Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
Drittes Kapitel.
Unser Leben.
Monistische Studien über menschliche und vergleichende
Physiologie. Uebereinstimmung in allen Lebensfunktionen des Menschen
und der Säugethiere.
------
Inhalt: Entwickelung der Physiologie im Alterthum und
Mittelalter. Galenus. Experiment und Vivisektion. Entdeckung des
Blutkreislaufs durch Harvey. Lebenskraft (Vitalismus): Haller.
Teleologische und vitalistische Auffassung des Lebens. Mechanistische
und monistische Beurtheilung der physiologischen Prozesse.
Vergleichende Physiologie des 19. Jahrhunderts: Johannes Müller.
Cellular-Physiologie: Max Verworn. Cellular-Pathologie: Virchow.
Säugethier-Physiologie. Uebereinstimmung aller
Lebensthätigkeiten beim Menschen und Affen.
Unsere Kenntniß vom menschlichen Leben hat sich erst innerhalb
des 19. Jahrhunderts zum Range einer selbstständigen, wirklichen
Wissenschaft erhoben; sie hat sich erst innerhalb desselben zu
einem der vornehmsten, interessantesten und wichtigsten Wissenzweige
entwickelt. Diese "Lehre von den Lebensthätigkeiten", die
Physiologie, hat sich zwar frühzeitig der Heilkunde als eine
wünschenswerthe, ja nothwendige Vorbedingung für
erfolgreiche ärztliche Thätigkeit fühlbar gemacht, in
engem Zusammenhang mit der Anatomie, der Lehre vom
Körperbau. Aber sie konnte erst viel später und langsamer
als diese letztere gründlich erforscht werden, da sie auf viel
größere Schwierigkeiten stieß.
Der Begriff des Lebens, als Gegensatz zum Tode, ist
natürlich schon sehr frühzeitig Gegenstand des Nachdenkens
gewesen. Man beobachtete am lebenden Menschen wie an den
lebendigen Thieren eine Anzahl von eigenthümlichen
Veränderungen, vorzugsweise Bewegungen, welche den
"todten" Naturkörpern fehlten: selbstständige Ortsbewegung,
Herzklopfen, Athemzüge, Sprache u. s. w. Allein die
Unterscheidung solcher "organischen Bewegungen" von ähnlichen
Erscheinungen bei anorganischen Naturkörpern war nicht leicht
und oft verfehlt; das fließende Wasser, die flackernde Flamme, der
wehende Wind, der stürzende Fels zeigten dem Menschen ganz
ähnliche Veränderungen, und es war sehr natürlich,
daß der naive Naturmensch auch diesen "todten Körpern" ein
selbstständiges Leben zuschrieb. Von den bewirkenden Ursachen
konnte man sich ja bei den letzteren ebenso wenig befriedigende
Rechenschaft geben als bei den ersteren.
Menschliche Physiologie. Die ältesten wissenschaftlichen
Betrachtungen über das Wesen der menschlichen
Lebensthätigkeiten treffen wir (ebenso wie diejenigen über
den Körperbau des Menschen) bei den griechischen
Naturphilosophen an Aerzten im sechsten und fünften
Jahrhundert vor Chr. Die reichste Sammlung von bezüglichen,
damals bekannten Thatsachen finden wir in der Naturgeschichte des
Aristoteles; ein großer Theil seiner Angaben rührt
wahrscheinlich schon von Demokritos und Hippokrates
her. Die Schule des Letzteren stellte auch bereits Erklärungs-Versuche an;
sie nahm als Grundursache des Lebens bei Menschen und
Thieren einen flüchtigen "Lebensgeist" an (Pneuma);
und Erasistratus (280 vor Chr.) unterschied bereits einen
niederen und einen höheren Lebensgeist, das Pneuma
zoticon im Herzen und das Pneuma psychicon im
Gehirn.
Der Ruhm, alle diese zerstreuten Kenntnisse zusammengefaßt und
den ersten Versuch zu einem System der Physiologie gemacht zu haben,
gebührt dem großen griechischen Arzte Galenus,
demselben, den wir auch als den ersten großen Anatomen des
Alterthums kennen gelernt haben (vergl. S. 15). Bei seinen
Untersuchungen über die Organe des menschlichen
Körpers stellte er sich beständig auch die Frage nach ihren
Lebensthätigkeiten oder Funktionen, und auch hierbei
verfuhr ervergleichend und untersuchte vor Allem die
menschenähnlichen Thiere, die Affen. Die Erfahrungen, die
er hier gewonnen, übertrug er direkt auf den Menschen. Er
erkannte auch bereits den hohen Werth des physiologischen
Experimentes: bei Vivisektion von Affen, Hunden und Schweinen
stellte er verschiedene interessante Versuche an. Die
Vivisektionen sind neuerdings nicht nur von unwissenden und
beschränkten Leuten, sondern auch von wissensfeindlichen
Theologen und von gefühlsseligen Gemüthsmenschen
vielfach auf das Heftigste angegriffen worden; sie gehören aber zu
den unentbehrlichen Methoden der Lebens-Forschung und haben
uns unschätzbare Aufschlüsse über die wichtigsten
Fragen gegeben; diese Thatsache wurde schon vor 1700 Jahren von
Galenus erkannt.
Alle verschiedenen Funktionen des Körpers führt
Galenus auf drei Hauptgruppen zurück, entsprechend den
drei Formen des Pneuma, des Lebensgeistes oder "Spiritus".
Das Pneuma psychicon - die "Seele" - hat ihren Sitz in
Gehirn und den Nerven, sie vermittelt das Denken, Empfinden
und den Willen (die willkürliche Bewegung); das Pneuma
zoticon - das "Herz" - bewirkt die "sphygmischen Funktionen", den
Herzschlag, Puls und die Wärmebildung; das Pneuma
physicon endlich, in der Leber befindlich, ist die Ursache der
sogenannten vegetativen Lebensthätigkeiten, der Ernährung
und des Stoffwechsels, des Wachstums und der Fortpflanzung. Dabei
legte er besonderes Gewicht auf die Erneuerung des Blutes in den
Lungen und sprach die Hoffnung aus, daß es dereinst gelingen
werde, aus der atmosphärischen Luft den Bestandtheil
auszuscheiden, welcher als Pneuma bei der Athmung in das Blut
aufgenommen werde. Mehr als fünfzehn Jahrhunderte verflossen,
ehe dieses Respirations-Pneuma - der Sauerstoff - durch
Lavoisier entdeckt wurde.
Ebenso wie für die Anatomie des Menschen, so blieb auch
für seine Physiologie das großartige System des
Galenus während des langen Zeitraums von dreizehn
Jahrhunderten der Codex aureus, die unantastbare Quelle aller
Kenntnisse. Der kulturfeindliche Einfluß des Christenthums
bereitete auch auf diesem, wie auf allen anderen Gebieten der
Naturerkenntniß die unüberwindlichsten Hindernisse. Vom
dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert trat kein einziger Forscher auf,
der gewagt hätte, selbstständig wieder die
Lebensthätigkeiten des Menschen zu untersuchen und über
den Bezirk des Systems von Galenus hinauszugehen. Erst im 16.
Jahrhundert wurden dazu mehrere bescheidene Versuche von
angesehenen Aerzten und Anatomen gemacht (Paracelsus,
Servetus, Vesalius u. A.). Aber erst im Jahre 1628
veröffentliche der englische Arzt Harvey seine große
Entdeckung des Blutkreislaufs und wies nach, daß das Herz
ein Pumpwerk ist, welches durch regelmäßige,
unbewußte Zusammenziehung seiner Muskeln die Blutwelle
unablässig durch das kommunicirende Röhrensystem der
Adern oder Blutgefäße treibt. Nicht minder wichtig waren
Harvey's Untersuchungen über die Zeugung der Thiere, in
Folge deren er den berühmten Satz aufstellte: "Alles Lebendige
entwickelt sich aus einem Ei" (omne vivum ex ovo).
Die mächtige Anregung zu physiologischen Beobachtungen und
Versuchen, welche Harvey gegeben hatte, führte im 16.
und 17. Jahrhundert zu einer großen Anzahl von Entdeckungen.
Diese faßte der Gelehrte Albrecht Haller um die Mitte des
18. Jahrhunderts zum ersten Male zusammen; in seinem großen
Werke "Elementa physiologiae" begründete er den
selbstständigen Werth dieser Wisserschaft und nicht nur in ihrer
Beziehung zur praktischen Medicin. Indem aber Haller für
die Nerven-Thätigkeit eine besondere "Empfindungskraft oder
Sensibilität" und ebenso für die Muskelbewegung eine
besondere "Reizbarkeit oder Irritabilität" als Ursache annahm,
lieferte er mächtige Stützen für die irrthümliche
Lehre von einer eigenthümlichen "Lebenskraft" (Vis
vitalis). (Vergl. Anm. 2, S. 157.)
Lebenskraft (Vitalismus). Ueber ein volles Jahrhundert
hindurch, von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, blieb
in der Medicin, und speciell in der Physiologie, die alte Anschauung
herrschend, daß zwar ein Theil der Lebens-Erscheinungen auf
physikalische und chemische Vorgänge
zurückzuführen sei, daß aber ein anderer Theil
derselben durch eine besondere, davon unabhängige
Lebenskraft (Vis vitalis) bewirkt werde. So
verschiedenartig auch die besonderen Vorstellungen vom Wesen
derselben und besonders von ihrem Zusammenhang mit der "Seele" sich
ausbildeten, so stimmten doch alle darin überein, daß die
Lebenskraft von den physikalisch-chemischen Kräften der
gewöhnlichen "Materie" unabhängig und wesentliche
verschieden sei; als eine selbstständige, der anorganischen Natur
fehlende "Urkraft" (Archaeus) sollte sie die ersten in ihren
Dienst nehmen. Nicht allein die Seelenthätigkeit selbst, die
Sensibilität der Nerven und die Irritabilität der Muskeln,
sondern auch Vorgänge der Sinnesthätigkeit, der
Fortpflanzung und Entwicklung erschienen allgemein so wunderbar und
in ihren Ursachen so räthselhaft, daß es unmöglich sei,
sie auf einfache physikalische und chemische Naturprozesse
zurückzuführen. Da die freie Thätigkeit der
Lebenskraft zweckmäßig und bewußt wirkte,
führte sie in der Philosophie zu einer vollkommenen
Teleologie; besonders erschien diese unbestreitbar, seitdem selbst
der "kritische" Philosoph Kant in seiner berühmten Kritik
der teleologischen Urtheilskraft zugestanden hatte, daß zwar die
Befugniß der menschlichen Vernunft zur mechanischen
Erklärung aller Erscheinungen ungeschränkt sie, daß
aber die Fähigkeit dazu bei den Erscheinungen des organischen
Lebens aufhöre; hier müsse man nothgedrungen zu einem
"zweckmäßig thätigen", also
übernatürlichen Prinzip seine Zuflucht nehmen.
Natürlich wurde der Gegensatz dieser vitalen
Phänomene zu den mechanischen Lebensthätigkeiten
um so auffälliger, je weiter man in der chemischen und
physikalischen Erklärung der letzteren gelangte. Der Blutkreislauf
und ein Theil der anderen Bewegungs-Erscheinungen leißen sich
auf mechanische Vorgänge, die Athmung und Verdauung auf
chemische Processe gleich denjenigen in der anorganischen Natur
zurückführen; dagegen bei den wunderbaren Leistungen der
Nerven und Muskeln wie im eigentlichen "Seelenleben" schien das
unmöglich; und auch das einheitliche Zusammenwirken aller
dieser verschiedenen Kräfte im Leben des Individuums erschien
damit unerklärbar. So entwickelte sich ein vollständiger
physiologischer Dualismus - ein principieller Gegensatz zwischen
anorganischer und organischer Natur, zwischen materieller Kraft und
Lebenskraft, zwischen Leib und Seele. Im Beginne des 19. Jahrhunderts
wurde dieser Vitalismus besonders eingehend durch Louis Dumas
in Frankreich begründet, durch Reil in Deutschland. Eine
schöne poetische Darstellung desselben hatte schon 1795
Alexander Humbold in seiner Erzählung vom Rhodischen
Genius gegeben (- wiederholt mit kritischen Anmerkungen in den
"Ansichten der Natur" -).
Der Mechanismus des Lebens (monistische Physiologie). Schon
in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte der
berühmte Philosoph Descartes, fußend auf
Harvey's Entdeckung des Blutkreislaufs, den Gedanken
ausgesprochen, daß der Körper des Menschen ebenso wie der
Thiere eine komplizirte Maschine sei, und daß ihre
Bewegungen nach denselben mechanischen Gesetzen erfolgen wie bei
den künstlichen, vom Menschen für einen bestimmten
Zweck gebauten Maschinen. Allerdings nahm Descartes trotzdem
für den Menschen allein eine vollkommene Selbstständigkeit
der immateriellen Seele an und erklärte sogar deren subjektive
Empfindung, das Denken für das Einzige in der Welt, von dem wir
unmittelbar ganz sichere Kenntniß besitzen ("Cogito, ergo
sum!"). Allein dieser Dualismus hinderte ihn nicht, im Einzelnen die
Erkenntniß der mechanischen Lebensthätigkeiten vielseitig
zu fördern. Im Anschluß daran führte Borelli
(1660) die Bewegungen des Thierkörpers auf rein physikalische
Gesetze zurück, und gleichzeitig versuchte Sylvius, die
Vorgänge bei der Verdauung und Athmung als rein chemische
Processe zu erklären; Ersterer begründete in Medicin eine
iatromechanische, Letzterer eine iatrochemische Schule.
Allein diese vernünftigen Ansätze zu einer
naturgemäßen, mechanischen Erklärung der Lebens-Erscheinungen
vermochten keine allgemeine Anwendung und Geltung
zu erringen; und im Laufe des 18. Jahrhunderts traten sie ganz
zurück, je mehr sich der teleologische Vitalismus entwickelte. Eine
endgültige Widerlegung des letzteren und Rückkehr zur
ersteren wurde erst vorbereitet, als im vierten Decennium des 19.
Jahrhunderts die neue vergleichende Physiologie sich zu
fruchtbarer Geltung erhob.
Vergleichende Physiologie. Wie unsere Kenntnisse vom
Körperbau des Menschen, so wurden auch diejenigen von seiner
Lebensthätigkeit ursprünglich größtentheils nicht
durch direkte Beobachtung am menschlichen Organismus selbst
gewonnen, sondern an den nächstverwandten Wirbelthieren, vor
allem den Säugethieren. Insofern waren schon die
ältesten Anfänge der menschlichen Anatomie und
Physiologie "vergleichend". Aber die eigentliche "vergleichende
Physiologie", welche das ganze Gebiet der Lebens-Erscheinungen von
den niedersten Thieren bis zum Menschen hinauf im Zusammenhang
erfaßt, ist erst eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts; ihr
großer Schöpfer war Johannes Müller in Berlin
(geb. 1801 in Coblenz als Sohn eines Schuhmachers). Von 1833 bis 1858,
volle 25 Jahre hindurch, entfaltete dieser vielseitigste und umfassendste
Biologe unserer Zeit an der Berliner Universität als Lehrer und
Forscher eine Thätigkeit, die nur mit der vereinigten Wirksamkeit
von Haller und Cuvier zu vergleichen ist. Fast alle
großen Biologen, welche in den letzten 60 Jahren in Deutschland
lehrten und wirkten, waren direkt oder indirekt Schüler von
Johannes Müller. Ursprünglich ausgehend von der
Anatomie und Physiologie des Menschen, zog derselbe bald alle
Hauptgruppen der höheren und niederen Thiere in den Kreis
seiner Vergleichung. Indem er zugleich die Bildung der ausgestorbenen
Thiere mit den lebenden, den gesunden Organismus des Menschen mit
dem kranken verglich, indem er wahrhaft philosophisch alle
Erscheinungen des organischen Lebens zusammenzufassen strebte,
erhob er sich zu einer bis dahin unerreichten Höhe der
biologischen Erkenntniß.
Die werthvollste Frucht dieser umfassenden Studien von Johannes
Müller war sein "Handbuch von der Physiologie des
Menschen" (in zwei Bänden und acht Büchern; 1833, vierte
Auflage 1844). Dieses klassiche Werk gab viel mehr, als der Titel besagt;
es ist der Entwurf zu einer umfassenden "Vergleichenden
Biologie". Noch heute steht dasselbe in Bezug auf Inhalt und Umfang
des Forschungsgebietes unübertroffen da. Insbesondere sind darin
die Methoden der Beobachtung und des Experimentes ebenso
mustergültig angewendet wie die philosophischen Methoden der
Induktion und Deduktion. Allerdings war Müller
ursprünglich, gleich allen Physiologen seiner Zeit, Vitalist. Allein
die herrschende Lehre von der Lebenskraft nahm bei ihm eine neue
Form an und verwandelte sich allmählich in ihr principielles
Gegentheil. Denn auf allen Gebieten der Physiologie war
Müller bestrebt, die Lebenserscheinungen mechanisch zu
erklären; seine reformirte Lebenskraft steht nicht
über den physikalischen und chemischen Gesetzen der
übrigen Natur, sondern sie ist streng an dieselben
gebunden; sie ist schließlich weiter nichts als das
"Leben" selbst, d. h. die Summe aller Bewegungs-Erscheinungen,
die wir am lebendigen Organismus wahrnehmen. Ueberall war er
bestrebt, dieselben mechanisch zu erklären, in dem Sinnes- und
Seelen-Leben wie in der Thätigkeit der Muskeln, in den
Vorgängen des Blutkreislaufs, der Athmung und Verdauung wie in
den Erscheinungen der Fortpflanzung und Entwickelung. Die
größten Fortschritte führte hier Müller
dadurch herbei, daß er überall von den einfachsten
Lebens-Erscheinungen der niederen Thiere ausging und Schritt für Schritt
ihre allmähliche Ausbildung zu den höheren, bis zum
höchsten, zum Menschen, hinauf verfolgte. Hier bewährte
sich seine Methode der kritischen Vergleichung ebenso wie in der
Physiologie, wie in der Anatomie. Johannes Müller ist
zugleich der einzige große Naturforscher geblieben, der diese
verschiedenen Seiten der Forschung gleichmäßig ausbildete
und gleich glänzend in sich vereinigte. Gleich nach seinem Tode
zerfiel sein gewaltiges Lehrgebiet in vier verschiedene Provinzen, die
jetzt fast allgemein durch vier oder mehr ordentliche Lehrstühle
vertreten werden: Menschliche und vergleichende Anatomie,
pathologische Anatomie, Physiologie und Entwickelungsgeschichte. Man
hat die Arbeitstheilung dieses ungeheuren Wissensgebietes, die jetzt
(1858) plötzlich eintrat, mit dem Zerfall des Weltreiches
verglichen, welches einst Alexander der Große vereinigt beherrscht
hatte.
Cellular-Physiologie. Unter den zahlreichen Schülern von
Johannes Müller, welche theils schon bei seinen Lebzeiten,
theils nach seinem Tode die verschiedenen Zweige der Biologie
mächtig förderten, war einer der glücklichsten (wenn
auch nicht der bedeutendste!) Theodor Schwann. Als 1838 der
geniale Botaniker Schleiden in Jena die Zelle als das
gemeinsame Elementar-Organ der Pflanzenerkannt und alle
verschiedenen Gewebe des Pflanzenkörpers als zusammengesetzt
aus Zellen nachgewiesen hatte, erkannte Johannes Müller
sofort die außerordentliche Tragweite dieser Entdeckung: er
versuchte selbst, in verschiedenen Geweben des Thierkörpers, so
z. B. in der Chorda dorsalis der Wirbelthiere, die gleiche
Zusammensetzung nachzuweisen, und veranlaßte sodann seinen
Schüler Schwann, diesen Nachweis auf alle thierischen
Gewebe auszudehnen. Diese schwierige Aufgabe löste der Letztere
glücklich in seinen "Mikroskopischen Untersuchungen über
die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere
und Pflanzen" (1839). Damit war der Grundstein für die
Zellen-Theorie gelegt, deren fundamentale Bedeutung ebenso für die
Physiologie wie für die Anatomie seitdem von Jahr zu Jahr
zugenommen und sich immer allgemeiner bewährt hat. Daß
auch die Lebensthätigkeit aller Organismen auf diejenige ihrer
Gewebetheile, der mikroskopischen Zellen, zurückgeführt
werden müsse, führten namentlich zwei andere
Schüler von Johannes Müller aus, der scharfsinnige
Phyisologe Ernst Brücke in Wien und der berühmte
Histologe Albert Kölliker in Würzburg. Der Erstere
bezeichnete die Zellen richtig als "Elementar-Organismen" und zeigte,
daß sie ebenso im Körper des Menschen wie aller anderen
Thiere die einzigen aktuellen, sebstständig thätigen Faktoren
des Lebens sind. Kölliker erwarb sich besondere Verdienste
nicht nur um die Ausbildung der gesammten Gewebelehre, sondern
auch namentlich durch den Nachweis, daß das Ei der Thiere, sowie
die daraus entstehenden "Furchungskugeln" einfache Zellen sind.
So allgemein aber auch die hohe Bedeutung der Zellentheorie für
alle biologischen Aufgaben erkannt wurde, so wurde doch die darauf
gegründete Cellular-Physiologie erst in neuester Zeit
selbstständig ausgebaut. Hier hat namentlich Max Verworn
(in Jena) sich ein doppeltes Verdienst erworben. In seinen
"Phyche-physiologischen Protisten-Studien" (1889) hat derselbe auf Grund
sinnreicher experimenteller Untersuchungen gezeigt, daß die von
mir (1866) aufgestellte "Theorie der Zellseele" durch das genaue
Studium der einzelligen Protozoen vollkommen gerechtfertigt wird, und
daß "die psychischen Vorgänge im Protistenreiche die
Brücke bilden, welche die chemischen Processe in der
unorganischen Natur mit dem Seelenleben der höchsten Thiere
verbindet". Weiter ausgeführt und gestützt auf die moderne
Entwickelungslehre hat Verworn diese Ansichten in seiner
"Allgemeinen Physiologie" (zweite Auflage1897). Dieses ausgezeichnete
Werk geht zum ersten Male wieder auf den umfassenden Standpunkt
von Johannes Müller zurück im Gegensatze zu den
einseitigen und beschränkten Methoden jener modernen
Physiologen, welche glauben, ausschließlich durch physikalische
und chemische Experimente das Wesen der Lebens-Erscheinungen
ergründen zu können. Verworn zeigte, daß nur
durch die vergleichende Methode Müller's und
durch das Vertiefen in die Physiologie der Zelle jener
höhere Standpunkt gewonnen werden kann, der uns einen
einheitlichen Ueberblick über das wundervolle Gesammt-Gebiet
der Lebens-Erscheinungen gewährt; nur dadurch gelangen wir zu
der Ueberzeugung, daß auch die sämmtlichen
Lebensthätigkeiten des Menschen denselben Gesetzen der Physik
und Chemie unterliegen, wie diejenigen aller anderen Thiere.
Cellular-Pathologie. Die fundamentale Bedeutung der Zellen-Theorie
für alle Zweige der Biologie bewährte sich in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht allein in den
großartigen Fortschritten der gesammten Morphologie und
Physiologie, sondern auch besonders in der totalen Reform derjenigen
biologischen Wissenschaft, welche vermöge ihrer Beziehungen zur
praktischen Heilkunst von jeher die größte Bedeutung in
Anspruch nahm, der Pathologie oder Krankheitslehre. Daß
die Krankheiten des Menschen wie aller übrigen Lebewesen
Natur-Erscheinungen sind und also gleich den übrigen
Lebens-Funktionen nur naturwissenschaftlich erforscht werden
können, war ja schon vielen älteren Aerzten zur festen
Ueberzeugung geworden. Auch hatten schon im 17. Jahrhundert
einzelne medicinische Schulen, die Jatrophysiker und
Jatrochemiker, den Versuch gemacht, die Ursachen der
Krankheiten auf bestimmte physikalische oder chemische
Veränderungen zurückzuführen. Allein der damalige
niedere Zustand der Naturwissenschaften verhinderte einen bleibenden
Erfolg dieser berechtigten Bestrebungen. Daher blieben mehrere
ältere Theorien, welche das Wesen der Krankheit in
übernatürlichen oder mystischen Ursachen suchten, bis zur
Mitte des 19. Jahrhunderts in fast allgemeiner Geltung.
Erst um diese Zeit hatte Rudolf Virchow, ebenfalls ein
Schüler von Johannes Müller, den glücklichen
Gedanken, die Zellen-Theorie vom gesunden auch auf den kranken
Organismus zu übertragen; er suchte in den feinen
Veränderungen der kranken Zellen und der aus ihnen
zusammengesetzten Gewebe die wahre Ursache jener gröberen
Veränderungen, welche als bestimmte "Krankheitsbilder" den
lebenden Organismus mit Gefahr und Tod bedrohen. Besonders
während der sieben Jahre seiner Lehrthätigkeit in
Würzburg (1849-1856) führte Virchow diese
große Aufgabe mit so glänzendem Erfolge durch, daß
seine (1858 veräffentlichte) Cellular-Pathologie mit einem
Schlage die ganze Pathologie und die von ihr gestützte praktische
Medicin in neue, höchst fruchtbare Bahnen lenkte. Für
unsere Aufgabe ist diese Reform der Medicin deshalb so bedeutungsvoll,
weil sie uns zu einer monistischen, rein wissenschaftlichen Beurtheilung
der Krankheit führt. Auch der kranke Mensch, ebenso wie der
gesunde, unterliegt denselben "ewigen ehernen Gesetzen" der Physik
und Chemie, wie die ganze übrige organische Welt.
Mammalien-Physiologie. Unter den zahlreichen (50-80)
Thierklassen, welche die neuere Zoologie unterscheidet, nehmen die
Säugethiere (Mammalia) nicht allein in
morphologischer, sondern auch in physiologischer Beziehung eine ganz
besondere Stellung ein. Da nun auch der Mensch seinem ganzen
Körperbau nach zur Klasse der Säugethiere gehört (S.
18), müssen wir von vornherein erwarten, daß er auch den
besonderen Charakter seiner Lebensthätigkeiten mit den
übrigen Mammalien theilen wird. Und das ist in der That der Fall.
Der Blutkreislauf und die Athmung vollziehen sich beim Menschen
genau nach denselben Gesetzen und in derselben eigenthümlichen
Form, welche auch allen anderen Säugethiere - und nur diesen! -
zukommt; sie ist bedingt durch den besonderen, feineren Bau ihres
Herzens und ihrer Lungen. Nur bei den Mammalien wird alles Arterien-Blut aus der
linken Herzkammer durch einen - und zwar den linken -
Aorten-Bogen in den Körper geführt, während dies bei
den Vögeln durch den rechten und bei den Reptilien durch beide
Aorten-Bögen bewirkt wird. Das Blut der Säugethiere
zeichnet sich vor demjenigen aller anderen Wirbelthiere dadurch aus,
daß aus ihren roten Blutzellen der Kern verschwunden ist durch
Rückbildung). Die Athem-Bewegungen werden nur in dieser
Thierklasse vorzugsweise durch das Zwergfell vermittelt, weil
dasselbe nur hier eine vollständige Scheidewand zwischen
Brusthöhle und Bauchhöhle bildet. Ganz besonders wichtig
aber ist für diese höchst entwickelte Thierklasse die
Produktion der Milch in den Brustdrüsen (Mammae)
und die besondere Form der Brutpflege, welche die Ernährung des
Jungen durch die Milch der Mutter mit sich bringt. Da dieses
Säuge-Geschäft auch andere Lebensthätigkeiten in der
eingreifendsten Weise beeinflußt, da die Mutterliebe der
Säugethiere aus dieser innigen Form der Brutpflege ihren
Ursprung genommen hat, erinnert uns der Name der Klasse mit Recht an
ihre hohe Bedeutung. In Millionen von Bildern, zum großen Theil
von Künstlern ersten Ranges, wird "die Madonna mit dem
Christurkinde" verherrlicht, als das reinste und erhabendste Urbild der
Mutterliebe; desselben Instinktes, dessen extremste Form die
übertriebene Zärtlichkeit der Affenmutter darstellt.
Physiologie der Affen. Da unter allen Säugethieren die
Affen im gesammten Körperbau dem Menschen am nächsten
stehen, läßt sich von vornherein erwarten, daß dasselbe
auch von ihren Lebensthätigkeiten gilt; und das ist in Wahrheit
der Fall. Wie sehr die Lebensgewohnheiten, die Bewegungen, die
Sinnesfunktionen, das Seelenleben, die Brutpflege der Affen sich
demjenigen des Menschen nähern, weiß Jedermann. Aber die
wissenschaftliche Physiologie weist dieselbe bedeutungsvolle
Uebereinstimmung auch für andere weniger bekannte
Erscheinungen nach, besonders die Herzthätigkeit, die
Drüsen-Absonderung und das Geschlechtsleben. In letzterer
Beziehung ist besonders merkwürdig, daß die
geschlechtsreifen Weibchen bei vielen Affen-Arten einen
regelmäßigen Blutabgang aus dem Fruchtbehälter
erleiden, entsprechend der Menstruation (oder "Monats-Regel") das
menschlichen Weibes. Auch die Milch-Absonderung aus der
Brustdrüse und das Säugegeschäft geschieht bei den
weiblichen Affen genau ebenso wie bei den Frauen.
Besonders interessant ist endlich die Thatsache, daß die
Lautsprache der Affen, physiologisch verglichen, als Vorstufe zu
der artikulirten menschlichen Sprache erscheint. Unter den heute noch
lebenden Menschenaffen giebt es eine indische Art, welche musikalisch
ist: derHylobates syndactylus auf Sumatro singt in vollkommen
reinen und klangvollen, halben Thönen eine ganze Oktave.
Für den unbefangenen Sprachforscher kann es heute keinen
Zweifel mehr unterliegen, daß unsere hochentwickelte Begriffs-Sprache sich
langsam und stufenweise aus der unvollkommenen
Lautsprache unserer pliocänen Affen-Ahnen entwickelt hat.
(Vergl. den 18. Vortrag meiner "Anthropogenie".)
Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
|