Fast bis in die Gegenwart dauert eine Erfindung der Studenten vom Ende des I8. Jahrhunderts, die für die deutsche Poesie und Lebensweise folgenreich war: das Wandern. ... Studien Heinrich Bosses (*) haben auf die merkwürdige Erscheinung aufmerksam gemacht, daß um I770 das traditionelle Wandern der Handwerksgesellen durch Polizeiverordnungen unterdrückt wurde, dafür aber bei den Intellektuellen in Mode kam. Der praktische Zweck der einen wandelt sich zum ästhetischen Vergnügen der anderen. Dem Wanderer erschließt sich eine neue Landschaftserfahrung, die in der augenblicklichen Wahrnehmung - in Regen und Sturm auf dem »Schlammpfad« - wie im Ganzen - der gottgleichen Natur - die literarischen Konventionen der idyllischen und der heroischen Topographie hinter sich läßt. Von den wandernden Handwerkern übernehmen ihre Imitatoren, die Studenten, den Brauch, Lieder zu singen oder Lieder zu dichten, als wären sie beim Wandern entstanden. Goethe erinnert sich seiner jugendlichen Gewaltmärsche: »Mehr als jemals war ich gegen offene Welt und freie Natur gerichtet. Unterwegs sang ich mir seltsame Hymnen und Dithyramben, wovon noch eine, unter dem Titel "Wanderers Sturmlied", übrig ist.« Viele deutsche Gedichte, von denen einige populäre Lieder geworden sind, bekunden bereits in der Überschrift oder in der ersten Zeile das Wandern als Anlaß und Hintergrund. [...] Schon Werther dehnte konventionelle Spaziergänge von überschaubarem Ausmaß zu spontanen Wanderungen mit unvorhersehbaren Erlebnissen aus. [...]
Arte TV-Magazin August 2014 |
(*) Heinrich Bosse und Harald Neumeyer: "Da blüht der Winter schön". Musensohn und Wanderlied um 1800. Freiburg im Breisgau 1995
Das Wanderlied:
Aufbruch, Hoffnung, Heimatlosigkeit
In der ständischen Gesellschaft wurden Wanderlieder traditionell bei den Versammlungen oder Verabschiedungen von Handwerksgesellen gesungen. "Der Geselle bricht in diesen Liedern nicht von zu Hause auf, sondern von einer Station seiner Wanderschaft, wo er überwintert hat, also an den Arbeitsplatz gebunden war." (H. Bosse / H. Neumeyer: "Da blüht der Winter schön". Musensohn und Wanderlied um 1800. Freiburg im Breisgau 1995, S. 10) Der Aufbruch im Frühling bedeutete somit soziale Ungebundenheit und Aussicht auf neue Arbeit. In der Romantik wird nicht nur das Wandern standesübergreifend, sondern auch das Wanderlied. Auch in den Liedern der "akademisch Gebildeten" bricht der Wanderer üblicherweise im Frühjahr mit positiven Erwartungen auf, z.B. bei J.v.Eichendorff: "Die zwei Gesellen":
Es zogen zwei rüstge Gesellen zum erstenmal von Haus, so jubelnd recht in die hellen, klingenden, singenden Wellen des vollen Frühlings hinaus. Die strebten nach hohen Dingen, die wollten, trotz Lust und Schmerz, was Rechts in der Welt vollbringen, und wem sie vorübergingen, dem lachten Sinnen und Herz. - [...]
In Wilhelm Müllers (1794-1827) Gedicht-Zyklus "Winterreise" ist diese Aufbruchsituation dagegen verkehrt: Schon im ersten Lied des Zyklus' entlässt der Dichter seinen Wanderer in den Winter und damit in eine Zeit der Heimatlosigkeit und Kälte.
Gute Nacht Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh ich wieder aus. Der Mai war mir gewogen Mit manchem Blumenstrauß. Das Mädchen sprach von Liebe, Die Mutter gar von Eh' - Nun ist die Welt so trübe, Der Weg gehüllt in Schnee. Ich kann zu meiner Reisen Nicht wählen mit der Zeit: Muß selbst den Weg mir weisen In dieser Dunkelheit. Es zieht ein Mondenschatten Als mein Gefährte mit, Und auf den weißen Matten Such ich des Wildes Tritt. |
Was soll ich länger weilen, Daß man mich trieb' hinaus? Laß irre Hunde heulen Vor ihres Herren Haus! Die Liebe liebt das Wandern, Gott hat sie so gemacht - Von einem zu dem andern - Fein Liebchen, gute Nacht! Will dich im Traum nicht stören, Wär' schad' um deine Ruh', Sollst meinen Tritt nicht hören - Sacht, sacht die Türe zu! Ich schreibe nur im Gehen An's Tor dir gute Nacht, Damit du mögest sehen, Ich hab' an dich gedacht. |
J.v.Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts
Der "Taugenichts" bricht auf in die Welt:
- „Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: »Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde und läßt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot.« - »Nun«, sagte ich, »wenn ich ein Taugenichts bin, so ists gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück machen.« Und eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher selber eingefallen, auf Reisen zu gehen, da ich die Goldammer, welche im Herbst und Winter immer betrübt an unserm Fenster sang: »Bauer, miet mich, Bauer, miet mich!« nun in der schönen Frühlingszeit wieder ganz stolz und lustig vom Baume rufen hörte: »Bauer, behalt deinen Dienst!«.
Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich recht artig spielte, von der Wand, mein Vater gab mir noch einige Groschen Geld mit auf den Weg, und so schlenderte ich durch das lange Dorf hinaus. Ich hatte recht meine heimliche Freude, als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. Ich rief den armen Leuten nach allen Seiten stolz und zufrieden Adjes zu, aber es kümmerte sich eben keiner sehr darum. Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte. Und als ich endlich ins freie Feld hinauskam, da nahm ich meine liebe Geige vor und spielte und sang, auf der Landstraße fortgehend:
Wem Gott will rechte Gunst erweisen, Den schickt er in die weite Welt, Dem will er seine Wunder weisen In Berg und Wald und Strom und Feld. Die Trägen, die zu Hause liegen, Erquicket nicht das Morgenrot, Sie wissen nur vom Kinderwiegen, Von Sorgen, Last und Not um Brot. Die Bächlein von den Bergen springen, Die Lerchen schwirren hoch vor Lust, Was sollt ich nicht mit ihnen singen Aus voller Kehl und frischer Brust? Den lieben Gott laß ich nur walten; Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld Und Erd und Himmel will erhalten, Hat auch mein Sach aufs best bestellt!"
Und noch einmal J.v. Eichendorff:
Dreifache Sehnsucht! Ein einsames, alterndes Ich hört (oder stellt sich vor), wie zwei nächtlich wandernde Gesellen in ihrem Wanderlied eine andere Welt voll zauberhafter Landschaften entstehen lassen, in denen Mädchen sehnsuchtsvoll am Fenster stehen:
Sehnsucht Es schienen so golden die Sterne, Am Fenster ich einsam stand Und hörte aus weiter Ferne Ein Posthorn im stillen Land. Das Herz mir im Leibe entbrennte, Da hab ich mir heimlich gedacht: Ach, wer da mitreisen könnte In der prächtigen Sommernacht! Zwei junge Gesellen gingen Vorüber am Bergeshang, Ich hörte im Wandern sie singen Die stille Gegend entlang: Von schwindelnden Felsenschlüften, Wo die Wälder rauschen so sacht, Von Quellen, die von den Klüften Sich stürzen in die Waldesnacht. |
Sie sangen von Marmorbildern, Von Gärten, die überm Gestein In dämmernden Lauben verwildern, Palästen im Mondenschein, Wo die Mädchen am Fenster lauschen, Wann der Lauten Klang erwacht, Und die Brunnen verschlafen rauschen In der prächtigen Sommernacht. - 1834 Mehr zu diesem Gedicht HIER.
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Wandern und Naturerleben
Der Wanderer kann Natur in gesteigerter Intensität erleben, sofern er sie nicht als Durchreisender betrachtet, sondern vielmehr ein Teil von ihr wird.
J.W.Goethe Wandrers Nachtlied Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warten nur, balde Ruhest du auch. | Dämrung senkte sich von oben, Schon ist alle Nähe fern: Doch zuerst emporgehoben Holden Lichts der Abendstern! Alles schwankt ins Ungewisse, Nebel schleichen in die Höh; Schwarzvertiefte Finsternisse Widerspiegelnd ruht der See. Nun im östlichen Bereiche Ahn ich Mondenglanz und -glut; Schlanker Weiden Haargezweige Scherzen auf der nächsten Flut. Durch bewegter Schatten Spiele Zittert Lunas Zauberschein, Und durchs Auge schleicht die Kühle Sänftigend ins Herz hinein. Mehr zu diesem Gedicht HIER.
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Ohne etwas Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz themengerecht sein sollte.