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Rezensionen auf ZUM-Buch |
Racquel J. Palacio, Hanser (2013), 380 Seiten, ISBN: 3423625899
„Ich werde nicht beschreiben, wie ich aussehe. Was immer ihr euch vorstellt - es ist schlimmer.“ (S.10) - August heißt der Ich-Erzähler, ein 10-jähriger Junge, dessen Gesicht von Geburt an entstellt ist und auch durch unzählige Operationen nicht ins Normale gebracht werden konnte. Dies führt dazu, dass er bislang zuhause von der Mutter unterrichtet worden ist und wenig Kontakte hat. Die Familie ist Middle Class und wohnt in Manhattan, die Mutter - Kinderbuchzeichnerin - arbeitet nicht, damit sie sich der Erziehung von August und seiner fünf Jahre älteren Schwester Via widmen kann. August soll nun aber doch eingeschult werden und zwar in die fünfte Klasse einer Middle-School. Die Vorstellung beim Schulleiter Mr Pomann geht noch ganz gut, drei Schüler zeigen August die Schule, Charlotte, Jack und Julian. Letzterer ist weniger ‚nett‘ als die anderen und wird sich als sein Gegner herausstellen, während Jack über kurz oder lang sein Freund wird.
Die ersten Schultage und Wochen gehen ohne besondere Katastrophen vorbei, August macht sogar Bekanntschaft mit einem netten Mädchen, das sich nicht um das Getuschel der anderen zu kümmern scheint. Alles geht gut bis Halloween. In seiner Scream-Verkleidung muss er in der Schule mithören, was die Mitschüler über ihn sprechen, insbesondere Julian, von dem er es erwartet hatte, aber auch von seinem Sitznachbarn Jack! Das wirft ihn völlig aus der Bahn, er verkriecht sich zuhause und will nicht mehr in die Schule gehen.
Er geht dann aber doch noch und erlebt in seinem ersten Schuljahr das ganze Spetrum von Anfeindungen und Spott, aber auch von Zuspruch und Ermutigungen, das mit der Integration eines absoluten Außenseiters zusammenhängt. Um den „Zombie“ herum entsteht ein „Krieg“, in dem es wechselnde Parteiungen für und gegen ihn gibt; Julians Eltern möchten die Aufnahme Augusts in die Schule rückgängig machen, weil dessen Anwesenheit die Kinder unter unerträglichen psychischen Druck setzt. August aber übersteht den „Krieg“ und gewinnt nach und nach Freunde und Anerkennung: Zum einen weil er ein guter und hilfreicher Schüler ist, er lässt z.B. seine Hausaufgaben abschreiben; zum anderen weil seine Tapferkeit zunehmend Anerkennung findet.
Dabei helfen ihm nicht nur seine sehr fürsorglichen Eltern, sondern auch die ältere Schwester Olivia, deren Freund Justin, auch Olivias Freundin Miranda findet nach anfänglicher Distanzierung ihre Rolle als beste Freundin wieder, die Mitschülerin Summer, die sich von Anfang an nicht um die Meinung der Mehrheit schert, und schließlich auch der Sitznachbar Jack, der sich aus dem Dunstkreis der „Angesagten“ zu befreien vermag.
Überhaupt geht es unter diesen 10- bis 15-jährigen Schulkids viel um Angesagtsein und Dazugehören, aber auch um den eigenen Weg gegenüber den Erwartungshaltungen der Mitschüler und Erwachsenen.
Die letzte und größte Bewährungsprobe steht für August im Freizeitlager an, denn er war noch nie von Zuhause weg gewesen. Alles geht gut bis zum letzten Abend, wo August und Jack beim Pinkeln im Wald von einer Gruppe Siebtklässler aus einer anderen Schule überrascht und bedroht werden. ... Genaueres wird hier nicht verraten, nur soviel sei gesagt: Es gibt ein Happy End allergrößten Ausmaßes, das den Leser nicht ungerührt lässt.
Mein Fazit:
Das Buch ist kein literarisches Meisterwerk, es hat Längen und Wiederholungen, es lässt keine dramatische Spannung erkennen, es besteht vielmehr aus vielen Episoden und zuweilen ziemlich gedehnten Dialogen. Der Schluss ist so ganz und gar positiv, dass man sich zwischen Gerührtsein und Kopfschütteln wiederfindet: Es herrscht Kitschverdacht oder auch Schmalzalarm, man wähnt sich wahrlich in einer pädagogischen Wunderwelt statt in einer amerikanischen Metropole, in der zehnjährige Kinder nicht allein in die Schule gehen können, sondern von Eltern oder Älteren gebracht werden müssen.
Interessant und lesenswert ist das Buch m.E. aus anderen Gründen:
1. Weil August ein faszinierender / sympathischer Protagonist ist, der sein Schicksal so tapfer meistert und dessen seelische Befindlichkeit so offen zu Tage liegt.
2. Weil die Autorin so tapfer Partei ergreift für die weniger begnadeten und begüterten Stadtbewohner. August ist zwar körperlich behindert, aber wohlbehütet, jedoch haben seine Freunde und Freundinnen alle auch eine Lebensbürde zu tragen: Summer ist Halbwaise, Justin und Miranda sind Scheidungskinder, Jacks Eltern sind - obwohl oder weil sie Lehrer und Sozialarbeiter sind - arm ... Alle sind schließlich Gewinner, Julian dagegen, der Sohn reicher Eltern, ist der Verlierer, er ist am Schuljahresende nicht mehr angesagt und seine Eltern ziehen es vor, eine ,bessere‘ Schule für ihn zu suchen.
3. Der Roman gibt Einblicke in eine amerikanische Schule, in der der Alltag anders organisiert ist als bei uns, in der die Schüler in viele Projekte eingebunden, vielleicht auch hineingezwungen werden, in der von Lehrer- und Schulleitungsseite viel pädagogischer Eros und eine Schulleitung umsichtig waltet. Eine Privatschule zwar, aber allem Anschein nach keine Reichenschule.
4. Der Roman hat keine dramatische Spannung, aber eine Struktur, die ihn lesenswert macht: die wechselnden Erzähler und Erzählerinnen. Denn der arg verunstaltete August löst bei seiner Umwelt ja keine geringen Probleme aus. Wie reagiert man auf ein solches Gesicht, kann man sich je daran gewöhnen? Wie positioniert man sich angesichts der Anfeindungen durch die Angesagten und Wortführer? Augusts Problem ist immer auch ein Problem derjenigen, die mit ihm leben müssen. Das Spektrum der Verhaltensweisen reicht von der Überfürsorglichkeit der Eltern bis zur schlimmsten Erniedrigung durch den Hohn und Spott von Mitschülern. Dazwischen müssen Erwachsene wie Kinder einen sozial und moralisch verträglichen Weg finden. Die Perspektiven-Vielfalt in der Anlage des Romans gibt dies gut wieder.
verfasst von Klaus Dautel am 03.03.2014
| 8596-mal gelesen
Fachrichtungen:
Ethik
Deutsch
Pädagogik
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Kommentare zu dieser Rezension |
Hannes Ka schrieb am 13.09.2014:
Hallo Klaus,
ich habe das Buch im Frühjahr beim Recherchieren im Zusammenhang mit einem Seminar zu Jugendliteratur im DaF-Unterricht entdeckt, eher so nebenbei im Vorbeigehen. In der Buchhandlung hat mich das Cover angesprochen, ich habe reingeschaut und das Buch gekauft. Es hat mich die Geschichte und die Erzählweise gefesselt. Ich denke, dass es die Haltung ist, die ausgesprochen empathische Einstellung der Autorin, die das Buch so ansprechend und die Geschichte für mich so berührend macht. Die Autorin ist in der Lage, ihre Einstellung auf spannende Weise zum Ausdruck zu bringen. Alle, denen ich das Buch empfohlen habe, fanden es toll.
Beste Grüße
Hannes
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Klaus Dautel schrieb am 15.10.2014:
Zur Information: Am 14. Oktober erhielt "Wunder" den Deutschen Jugendliteraturpreis 2014. Aus der Begründung der "Jugendjury":
"Das oft genutzte Motiv, dass es auf die inneren Werte ankommt, wird hier neu und ohne mahnenden Zeigefinger umgesetzt. Durch wechselnde Perspektiven kann der Leser nicht nur die Gefühle und Handlungen Auggies, sondern auch die seines Umfeldes verstehen. Der Leser entwickelt sich mit den sympathischen Charakteren. Die flüssige Sprache und die zahlreichen Details lassen die Geschichte persönlich und lebensnah wirken. Der Roman berührt den Leser und regt zum Nachdenken an."
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Hannes Ka schrieb am 20.10.2014:
Lieber Klaus,
der Deutsche Jugendliteraturpreis 2014 ging an
Inés Garland für "Wie ein unsichtbares Band".
Palacio hat für "Wunder" den Preis der Jugendjury 2014 bekommen.
Beste Grüße
Hannes
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