Suhrkamp (1999), 499 Seiten, ISBN: 3518120395
Eine besondere interkulturelle Lektüre im Jahr der politischen Lügen.
Eine besondere interkulturelle Lektüre im Jahr der politischen Lügen.
Den vorliegenden Taschenbuchband des Freiburger Sinologen Harro von Senger zum Thema "List" nimmt man nach seinem Erscheinungsjahr 1999 neu sensibilisiert zur Hand, denn Parteispendenskandale und der Krieg im Kosovo bescherten uns recht dreiste Politikeräußerungen zwischen List und Lüge. Wird nun womöglich auch die Falschheit in der zwischenmenschlichen Kommunikation der akademischen Welt akzeptabel?
Das Interesse an der Lektüre wird besonders durch die Beleuchtung des Themas "List" in interkultureller Perspektive geweckt. Mit seinem Einführungsbeitrag "Die List im chinesischen und abendländischen Denken" hat der Herausgeber für zwanzig Dozentinnen und Dozenten der Universität Freiburg im Breisgau den Ausgangspunkt zu einer interdisziplinären Reflexion über "Die List" markiert, die in diesem Buch dokumentiert ist.
Dabei spielt die Wörterbuchdefinition (Duden bzw. Wahrig) von "List" eine Rolle, nach der List eine mit Schläue eingesetzte ungewöhnliche Vorgehensweise oder Problemlösung ist, bei der der Überlistete getäuscht wird. Als Fachwort führt er für diese Form von List den Begriff "Strategem" ein. In China sei die Verwendung von Listen seit altersher gebräuchlich und bei entsprechender Zielsetzung auch ethisch unbedenklich. Aus abendländischer Sicht sei die in China gebräuchliche rationale Verwendung von Strategemen in ihrer Mannigfaltigkeit und Tradition wenig bekannt und werde auch oft fehlgedeutet. So sei es zum Beispiel völlig falsch gewesen, die listige Antwort von Chinas Ministerpräsidenten Li Ping auf die Anmahnung der Menschenrechte durch den deutschen Politiker mit "Aber wäre Deutschland auch bereit, 10 bis 15 Millionen Chinesen jährlich aufzunehmen und für sie zu sorgen?" als "unglaublichen Zynismus" abzuwerten. Hier werde von deutscher Seite schlicht und einfach die Anwendung eines Strategems nicht erkannt, von menschen- verachtender Reaktion könne gar keine Rede sein. (S. 44 f) Nach Harro von Sengers Überzeugung "krankt der westliche intellektuelle Umgang mit dem Listphänomen u. a. daran, daß es gänzlich ignoriert wird und daß infolge einer vorschnellen ethischen Mißbilligung (...) jeglicher Impuls zu einer ernsthaften wissenschaftlichen Auseinandersetzung damit von vornherein unterbunden wird." (S. 48)
In der vorliegenden Sammlung von Aufsätzen findet ebendiese wissenschaftliche Beschäftigung mit der List statt, angefangen mit der List im alten Orient (Burkhart Kienast), die in der Fabel vom Fuchs als Keilschrift überliefert ist; weiter mit Strategemen bei den alten Ägyptern (Erhard Graefe) und mit dem listenreichen Odysseus. Renate Zoepfel schreibt in ihrem Beitrag über die List bei den Griechen:
"Ich denke, das Thema List eignet sich hervorragend, um Fragen der zwischenmenschlichen Kommunikation zu untersuchen. Die offenbar weltweite Verbreitung des Phänomens macht es für interkulturelle Vergleiche besonders geeignet. Darüber hinaus wirft das Thema die Frage nach der Wirklichkeitswahrnehmung auf und nach der Art und Weise, wie diese die Alltagskommu- nikation möglicherweise steuert." (S,. 133)
Auf diese Weise neugierig geworden, liest man weiter, und zwar auf der Suche nach der interkulturellen List-Differenz.
Friedrich Wilhelm ist der Frage "In der Liebe und im Krieg ist jede List erlaubt - Denkt Indien anders?" nachgegangen und hat das Phänomen im Sanskrit u. a. im berühmten Kamasutra aufgespürt. Sein Fazit: "Ich sehe keinen diametralen Unterschied zwischen Indien und dem Westen. (...) Sicher gibt es auch Unterschiede in der Listigkeit der einzelnen Völker - in Europa wie auf dem indischen Subkontinent, (...) Ethnische Pauschalurteile sind nicht wissenschaftlich beweisbar." (S. 152 f)
In weiteren Beiträgen von Fachgelehrten geht es um "List und Lüge in der theologischen Tradition" (Eberhard Schockenhoff), um List aus der Sicht von Historikern, Germanisten, Sprachwissen- schaftlichern, aus der Sicht des Islamforschers, des Juristen, des Psychologen, des Politologen, des Philosophen sowie aus der Perspektive von Verhaltensforschung und Biologie. Um mir eine genaue Auflistung zu ersparen, verweise ich auf das Inhaltsverzeichnis des Buches sowie auf die Liste der Autorinnen und Autoren in dessen Anhang, denn angesicht der Vielfalt von Aspekten muss ich mich auf einige wenige konzentrieren, obgleich man als Rezensent mit diesem Vorgehen nicht jedem Autor des Sammelbandes gerecht wird.
Für die Leser im Bereich der Pädagogik dürfte Folgendes von besonderem Interesse sein:
Der Sprachwissenschaftler und Germanist Hugo Steger macht in seinem Beitrag auf die alltägliche Listanwendung im päda- gogischen Beruf aufmerksam. Jeder gute Lehrer gebe seinen Schülern Aufgaben und stelle Fragen, als ob er das richtige Ergebnis oder die Antworten nicht schon zumindest teilweise wüsste. Er geht dann auf die List als besonderen Typ sprachlichen Handelns ein und unterscheidet zwischen listigem Verhalten als natürliche Anpassung des Inviduums im evolutionären Selektions- prozess einerseits und dem Listhandeln in der menschlichen Natur und Kultur andererseits. Nach seiner Auffassung kann man das Phänoment in einer Skala von kommunikativen Handlungs- kategorien der List erfassen, die aus folgenden Teilen besteht:
"1. normal/wahr/ehrlich/gut;
2. listig und
3. vom Normalfall abweichend/unehrlich/böse (...)".
Diese Kategorien seien vom Menschen als kulturelle Kategorien entwickelt worden und gehörten nicht zu seiner Natur im evolutionären Prozess.
Der Leser, der bis an dieser Stelle im Buch bereits eine Fülle von Listhandeln in den verschiedenen Beiträgen kennengelernt hat, darf sich freuen, dass doch noch die Wahrhaftigkeit etwas gilt und dass hier das von der Natur gegebene egoistische "natürliche Vorteilshandeln als Listhandeln und Lügenhandeln" dem offensichtlich höher bewertetem "Wahrhandeln" aufgrund kultureller Prägung gegenübergestellt ist.
Für Lehrende und Lernende des Deutschen dürfte der Beitrag des Anglisten Herbert Pilch aufschlussreich sein. Darin werden die sprachlichen Tricks untersucht, die aufgrund des grammatischen und semantischen Systems einer Sprache möglich sind. Vor allem findet man dort einen Abschnitt zur Abwehr gegen Überlistung: "Wie schütze ich mich davor, der listigen Rede zum Opfer zu fallen? Indem ich die List durchschaue, und zwar so rechtzeitig, daß ich sie noch abwehren kann." Zu dieser Abwehr gehört auch das Erkennen der politischen Rhetorik.
Dazu stellt Pilch unter anderem fest, dass die eingangs erwähnte Anmahnung der Menschenrechte in China durch deutsche Politiker auch eine List sein könnte, denn es gehe dabei im Grunde um einen verborgenen Appell an das Publikum des Heimatlandes. "Und welchen Schluß legt der Appell dem einheimischen Publikum nahe? - Unsere Minster treten selbstlos für edel Zwecke ein! - Man überlege sich, für welche Zuhörer sie sprechen! Vielleicht für Chinesen?" (S. 382)
Die Philosophin Ute Guzzoni räumt ein, dass listiges Verhalten zwar zur Praxis gehöre und mit Listhandeln Ziele erreicht werden. List sei aber ebensowenig wie Gewalt der genuine Weg der Vernunft: "Die Vernunft, das reine Vernehmen, bedarf keines wie auch immer gearteten zweiten Weges oder Umweges." (S. 398) Im abendländischen Denken habe man immer den Anspruch gehabt, die Wahrheit zu erkennen. Dazu habe der listige Umweg nicht gepasst. Im Anschluss an Nietzsche macht Guzzioni auf eine ethisch besonders akzeptable Form der List im praktischen Tun aufmerksam: "Das Schenken als listige Kunst der Güte und überhaupt: `Güte in der List?´ (...) Daß einer etwas Schönes mit jemandem vorhat, das kann durchaus listig eingefädelt und ausgeführt werden und kann gerade durch diese listige Weise des Vorgehens eine Lust und ein Genuß sein -- für den Nehmenden wie für den Gebenden, für den auf diese Weise `Überlisteten´ wie für den Listigen selbst."
(S. 407)
Der letzte Beitrag des Buches von Peter Sitte bietet eine eindrucksvolle und zugleich unterhaltsame Sammlung von Täuschungen bei Tieren, Pflanzen, Bakterien und Viren aus evolutionsbiologischer Sicht. Der Biologe vermag nirgends zu erkennen, dass die Evolution in den sie konstituierenden Einzelprozessen zielgerichtet oder gar zielintendiert wäre, sondern er sieht, dass sie ausgesprochen "opportunistisch" verläuft, indem jeder sich bietende Vorteil im Sinne besserer Angepaßtheit der Organismen an ihre Lebensbedingungen in der Umwelt genutzt wird.
Da der Natur also keine zielbewusste List eigen ist, mag dem Leser dieses Buches die abschließende Einsicht kommen, dass es in der Natur keine Rechtfertigung für ein menschliches Listverhalten gibt, das egoistisch und letztlich zivilisations- schädlich ist. Arglist und hinterhältige Täuschung bleiben ebenso verabscheuenswert wie die politischen Lügen unserer Zeit.
Man darf getrost weiterhin wahrhaftig sein, auch wenn es dem persönlichen Vorteil nicht nützlich ist. List gilt es zu erkennen und abzuwehren, ethisch vertretbare Listanwendungen bleiben gestattet und können kultiviert werden. Das vorliegende Buch liefert hierzu wertvolle Beiträge.
verfasst von Günther Miklitz am 18.02.2001
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Fachrichtung:
Gemeinschaftskunde
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