Naturlyrik Überlegungen und Arbeitsvorschläge

Natur & Lyrik: Zeitgeist & Epochen

Barthold Heinrich Brockes (1680 - 1747)

Naturlyrik der Frühaufklärung.
„Anders als noch im Barock erscheint hier die Fliege nicht mehr als emblematisches Zeichen der Unvollkommenheit, sondern wird zum Signum der Freude an der Natur. Die Natur wird en détail beschrieben und dabei sowohl Mikro- als auch Makrokosmos einbezogen. Die Freude über das unscheinbare Geschöpf führt zu irdischem Vergnügen - und damit auch zur Verehrung Gottes, daselbst in dem kleinsten Tier Gottes kreative Omnipotenz erscheint." (Aus der Vorlesung von Prof. Dr. Albert Meier, WS 2006/07 Uni Kiel, „Die Literatur des 18. Jahrhunderts", Genaueres unten)

Die kleine Fliege

Neulich sah ich, mit Ergetzen,
Eine kleine Fliege sich,
Auf ein Erlen-Blättchen setzen,
Deren Form verwunderlich
Von den Fingern der Natur,
So an Farb', als an Figur,
Und an bunten Glantz gebildet.
Es war ihr klein Köpfgen grün,
Und ihr Körperchen vergüldet,
Ihrer klaren Flügel Paar,
Wenn die Sonne sie beschien,
Färbt ein Roth fast wie Rubin,
Das, indem es wandelbar,
Auch zuweilen bläulich war.
Liebster Gott! wie kann doch hier
Sich so mancher Farben Zier
Auf so kleinem Platz vereinen,
Und mit solchem Glantz vermählen,
Daß sie wie Metallen scheinen!
Rief ich, mit vergnügter Seelen.
Wie so künstlich! fiel mir ein,
Müssen hier die kleinen Theile
In einander eingeschrenckt,
durch einander hergelenckt
Wunderbar verbunden seyn!
Zu dem Endzweck, daß der Schein
Unsrer Sonnen und ihr Licht,
Das so wunderbarlich-schön,
Und von uns sonst nicht zu sehn,
Unserm forschenden Gesicht
Sichtbar werd, und unser Sinn,
Von derselben Pracht gerühret,
Durch den Glantz zuletzt dahin
Aufgezogen und geführet,
Woraus selbst der Sonnen Pracht
Erst entsprungen, der die Welt,
Wie erschaffen, so erhält,
Und so herrlich zubereitet.
Hast du also, kleine Fliege,
Da ich mich an dir vergnüge,
selbst zur Gottheit mich geleitet. 

Kurzkommentar: Die Bewunderung für die Fliege resultiert aus dem Gedanken, dass nur ein genialer oberster Mechanikus ein derartiges Wunderwerk zustandebringen kann, dass also die Kunstfertigkeit, die selbst oder gerade auch in den kleinsten und lästigsten Wesen zu finden ist, ein Beweis für eine obersten Konstrukteur sein muss. Dieser Konstrukteurs-Gott ist mehr als nur ein Schöpfer - sein Denken und seine Schöpfung, also die "Natur", gehorchen den Prinzipien der mechanischen Wissenschaften. Das Geheimnis der Natur ist gelüftet durch genaue Beobachtung: Sie ist nichts Eigenständiges, sondern ein Beweisstück für die Rationalität der Welt. Die aufgeklärte Vernunft findet sich auf diese Weise in der Natur wieder, die Naturphänomene dienen der Selbstbestätigung der aufgeklärten Vernunft. (K.D.)

Barthold Hinrich Brockes: "Irdisches Vergnügen in Gott", eine Gedichtsammlung, die zwischen 1721 und 1748 in neun Bänden mit insgesamt mehr als 5500 Seiten erschienen. (Zit. nach Literaturwissenschaft online (pdf) Uni Kiel, siehe oben)

J.W.Goethe

Natur & Liebe: Eine neue Religion
Im 18. Jahrhundert wird „der Begriff der Natur zum Zentrum eines kritischen Gegendiskurses gegen den Rationalismus. Im Begriff der Natur sammelt sich die System- und Kulturkritik der Aufklärung. ... Dabei werden nun mit dem Naturbegriff sehr unterschiedliche Vorstellungskomplexe verbunden: sowohl die Vorstellung einer von Menschen unberührten, sei es paradiesischen, sei es wilden Natur, als auch die Vorstellung einer Befreiung von Mensch und Natur - die Leitidee des englischen Gartens - als auch - und dies vor allem seit Rousseau - die Befreiung der Natur des Menschen von Zwängen, Regeln und Normenvorgaben der Gesellschaft verbindet sich mit einem polemisch-kulturkritischen Naturbegriff." (Silvio Vietta: Die vollendete Speculation führt zur Natur zurück. Natur und ästhetik. Reclam Leipzig 1995, S.88)

J. W. Goethe
Maifest

Wie herrlich leuchtet 
Mir die Natur!  
Wie glänzt die Sonne!  
Wie lacht die Flur! 
 
Es dringen Blüten  
Aus jedem Zweig 
Und tausend Stimmen 
Aus dem Gesträuch,

Und Freud und Wonne 
Aus jeder Brust.
O Erd, o Sonne!
O Glück, o Lust!

O Lieb, o Liebe,
So golden schön,
Wie Morgenwolken 
Auf jenen Höhn!

Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blütendampfe
Die volle Welt.
O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb ich dich! 
Wie blickt dein Auge! 
Wie liebst du mich!

So liebt die Lerche 
Gesang und Luft, 
Und Morgenblumen 
Den Himmelsduft,

Wie ich dich liebe 
Mit warmem Blut, 
Die du mir Jugend 
Und Freud und Mut

Zu neuen Liedern 
Und Tänzen gibst. 
Sei ewig glücklich, 
Wie du mich liebst!
(1771)

Kurzkommentar: „... So liebt die Lerche / Gesang und Luft, ... Wie ich dich liebe / mit warmem Blut". In diesem Vergleich fallen die "Liebe" der Tier- und Pflanzenwelt und der Menschenwelt (genauer: im lyrischen ICH) zusammen, alle unterliegen sie einer Naturkraft, die die Elemente und die Spezies zusammendrängt, zueinander führt.
Die Liebe der Lerche ist keine Parabel oder Analogie-Konstruktion, sondern lediglich eine andere Verwirklichung derselben unwiderstehlichen Gewalt: Lieben ist göttlich, weil Liebe ein anderes Wort für den Gott des Pantheismus ist, in der Naturerfahrung offenbart sich Liebe als Grundprinzip allen Wachsens und Werdens und Liebesdienst ist Gottesdienst. (K.D.)

Noch einmal J.W.Goethe, nun mehr als 35 Jahre älter. Dieses Sonett beschreibt einen Naturvorgang, der zwar gewaltig und gewalttätig ist, zugleich aber zeigt, wie die Kräfte und Elemente schließlich zu Ruhe und Harmonie finden. Einfach klassisch!

Johann Wolfgang Goethe

   MÄCHTIGES ÜBERRASCHEN 	        

Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale,
   Dem Ozean sich eilig zu verbinden;
   Was auch sich spiegeln mag von Grund zu Gründen,
   Er wandelt unaufhaltsam fort zu Tale.

Dämonisch aber stürzt mit einem Male -
   Ihr folgen Berg und Wald in Wirbelwinden -
   Sich Oreas, Behagen dort zu finden,
   Und hemmt den Lauf, begrenzt die weite Schale.

Die Welle sprüht und staunt zurück und weichet
   Und schwillt bergan, sich immer selbst zu trinken;
   Gehemmt ist nun zum Vater hin das Streben.

Sie schwankt und ruht, zum See zurückgedeichet;
   Gestirne, spiegelnd sich, beschaun das Blinken
   Des Wellenschlags am Feld, ein neues Leben.		
   
   	(1807/8)
   
Oreas - Bergnymphe; die Nymphen verkörpern die Kraft der Natur auf der Erde, auf Bergen, in Hainen usw. Es wurden unterschieden z.B. die Nymphen der Gewässer, und zwar des Meeres (Nereiden) und der Landgewässer (Najaden), ferner die der Berge (Oreaden)und die der Bäume (Dryaden).

Kurzkommentar: Die Verwendung des Wortes "dämonisch" weist auf mehr hin als einen - wie auch immer - beeindruckenden Naturvorgang. Zum Dämonischen schreibt Goethe in "Dichtung und Wahrheit": "Obgleich jenes Dämonische sich in allem Körperlichen und Unkörperlichen manifestieren kann, (...) so steht es vorzüglich mit dem Menschen in wunderbarstem Zusammenhang und bildet eine der moralischen Weltordnung, wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht ..." (Dichtung und Wahrheit, 20. Buch). Die in der Natur waltenden chaotischen Kräfte bedürfen der Harmonisierung, des Ausgleiches durch ordnende Gegenkräfte. Wie in der Natur, so auch im Gemüt des Menschen!
Dass Goethe hierfür die Form des Sonetts gewählt hat, ist bezeichnend: Im Wechsel von den Quartetten zu den Terzetten findet eine Gegenbewegung statt, die das Aufeinanderprallen der Elemente Wasser und Wind durch das Chaos hindurch zu einer friedlichen Ausgeglichenheit führt, in der ein "neues Leben" entstehen kann.

Friedrich Hölderlin

Freiheitsraum Natur - Knechtschaft Gesellschaft
„Das vorneuzeitliche Denken hatte der Natur Eigenständigkeit und Eigenleben zugesprochen. Der Begriff Natur, abgeleitet vom lateinischen Stamm nasci (d.h. geboren werden, entstehen), meint ursprünglich die von Menschenhand unberührte, gewachsene Welt der Dinge sowie das von Geburt Mitgebrachte, Angeborene. ähnlich bezeichnet das griechische Wort physis den Bereich des von der Natur, nicht dem Menschen, Hervorgebrachten, Wachsenden und Werdenden. [...] Natur ist dieser Vorstellung nach (gemeint ist die Naturlehre des Aristoteles, K.D.) gerade das aus sich selbst heraus Lebensfähige und Wirksame, und sie ist dies nach griechischer Vorstellung auch nicht von Gnaden eines Schöpfergottes oder gar des Menschen." (Silvio Vietta: Die vollendete Speculation führt zur Natur zurück. Natur und ästhetik. Reclam Leipzig 1995 S. 13)

Friedrich Hölderlin (1770 - 1843)
Die Eichbäume
Aus den Gärten komm ich zu euch, ihr Söhne des Berges!
Aus den Gärten, da lebt die Natur geduldig und häuslich,
Pflegend und wieder gepflegt mit dem fleißigen Menschen zusammen.
Aber ihr, ihr Herrlichen! steht, wie ein Volk von Titanen
In der zahmeren Welt und gehört nur euch und dem Himmel,
Der euch nährt` und erzog, und der Erde, die euch geboren.
Keiner von euch ist noch in die Schule der Menschen gegangen,
Und ihr drängt euch fröhlich und frei, aus der kräftigen Wurzel,
Unter einander herauf und ergreift, wie der Adler die Beute,
Mit gewaltigem Arme den Raum, und gegen die Wolken
Ist euch heiter und groß die sonnige Krone gerichtet.
Eine Welt ist jeder von euch, wie die Sterne des Himmels
Lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen.
Könnt ich die Knechtschaft nur erdulden, ich neidete nimmer
Diesen Wald und schmiegte mich gern ans gesellige Leben.
Fesselte nur nicht mehr ans gesellige Leben das Herz mich,
Das von Liebe nicht läßt, wie gern würd ich unter euch wohnen.
Ein wunderbares Beispiel für oben Gesagtes ist das Gedicht von Fr. Hölderlin: „Die Eichbäume" (1798). Die Attribute, mit denen diese Bäume versehen werden: Unabhängigkeit, Selbstgenügsamkeit und Freiheit, eingespannt zwischen Himmel und Erde und an beiden Sphären teilhabend, die Schilderung / Lobpreisung von deren natürlicher Lebensform zeugt von einem Naturbild, das sich zwar am antiken Naturverständnis orientiert, zugleich aber auf das moderne Ideal von Autonomie hinzielt. Dass beides nicht geht, Autonomie und moderne Gesellschaft schafft den elegischen Grundton. (K.D.)

Mehr bei: Friedrich Hölderlin für die Schule (K.D.)

J.v. Eichendorff

Natur als Motiv in der Lyrik bedeutet nicht unbedingt, dass die Natur oder ein Naturverhältnis zentral oder realistisch thematisiert wird. Häufig bildet der Bildbereich Natur eine Art Kulisse für die Stimmung des lyrischen Ichs, während andere Motive im Zentrum der Aussage des Gedichts stehen. Insbesondere J.v.Eichendorffs Gedichte zeigen - mit Mühlenrad und Wiesengrund, oft auch mit Waldhornklang und Waldesrauschen - eine stereotypische Bildlichkeit.

Joseph von Eichendorff

Das zerbrochene Ringlein

In einem kühlen Grunde
Da geht ein Mühlenrad,
Mein' Liebste ist verschwunden,
Die dort gewohnt hat.

Sie hat mir Treu' versprochen,
Gab mir ein'n Ring dabei,
Sie hat die Treu' gebrochen,
Mein Ringlein sprang entzwei.

Ich möcht' als Spielmann reisen
Weit in die Welt hinaus,
Und singen meine Weisen,
Und gehn von Haus zu Haus.

Ich möcht' als Reiter fliegen
Wohl in die blut'ge Schlacht,
Um stille Feuer liegen
Im Feld bei dunkler Nacht.

Hör' ich das Mühlrad gehen:
Ich weiß nicht, was ich will -
Ich möcht' am liebsten sterben,
Da wär's auf einmal still!

Im Walde

Es zog eine Hochzeit den Berg entlang,
ich hörte die Vögel schlagen,
da blitzten viel Reiter, das Waldhorn klang,
das war ein lustiges Jagen!

Und eh ichs gedacht, war alles verhallt,
die Nacht bedecket die Runde,
nur von den Bergen noch rauschet der Wald
und mich schauert im Herzensgrunde.


Kurzkommentar: Der Mensch (der Romantik) ist in Naturvorgänge eingefügt, die ihm rätselhaft und undurchschaubar bleiben, die ihn in seiner Existenz gefährden und die durch kein Wissen und keine Wissenschaft gebändigt werden können. Dieses Wissen, das bei hellem Tage verdrängt wird, kehrt wieder, meldet sich gleichsam am Tagesende, bei Einbruch der Nacht (siehe auch: Zwielicht). Dann ist der „Wald" auch nicht ein Ort der Ruhe, der Heimkehr und Erholung - wie der Garten - sondern ein Ort des "Schauerns", der Orientierungslosigkeit, der Verwirrung oder gar des Untergangs - wie in „Waldgespräch":

    Es ist schon spät, es wird schon kalt,
    Was reit'st du einsam durch den Wald?
    Der Wald ist lang, du bist allein,
    ...

Mehr bei: Romantik & Lyrik -
Gedichtinterpretationen zu J.v.Eichendorffs „Sehnsucht", „Zwielicht" und „Im Walde" (K.D.)

Abschließend ein Blick in Volker Meids Eintrag "Natur" zum "Sachwörterbuch der Literatur". Er bietet eine Kürzestübersicht der geistesgeschichtlichen Entwicklung seit der Antike, die - bei aller Kürze - zu etwas Ordnung in der Fülle der Möglichkeiten beitragen könnte. Darüberhinaus bilden die hier genannten Autoren (und die eine Autorin) eine interessante ERgänzung zu den bisher aufgeführten:

(cc) Klaus Dautel

Ohne etwas Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz themengerecht sein sollte.
Dautels ZUM-Materialien: Google-Fuss

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