Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
Vierzehntes Kapitel
Einheit der Natur.
Monistische Studien über die materielle und energetische Einheit
des Kosmos. - Mechanismus und Vitalismus. - Ziel, Zweck und Zufall.
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Inhalt: Monismus des Kosmos. Principielle Einheit der
organischen und anorganischen Natur. Kohlenstoff-Theorie (Karbogen-Theorie).
Hypothese der Urzeugung (Archigonie). Mechanische und
zweckthätige Ursachen. Mechanik und Teleologie bei Kant. Der
Zweck in der organischen und anorganischen Natur. Vitalismus,
Lebenskraft. Neovitalismus, Dominanten. Dysteleologie (Lehre von den
rudimentären Organen). Unzweckmäßigkeit und
Unvollkommenheit der Natur. Zielstrebigkeit in den organischen
Körpern. Ihre Abwesenheit in der Ontogenese und in der
Phylogenese. Platonische Ideen. Sittliche Weltordnung, nicht
nachzuweisen in der organischen Erdgeschichte, in der Wirbelthier-Geschichte, in
der Völker-Geschichte. Vorsehung. Ziel, Zweck und
Zufall.
Durch das Substanz-Gesetz ist zunächst die fundamentale
Thatsache erwiesen, daß jede Naturkraft mittelbar oder
unmittelbar in jede andere imgewandelt werden kann. Mechanische und
chemische Energie, Schall und Wärme, Licht und Elektrizität
können in einander übergeführt werden und erweisen
sich nur als verschiedene Erscheinungsformen einer und derselben
Urkraft, der Energie. Daraus ergiebt sich der bedeutungsvolle Satz
von der Einheit aller Naturkräfte oder wie wir auch sagen
können, dem "Monismus der Energie". Im gesammten
Gebiete der Physik und Chemie ist dieser Fundamental-Satz jetzt
allgemein anerkannt, soweit er die anorganischen Naturkörper
betrifft.
Anders verhält sich scheinbar die organische Welt, das bunte und
formenreiche Gebiet des Lebens. Zwar liegt es auch hier auf der Hand,
daß ein großer Theil der Lebenserscheinungen
unmittelbar auf mechanische und chemische Energie, auf elektrische
und Licht-Wirkungen zurückzuführen ist. Für einen
anderen Theil derselben aber wird das auch heute noch bestritten, so
vor Allem für das Welträthsel des Seelenlebens,
insbesondere des Bewußtseins. Hier ist es nun das hohe Verdienst
der modernen Entwickelungslehre, die Brücke zwischen
den beiden, scheinbar getrennten Gebieten geschlagen zu haben. Wir
sind jetzt zu der klaren Ueberzeugung gelangt, daß auch alle
Erscheinungen des organischen Lebens ebenso dem universalen
Substanz-Gesetz unterworfen sind wie die anorganischen
Phänomene im unendlichen Kosmos.
Die Einheit der Natur, die hieraus folgt, die Ueberwindung des
früheren Dualismus, ist sicher eines der werthvollsten Ergebnisse
unserer modernen Genetik. Ich habe diesen "Monismus des
Kosmos", die principielle "Einheit der organischen und anorganischen
Natur" schon vor 36 Jahren sehr eingehend zu begründen
versucht, indem ich die Uebereinstimmung der beiden großen
Naturreiche in Beziehung auf Stoffe, Formen und Kräfte einer
eingehenden kritischen Prüfung und Vergleichung unterzog
(Generelle Morphologie, 5. Kap.). Einen kurzen Auszug ihrer Ergebnisse
enthält der fünfzehnte Vortrag meiner "Natürlichen
Schöpfungsgeschichte". Während die hier entwickelten
Anschauungen von der großen Mehrzahl der Naturforscher
gegenwärtig angenommen sind, ist doch neurdings von mehreren
Seiten der Versuch gemacht worden, dieselben zu bekämpfen und
den alten Gegensatz von zwei verschiedenen Natur-Gebieten aufrecht zu
erhalten. Den konsequentesten Versuch enthält das kürzlich
erschienene Werk des Botanikers Reinke: "Die Welt als That".
Dasselbe vertritt in lobenswerther Klarheit und Konsequenz den
reinen kosmologischen Dualismus und beweist damit selbst, wie
gänzlich unhaltbar die damit verknüpfte teleologische
Weltanschauung ist. In dem ganzen Gebiete der anorganischen Natur
sollen danach nur physikalische und chemische Kräfte wirken, in
demjenigen der organischen Natur daneben noch "intelligente
Kräfte", die Richtkräfte oder Dominanten. Nur im ersteren
Gebiete soll das Substanz-Gesetz Geltung haben, im letzeren nicht. In der
Hauptsache handelt es sich auch hier wieder um den uralten Gegensatz
der mechanischen und teleologischen Weltanschauung.
Bevor wir auf denselben eingehen, wollen wir kurz auf zwei andere
Theorien hinweisen, welche nach meiner Ueberzeugung für die
Entscheidung dieser wichtigen Probleme sehr werthvoll sind, die
Kohlenstoff-Theorie und die Urzeugungs-Lehre.
Kohlenstoff-Theorie (Karbogon-Theorie). Die
physiologische Chemie hat im Laufe der letzten vierzig Jahre durch
unzählige Analysen folgende fünf Thatsachen festgestellt: 1.
In den organischen Naturkörpern kommen keine anderen
Elemente vor als in den anorganischen. II. Diejenigen Verbindungen der
Elemente, welche dem Organismus eigenthümlich sind, und welche
ihre "Lebenserscheinungen" bewirken, sind zusammengesetzte Plasma-Körper,
aus der Gruppe der Albuminate oder Eiweiß-Verbindungen. III. Das
organische Leben selbst ist ein chemisch-physikalischer Proceß, der auf
dem Stoffwechsel dieser
plasmatischen Albuminate beruht. IV. Dasjenige Element, welches allein
im Stande ist, diese zusammengesetzten Eiweißkörper in
Verbindung mit anderen Elementen (Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff,
Schwefel) aufzubauen, ist der Kohlenstoff. V. Diese plasmatischen
Kohlenstoff-Verbindungen zeichnen sich vor den meisten anderen
chemischen Verbindungen durch ihre sehr komplicirte Molekular-Struktur aus,
durch ihre Unbeständigkeit und ihren gequollenen
Aggregat-Zustand. Auf Grund dieser fünf fundamentalen
Thatsachen stellte ich im Jahre 1866 folgende Karbogen-Theorie
auf: "Lediglich die eigenthümlichen, chemisch-physikalischen
Eigenschaften des Kohlenstoffs - und namentlich der festflüssige
Aggregatzustand und die leichte Zersetzbarkeit der höchst
zusammengesetzten, eiweißartigen Kohlenstoff-Verbindungen -
sind die mechanischen Ursachen jener eigenthümlichen
Bewegungs-Erscheinungen, durch welche sich die Organismen von den
Anorganen unterscheiden, und die man im engeren Sinne das Leben
nennt" (Natürl. Schöpfungsgesch. X. Aufl., S. 357). Obwohl
diese "Kohlenstoff-Theorie" von mehreren Biologen heftig angegriffen
worden ist, hat doch bisher Keiner eine bessere monistische Theorie an
deren Stelle gesetzt. Heute, wo wir die physiologischen
Verhältnisse des Zellenlebens, die Chemie und Physik des
lebendigen Plasma viel besser und gründlicher kennen als vor 36
Jahren, läßt sich die Karbogen-Theorie viel eingehender und
sicherer begründen, als es damals möglich war.
Archigonie oder Urzeugung. Der alte Begriff der
Urzeugung (Generatio spontanea oder aequivoca)
wird heute noch in sehr verschiedenem Sinne verwendet; gerade die
Unklarheit über diesen Begriff und die widersprechende
Anwendung desselben auf ganz verschiedene, alte und neue Hypothesen
sind schuld daran, daß dieses wichtige Problem zu den
bestrittendsten und konfusesten Fragen der ganzen Naturwissenschaft
bis auf den heutigen Tag gehört. Ich beschränke den Begriff
der Urzeugung - als Archigonie oder Abiogenesis! - auf die
erste Entstehung von lebendem Plasma aus anorganischen Kohlenstoff-Verbindungen
und unterscheide als zwei Haupt-Perioden in diesem
"Beginn der Biogenesis" I. die Autogonie, die Entstehung
von einfachsten Plasma-Körpern in einer anorganischen
Bildungsflüssigkeit, und II. die Plasmogonie, die
Individualisirung von primitivsten Organismen aus jenen Plasma-Verbindungen, in
Form von Moneren. Ich habe diese wichtigen,
aber auch sehr schwierigen Probleme im 15. Kapitel meiner
Natürlichen Schöpfungsgeschichte so eingehend behandelt,
daß ich hier darauf verweisen kann. Eine sehr ausführliche
und streng wissenschaftliche Erörterung derselben habe ich
bereits 1866 in der "Generellen Morphologie" gegeben (Bd. I, S. 167-190);
später hat Naegeli in seiner Mechanisch-physiologischen Theorie der
Abstammungslehre (1884) die Hypothese
der Urzeugung ganz in demselben Sinne sehr eingehend behandelt und
als eine unentbehrliche Annahme der natürlichen
Entwickelungs-Theorie bezeichnet. Ich stimme vollkommen seinem
Satze bei: "Die Urzeugung leugnen heißt das Wunder
verkünden."
Teleologie und Mechanik. Sowohl die Hypothese der Urzeugung
als die eng damit verknüpfte Kohlenstoff-Theorie besitzen die
größte Bedeutung für die Entscheidung des alten
Kampfes zwischen der teleologischen (dualistischen) und der
mechanischen (monistischen) Beurtheilung der Erscheinungen.
Seit Darwin uns vor vierzig Jahren durch seine Selektions-Theorie
den Schlüssel zur monistischen Erklärung der
Organisation in die Hand gab, sind wir in den Stand gesetzt, die bunte
Mannigfaltigkeit der zweckmäßigen Einrichtungen in der
lebendigen Körperwelt ebenso auf natürliche mechanische
Ursachen zurückzuführen, wie dies vorher nur in der
anorganischen Natur möglich war. Die übernatürlichen
zweckthätigen Ursachen, zu welchen man früher seine
Zuflucht hatte nehmen müssen, sind dadurch
überflüssig geworden. Trotzdem fährt die moderne
Metaphysik fort, die letzteren als unentbehrlich und die ersteren als
unzureichend zu bezeichnen.
Werkursachen (Causae efficientes) und Endursachen
(Causae finales). Den tiefen Gegensatz zwischen den
bewirkenden Ursachen (oder Werkursachen) und den
zweckthätigen Ursachen (oder Endursachen) hat mit Bezug auf die
Erklärung der Gasammtnatur kein neuerer Philosoph
schärfer hervorgehoben, als Immanuel Kant. In seinem
berühmten Jugendwerke, der "Allgemeinen Naturgeschichte und
Theorie des Himmels", hatte er 1755 den kühnen Versuch
unternommen, "die Verfassung und den mechanischen Ursprung des
ganzen Weltgebäudes nach Newton'schen
Grundsäzten abzuhandeln". diese "kosmologische Gastheorie"
stützte sich ganz auf die mechanischen Bewegungs-Erscheinungen
der Gravitation; sie wurde später von dem großen
Astronomen und Mathmatiker Laplace weiter ausgebildet und
mathematisch begründet. Als dieser von Napoleon I. gefragt
wurde, welche Stelle in seinem System Gott, der Schöpfer und
Erhalter des Weltalls, einnehme, antwortete er klar und ehrlich: "Sire,
ich bedarf dieser Hypothese nicht." Damit war der atheistische
Charakter dieser mechanischen Kosmogenie, den sie mit allen
anorganischen Wissenschaften theilt, offen anerkannt. Dies muß
um so mehr hervorgehoben werden, als die Kant-Laplace'sche
Theorie noch heute ein fast allgemeiner Geltung steht; alle Versuche, sie
durch eine bessere zu ersetzen, sind fehlgeschlagen. Wenn man den
Atheismus noch heute in weiten Kreisen als einen schweren
Vorwurf betrachtet, so trifft dieser die gesammte moderne
Naturwissenschaft, insofern sie die anorganische Welt unbedingt
mechanisch erklärt.
Der Mechanismus allein (im Sinne Kant's!) giebt uns eine
wirkliche Erklärung der Natur-Erscheinungen, indem er
dieselben auf reale Werkursachen zurückführt, auf blinde
und bewußtlos wirkende Bewegungen, welche durch die materielle
Konstitution der betreffenden Naturkörper selbst bedingt sind.
Kant selbst betont, daß es "ohne diesen Mechanismus der
Natur keine Naturwissenschaft geben kann", und daß die
Befugniß der menschlichen Vernunft zur mechanischen
Erklärung aller Erscheinungen unbeschränkt sei. Als
er aber später in seiner Kritik der teleologischen Urtheilkraft die
Erklärung der verwickelten Erscheinungen in der
organischen Natur besprach, behauptete er, daß dafür
jene mechanischen Ursachen nicht ausreichend seien; hier müsse
man zweckmäßig wirkende Endursachen zu Hülfe
nehmen. Zwar sei auch hier die Befugniß unserer Vernunft zur
mechanischen Erklärung anzuerkennen, aber ihr
Vermögen sei begrenzt. Allerdings gestand er ihr theilweise
dieses Vermögen zu, aber für den größten Theil
der Lebenserscheinungen (und besonders für die
Seelenthätigkeit des Menschen) hielt er die Annahme von
Endursachen unentbehrlich. Der merkwürdige ¤79 der Kritik der
Urtheilskraft trägt die charakteristische Ueberschrift: "Von der
nothwendigen Unterordnung des Princips des Meschanismus unter das
teleologische in Erklärung eines Dinges als Naturzweck". Die
zweckmäßigen Einrichtungen im Körperbau der
organischen Wesen schienen Kant ohne Annahme
übernatürlicher Endursachen (d. h. also einer
planmäßig wirkenden Schöpferkraft) so
unerklärlich, daß er sagte: "Es ist ganz gewiß, daß
wir die organisirten Wesen und deren innere Möglichkeit nach
bloß mechanischen Principien der Natur nicht einmal zureichend
kennen, viel weniger uns erklären können, und zwar so
gewiß, daß man dreist sagen kann: Es ist für Menschen
ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen oder rzuhoffen,
daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne,
der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die
keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde, sondern man
muß diese Einsicht dem Menschen schlechterdings absprechen.
Siebenzig Jahre später ist dieser unmögliche "Newton
der organischen Natur" in Darwin wirklich erschienen und hat die
große Aufgabe gelöst, die Kant für
unlösbar erklärt hatte. (Vergl. Anm. 3, S. 158.)
Der Zweck in der anorganischen Natur (anorganische
Teleologie). Seitdem Newton (1682) das Gravitations-Gesetz
aufgestellt, und seitdem Kant (1755) "die Verfassung und den
mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach
Newton'schen Grundsätzen" festgestellt - seitdem endlich
Laplace (1796) dieses Grundgesetz des Weltmechanismus
mathematisch begründet hatte, sind die sämmtlichen
anorganischen Naturwissenschaften rein mechanisch und damit
zugleich rein atheistisch geworden. In der Astronomie und
Kosmogenie, in der Geologie und Meteorologie, in der anorganischen
Physik und Chemie gilt seitdem die absolute Herrschaft mechanischer
Gesetze auf mathematischer Grundlage als unbedingt feststehend.
Seitdem ist aber auch der Zweckbegriff aus diesem ganzen
großen Gebiete verschwunden. Jetzt, am Schlusse unseres
neunzehnten Jahrhunderts, wo diese monistische Betrachtung nach
harten Kämpfen sich zu allgemeiner Geltung durchgerungen hat,
fragt kein Naturforscher mehr im Ernste nach dem Zweck irgend einer
Erscheinung in diesem ganzen unermeßlichen Gebiete. Oder sollte
wirklich noch heute im Ernste ein Astronom nach dem Zwecke der
Planeten-Bewegungen oder ein Mineraloge nach dem Zwecke der
einzelnen Kristallformen fragen? Oder sollte ein Physiker über den
Zweck der elektrischen Kräfte oder ein Chemiker über den
Zweck der Atom-Gewichte grübeln? Wir dürfen getrost
antworten: Nein! Sicher nicht in dem Sinne, daß der "liebe
Gott" oder eine zielstrebige Naturkraft diese Grundgesetze des
Weltmechanismus einmal plötzlich "aus nichts" zu einem
bestimmten Zweck erschaffen hat, und daß er sie nach seinem
vernünftigen Willen tagtäglich wirken läßt. Diese
anthropomorphe Vorstellung von einem zweckthätigen
Weltbaumeister und Weltherrscher ist hier völlig
überwunden; an seiner Stelle sind die "ewigen, ehernen,
großen Naturgesetze" getreten.
Der Zweck in der organischen Natur (biologische
Teleologie). Eine ganz andere Bedeutung und Geltung als in der
anorganischen besitzt der Zweckbegriff noch heute in der
organischen Natur. Im Körperbau und in der
Lebensthätigkeit aller Organismen tritt uns die
Zweckthätigkeit unleugbar entgegen. Jede Pflanze und jedes Thier
erscheinen in der Zusammensetzung aus einzelnen Theilen ebenso
für einen bestimmten Lebenszweck eingerichtet wie die
künstlichen, vom Menschen erfundenen und konstruirten
Maschinen; und solange ihr Leben fortdauert, ist auch die Funktion der
einzelnen Organe ebenso auf bestimmte Zwecke gerichtet wie die Arbeit
in den einzelnen Theilen der Maschine. Es ist daher ganz
naturgemäß, daß die ältere naive
Naturbetrachtung für die Entstehung und die
Lebensthätigkeit der organischen Wesen einen Schöpfer in
Anspruch nahm, der mit "Weisheit und Verstand alle Dinge geordnet"
hatte, und der jedes Thier und jede Pflanze ihrem besonderen
Lebenzwecke entsprechend organisirt hatte. Gewöhnlich wurde
dieser "allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erden"
durchaus anthropomorph gedacht; er schuf "jegliches Wesen nach seiner
Art". Solange dabei dem Menschen der Schöpfer noch in
menschlicher Gestalt erschien, denkend mit seinem Gehirn, sehend mit
seinen Augen, formend mit seinen Händen, konnte man sich von
diesem "göttlichen Maschinenbauer" und von seiner
künstlerischen Arbeit in der großen Schöpfungs-Werkstätte
noch eine anschauliche Vorstellung machen. Viel
schwieriger wurde dies, als sich der Gottesbegriff läuterte und
man in dem "unsichtbaren Gott" einen Schöpfer ohne Organe (- ein
gasförmiges Wesen -) erblickte. Noch unbegreiflicher endlich
wurden diese anthropistischen Vorstellungen, als die Physiologie an die
Stelle des bewußt bauenden Gottes die unbewußt schaffende
"Lebenskraft" setzte - eine unbekannte, zweckmäßig
thätige Naturkraft, welche von den bekannten physikalischen und
chemischen Kräften verschieden war und diese nur zeitweise - auf
Lebenszeit - in Dienst nahm. Dieser Vitalismus blieb noch bis in
die Mitte des 19. Jahrhunderts herrschend; er fand seine
thatsächliche Widerlegung erst durch den großen
Physiologen Johannes Müller in Berlin. Zwar war auch
dieser gewaltige Biologe (gleich allen anderen in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts) im Glauben an die Lebenskraft aufgewachsen und
hielt sie für die Erklärung der "letzten Lebensursachen"
für unentbehrlich, aber er führte zugleich in seinem
klassischen, noch heute unübertroffenen Lehrbuch der Physiologie
(1833) den indirekten Beweis, daß eigentlich nichts mit ihr
anzufangen ist. Müller selbst zeigte in einer langen Reihe
von scharfsinningen Experimenten, daß die meisten
Lebensthätigkeiten im Organismus des Menschen ebenso wie der
übrigen Thiere nach physikalischen und chemischen Gesetzen
geschehen, daß viele von ihnen sogar mathematisch bestimmbar
sind. Das gilt ebensowohl von den animalen Funktionen der Muskeln
und Nerven, der niederen und höheren Sinnesorgane, wie von den
vegetalen Vorgängen bei der Ernährung und dem
Stoffwechsel, der Verdauung und dem Blutkreisklauf. Räthselhaft
und ohne die Annahme einer Lebenkraft nicht erklärbar blieben
eigentlich nur zwei Gebiete, das der höheren
Seelenthätigkeit (Geistesleben) und das der Fortpflanzung
(Zeugung). Aber auch auf diesen Gebieten wurden unmittelbar nach
Müller's Tode solche gewaltige Entdeckungen und
Fortschritte gemacht, daß das unheimliche "Gespenst der
Lebenskraft" auch aus diesen letzten Schlupfwinkeln verschwand. Es
war gewiß ein merkwürdiger chronologischer Zufall, das
Johannes Müller 1858 in demselben Jahre starb, in
welchem Charles Darwin die ersten Mittheilungen über
seine epochemachende Theorie veröffentlichte. Die Selektions-Theorie
des Letzteren beantwortete das große Räthsel,
vor welchem der Erstere stehen geblieben war: die Frage von der
Entstehung zweckmäßiger Einrichtungen durch rein
mechanische Ursachen.
Der Zweck in der Selektions-Theorie (Darwin 1859). Das
unsterbliche philosophische Verdienst Darwin's bleibt, wie wir
schon oft betont haben, ein doppeltes: erstens die Reform der
älteren, 1809 von Lamarck begründeten
Descendenz-Theorie, ihre Begründung durch das gewaltige,
im Laufe dieses halben Jahrhunderts angesammelte Thatsachen-Material - und
zweitens die Aufstellung der Selektions-Theorie,
jener Zuchtwahllehre, welche uns erst eigentlich die wahren
bewirkenden Ursachen der allmählichen Art-Umbildung
enthüllt. Darwin zeigte zuerst, wie der gewaltige "Kampf
um's Darsein" der unbewußt wirkende Regulator ist, welcher
die Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung bei der
allmählichen Transformation der Species leitet; er ist der
große "züchtende Gott", welcher ohne Absicht neue
Formen ebenso durch "natürliche Auslese" bewirkt, wie der
züchtende Mensch neue Formen mit Absicht durch
"künstliche Auslese" hervorbringt. Damit wurde das große
philosophische Räthsel gelöst: "Wie können
zweckmäßige Einrichtungen rein mechanisch entsthen, ohne
zweckmäßige Ursachen?" Kant hat dieses schwierige
Welträthsel noch für unlösbarer erklärt, obwohl
schon mehr als 2000 Jahre früher der große Denker
Empedokles auf den Weg seiner Lösung hingewiesen hatte.
Neuerdings hat sich aus derselben das Princip der "teleologischen
Mechanik" zu immer größerer Geltung entwickelt und hat
auch die feinsten und verborgensten Einrichtungen der organischen
Wesen uns durch die "funktionelle Selbstgestaltung der
zweckmäßigen Struktur" mechanisch erklärt. Damit ist
aber der transcendente Zweckbegriff unserer teleologischen Schul-Philosophie
beseitigt, das größte Hinderniß einer
vernünftigen und einheitlichen Natur-Auffassung.
Neovitalismus. In neuester Zeit ist das alte Gespenst der
mystischen Lebenskraft, das gründlich getödtet schien,
wieder aufgelebt; verschiedene angesehene Biologen haben versucht,
dasselbe unter neuem Namen zur Geltung zu bringen. Die klarste und
konsequenteste Darstellung desselben hat kürzlich der Kieler
Botaniker J. Reinke gegeben. Er vertheidigt den Wunderglauben
und den Theismus, die Mosaische
Schöpfungsgeschichte und die Konstanz der Arten; er nennt
die "Lebenskräfte", im Gegensatze zu den physikalischen
Kräften, Richtkräfte, Oberkräfte oder
Dominanten. Andere nehmen statt dessen, in ganz
anthropistischer Auffassung, einen "Maschinen-Ingenieur" an,
welcher der organischen Substanz eine zweckmäßige, auf ein
bestimmtes Ziel gerichtete Organisation beigegeben habe. Diese
seltsamen teleologischen Hypothesen bedürfen heute ebenso
wenig mehr einer wissenschaftlichen Widerlegung, als die naiven,
meistens damit verknüpften Einwürfe gegen den
Darwinismus.
Unzweckmäßigkeitslehre (Dysteleologie).
Unter diesem Begriffe habe ich schon im 1866 die Wissenschaft von
denjenigen, überaus interessanten und wichtigen biologischen
Thatsachen aufgestellt, welche in handgreiflichster Weise die
hergebrachte teleologische Auffassung von der
"zweckmäßigen Einrichtung der lebendigen
Naturkörper" direkt widerlegen. Diese "Wissenschaft von den
rudimentären, abortiven, verkümmerten, fehlgeschlagenen,
atrophischen oder kataplastischen Individuen" stützt sich auf eine
unermeßliche Fülle der merkmürdigsten
Erscheinungen, welche zwar den Zoologen und Botanikern längst
bekannt waren, aber erst durch Darwin ursächlich
erklärt und in ihrer hohen philosophischen Bedeutung
vollständig gewürdigt worden sind.
Alle höheren Thiere und Pflanzen, überhaupt alle diejenigen
Organismen, deren Körper nicht ganz einfach gebaut, sondern aus
mehreren, zweckmäßig zusammenwirkenden Organen
zusammengesetzt ist, lassen bei aufmerksamer Untersuchung eine
Anzahl von nutzlosen oder unwirksamen, ja zum Theil sogar
gefährlichen und schädlichen Einrichtungen erkennen. In
den Blüthen der meisten Pflanzen finden sich neben den
wirksamen Geschlechts-Blättern, welche die Fortpflanzung
vermitteln, einzelne nutzlose Blatt-Organe ohne Bedeutung
(verkümmerte oder "fehlgeschlagene" Staubfäden,
Fruchtblätter, Kronen-, Kelchblätter u. s. w.). In den beiden
großen und formenreichen Klassen der fliegenden Thiere,
Vögel und Insekten, giebt es neben den gewöhnlichen, ihre
Flügel täglich gebrauchenden Arten eine Anzahl von
Formen, deren Flügel verkümmert sind, und die nicht
fliegen können. Fast in allen Klassen der höheren Thiere, die
ihre Augen zum Sehen gebrauchen, existiren einzelne Arten, welche im
Dunkeln leben und nicht sehen; trotzdem besitzen auch diese noch
meistens Augen; nur sind sie verkümmert, zum Sehen nicht mehr
tauglich. An unserem eigenen menschlichen Körper besitzen wir
solche nutzlose Rudimente in den Muskeln unseres Ohres, in der
Nickhaut unseres Auges, in der Brustwarze und Milchdrüse des
Mannes und in anderen Körpertheilen; ja der gefürchtete
Wurmfortsatz unseres Blinddarmes ist nicht nur unnütz, sondern
sogar gefährlich, und alljährlich geht eine Anzahl Menschen
durch seine Entzündung zu Grunde.
Die Erklärung dieser und vieler anderen zwecklosen
Einrichtungen im Körperbau der Thiere und Pflanzen vermag
weder der alte mystische Vitalismus noch der neue, ebenso
irrationelle Neovitalismus zu geben; dagegen finden wir sie sehr
einfach durch die Descendenz-Theorie. Sie zeigt, daß diese
rudimentären Organe verkümmert sind, und zwar
durch Nichtgebrauch. Ebenso, wie die Muskeln, die Nerven, die
Sinnesorgane durch Uebung und häufigeren Gebrauch
gestärkt werden, ebenso erleiden sie umgekehrt durch
Unthätigkeit und unterlassenen Gebrauch mehr oder weniger
Rückbildung. Aber obgleich so durch Uebung und Anpassung die
höhere Entwicklung der Organe gefördert wird, so
verschwinden sie doch keineswegs sofort spurlos durch
Nichtübung; vielmehr werden sie durch die Macht der Vererbung
noch während vieler Generationen erhalten und verschwinden
erst allmählich nach längerer Zeit. Der blinde "Kampf um's
Dasein zwischen den Organen" bedingt ebenso ihren historischen
Untergang, wie er ursprünglich ihre Entstehung und Ausbildung
verurschte. Ein immanenter "Zweck" spielt dabei überhaupt keine
Rolle.
Unvollkommenheit der Natur.. Wie das Menschen-Leben so
bleibt auch das Thier- und Pflanzen-Leben immer und überall
unvollkommen. Diese Thatsache ergiebt sich einfach aus der
Erkenntniß, daß die Natur - ebenso die organische und die
anorganische - in einem beständigen Flusse der
Entwickelung, der Veränderung und Umbildung begriffen
ist. Diese Entwickelung erscheint uns im Großen und Ganzen -
wenigstens soweit wir die Stammesgeschichte der organischen Natur auf
unserem Planeten übersehen können - als eine
fortschreitende Umbildung, als ein historischer Fortschritt vom
Einfachen zum Zusammengesetzten, vom Niederen zum Höheren,
vom Unvollkommenen zum Vollkommenen. Ich habe schon in der
Generellen Morphologie (1866) den Nachweis geführt, daß
dieser historische Fortschritt (Progressus) - oder die
allmähliche Vervollkommnung (Teleosis) - die
nothwendige Wirkung der Selektion ist, nicht aber die Folge eines
vorbedachten Zweckes. Das ergiebt sich auch daraus, daß kein
Organismus ganz vollkommen ist; selbst wenn er in einem gegebenen
Augenblicke den Umständen vollkommen angepaßt
wäre, würde dieser Zustand nicht lange dauern; denn die
Existenz-Bedingungen der Außenwelt sind selbst einem
beständigen Wechsel unterworfen und bedingen damit eine
ununterbrochene Anpassung der Organismen.
Zielstrebigkeit in den organischen Körpern insbesondere.
Unter diesem Titel veröffentlichte der berühmte
Embryologie Karl Ernst Baer 1876 einen Aufsatz, der im
Zusammenhang mit dem nachfolgenden Artikel über
Darwin's Lehre den Gegnern derselben sehr willkommen erschien
und auch heute noch vielfach gegen die moderne Entwickelungstheorie
verwerthet wird. Zugleich erneuerte er die alte teleologische
Naturbetrachtung unter einem neuen Namen; dieser muß hier
einer kurzen Kritik unterzogen werden. Vorauszuschicken ist dabei der
Hinweis, daß Baer zwar ein Naturphilosoph im besten Sinne
war, daß aber seine ursprünglichen monistischen
Anschauungen mit zunehmendem Alter immer mehr durch einen tiefen
mystischen Zug beeinflußt und zuletzt rein dualistisch
wurden. In seinem grundlegenden Hauptwerke "über
Entwickelungsgeschichte der Thiere" (1828), das er selbst als
"Beobachtung und Reflexion" bezeichnet, sind diese beiden
Erkenntnißthätigkeiten gleichmäßig verwerthet.
Durch sorgfältigste Beobachtung aller einzelnen Vorgänge
bei der Entwickelung des thierischen Eies gelangte Baer zur
ersten zusammenhängenden Darstellung aller der wunderbaren
Umbildungen, welche bei der Entstehung des Wirbelthier-Körpers
aus der einfachen Eikugel sich abspielen. Durch umsichtige Vergleichung
und scharfsinnige Reflexion suchte er aber zugleich die Ursachen jener
Transformation zu erkennen und sie auf allgemeine Bildungsgesetze
zurückzuführen. Als allgemeinstes Resultat derselben sprach
er den Satz aus: "Die Entwickelungsgeschichte des Individuum ist die
Geschichte der wachsenden Individualität in jeglicher Beziehung."
Dabei betonte er daß "der Eine Grundgedanke, der alle
einzelnen Verhältnisse der thierischen Entwickelung beherrscht,
derselbe ist, der im Weltraum die vertheilte Masse in Sphären
sammelte und diese zu Sonnensystemen verband. Dieser Gedanke ist
aber nichts als das Leben selbst, und die Worte und Silben, in
denen er sich ausspricht, sind die verschiedenen Formen des
Lebendigen".
Zu einer tieferen Erkenntniß dieses genetischen Grundgedankens
und zur klaren Einsicht in die wahren bewirkenden Ursachen der
organischen Entwickelung vermochte Baer damals nicht zu
gelangen, weil sein Studium ausschließlich der einen Hälfte
der Entwickelungsgeschichte gewidmet war, derjenigen der
Individuen, der Embryologie oder im weiteren Sinne der
Ontogenie. Die andere Hälfte derselben, die
Entwickelungsgeschichte der Stämme und Arten, unsere
Stammesgeschichte oder Phylogenie, existirte damals noch nicht,
obwohl der weitschauende Lamarck schon 1809 den Weg zu
derselben gezeigt hatte. Ihre spätere Begründung durch
Darwin (1859) vermochte der gealterte Baer nicht mehr zu
verstehen; der nutzlose Kampf, den er gegen dessen Selektions-Theorie
führte, zeigt klar, daß er weder deren eigentlichen Sinn noch
ihre philosophische Bedeutung erkannte. Teleologische und später
damit verknüpfte theosophische Spekulationen hatten den alten
Baer unfähig gemacht, diese größte Reform der
Biologie gerecht zu würdigen; die teleologischen Betrachtungen,
welche er gegen sie in seinen "Reden und Studien" (1876) als
84jähriger Greis in's Feld führte, sind nur Wiederholugen
von ähnlichen Irrthümern, wie sie die
Zweckmäßigkeits-Lehre der dualistischen Philosophie seit
mehr als zweitausend Jahren gegen die mechanistische oder monistische
Weltanschauung aufgeführt hatte. Der "zielstrebige
Gedanke", welcher nach Baer's Vorstellung die ganze
Entwickelung des Thierkörpers aus der Eizelle bedingt, ist nur ein
anderer Ausdruck für die ewige "Idee" von Plato
und für die "Entelechie" seines Schülers
Aristoteles.
Unsere moderne Biogenie erklärt dagegen die embryologischen
Thatsachen rein physiologisch, indem sie als bewirkende mechanische
Ursachen derselben die Funktionen der Vererbung und Anpassung
erkennt. Das biogenetische Grundgesetz, für welches
Baer kein Verständniß gewinnen konnte,
eröffnet uns den innigen kausalen Zusammenhang zwischen der
Ontogenese der Individuen und der Phylogenese ihrer
Vorfahren; die erstere erscheint uns jetzt als eine erbliche
Rekapitulation der letzteren. Nun können wir aber in der
Stammesgeschichte der Thiere und Pflanzen nirgends eine
Zielstrebigkeit erkennen, sondern lediglich das nothwendige Resultat des
gewaltigen Kampfes um's Dasein, der als blinder Regulator, nicht als
vorsehender Gott, die Umbildung der organischen Formen durch
Wechselwirkung der Anpassungs- und Vererbungsgesetze bewirkt.
Ebenso wenig können wir aber auch bewußte
"Zielstrebigkeit" in der Keimesgeschichte der Individuen annehmen, in
der Embryologie der einzelnen Pflanzen, Thiere und Menschen. Denn
diese Ontogenie ist ja nur ein kurzer Auszug aus jener Phylogenie, eine
abgekürzte und gedrängte Wiederholung derselben durch
die physiologischen Gesetze der Vererbung.
Das Vorwort zu seiner klassischen "Entwickelungsgeschichte der Thiere"
schloß Baer 1828 mit den Worten: "Die Palme wird der
Glückliche erringen, dem es vorbehalten ist, die bildenden
Kräfte des thierischen Körpers auf die allgemeinen
Kräfte oder Lebensrichtungen des Weltganzen
zurückzuführen. Der Baum aus welchem seine Wiege
gezimmert werden soll, hat noch nicht gekeimt." - Auch darin irrte der
große Embryologe. In demselben Jahre 1828 bezog der junge
Charles Darwin die Universität Cambridge, um Theologie (!)
zu studiren, der gewaltige "Glückliche", der die Palme dreißig
Jahre später durch seine Selektions-Theorie wirklich errang.
Sittliche Weltordnung. In der Philosophie der Geschichte, in
den allgemeinen Betrachtungen, welche die Geschichtsschreiber
über die Schicksale der Völker und über den
verschlungenen Gang der Staatenentwickelung anstellen, herrscht noch
heute die Annahme einer "sittlichen Weltordnung". Die Historiker
suchen in dem bunten Wechsel der Völker-Geschicke einen
leitenden Zweck, eine ideale Absicht, welche diese oder jene Rasse,
diesen oder jenen Staat zu besonderem Gedeihen auserlesen und zur
Herrschaft über die anderen bestimmt hat. Diese teleologische
Geschichtsbetrachtung ist neuerdings umso schärfer in
principiellen Gegensatz zu unserer monistischen Weltanschauung
getreten, je sicherer sich diese letztere im gesammten Gebiete der
organischen Natur als die allein berechtigte herausgestellt hat. In der
gesammten Astronomie und Geologie, in dem weiten Gebiete der Physik
und Chemie spricht heute Niemand mehr von einer sittlichen
Weltordnung, ebenso wenig als von einem persönlichen Gotte,
dessen "Hand mit Weisheit und Verstand alle Dinge geordnet hat".
Dasselbe gilt aber auch von dem gesammten Gebiete der Biologie, von
der ganzen Verfassung ud Geschichte der organischen Natur,
zunächst den Menschen ausgenommen. Darwin hat uns in
seiner Selektions-Theorie nicht nur gezeigt, wie die
zweckmäßigen Einrichtungen im Leben und im
Körperbau der Thiere und Pflanzen ohne vorbedachten Zweck
mechanisch entstanden sind, sondern er hat uns auch in seinem
"Kampf um's Dasein" die gewaltige Naturmacht erkennen gelehrt,
welche den ganzen Entwickelungsgang der organischen Welt seit vielen
Jahrmillionen ununterbrochen beherrscht und regelt. Man könnte
freilich sagen: Der "Kampf um's Dasein" ist das "Ueberleben des
Passendsten" oder der "Sieg des Besten"; das kann man aber nur, wenn
man das Stärkere stets als das Beste (in moralischem Sinne!)
betrachtet; und überdies zeigt uns die ganze Geschichte der
organischen Welt, daß neben dem überwiegenden Fortschritt
zum Vollkommenen jeder Zeit auch einzelne Rückschritte zu
niederen Zuständen vorkommen. Selbst die "Zielstrebigkeit" im
Sinne Baer's trägt durchaus keinen moralischen
Charakter!
Verhält es sich nun in der Völkergeschichte, die der Mensch
in seinem anthropocentrischen Größenwahn die
"Weltgeschichte" zu nennen liebt, etwa anders? Ist da überall und
jeder Zeit ein höchstes moralisches Princip oder ein weiser
Weltregent zu entdecken, der die Geschicke der Völker leitet? Die
unbefangene Antwort kann heute, bei dem vorgeschrittenen Zustande
unserer Naturgeschichte und Völkergeschichte nur lauten:
Nein! Die Geschicke der Zweige des Menschengeschlechts, die als
Rassen und Nationen seit Jahrtausenden um ihre Existenz und ihre
Fortbildung gerungen haben, unterliegen genau denselben "ewigen,
ehernen, großen Gesetzen" wie die Geschichte der ganzen
organischen Welt, die seit vielen Jahrmillionen die Erde bevölkert.
Die Geologen unterscheiden in der "organischen Erdgeschichte", soweit
sie uns durch die Denkmäler der Versteinerungskunde bekannt
ist, drei große Perioden: das primäre, sekundäre und
tertiäre Zeitalter. Die Zeitdauer der ersteren soll nach einer
neueren Berechnung mindestens 34 Millionen, die der zweiten 11, die
der dritten 3 Millionen Jahre betragen haben (- nach anderen
Berechnungen mehr als das Dreifache dieser Zeit! -). Die Geschichte des
Wirbelthier-Stammes, aus dem unser eigenes Geschlecht entsprossen ist,
liegt innerhalb dieses langen Zeitraumes klar vor unseren Augen; drei
verschiedene Entwickelungsstufen der Vertebraten waren in jenen drei
großen Periode successiv entwickelt; in der primären
(paläozoischen) Periode die Fische, in dem
sekundären (mesozoischen) Zeitalter die Reptilien, in
dem tertiären (cänozoischen) die
Säugethiere. Von diesen drei Hauptgruppen der
Wirbelthiere nehmen die Fische den niedersten, die Reptilien einen
mittleren, die Säugethiere den höchsten Rang der
Vollkommenheit ein. Bei tieferem Eingehen in die Geschichte der drei
Klassen finden wir, daß auch die einzelnen Ordnungen und
Familien derselben innerhalb der drei Zeiträume sich
fortschreitend zu höherer Vollkommenheit entwickelten. Kann
man nun diesen fortschreitenden Entwickelungsgang als Ausfluß
einer bewußten zweckmäßigen Zielstrebigkeit oder
einer sittlichen Weltordnung bezeichnen? Durchaus nicht! Denn die
Selektions-Theorie lehrt uns, daß der organische Fortschritt,
ebenso wie die organische Differenzierung, eine nothwendige
Folge des Kampfes um's Dasein ist. Tausende von guten,
schönen, bewunderungswürdigen Arten des Thier- und
Pflanzenreiches sind im Laufe jener 48 Millionen Jahre zu Grunde
gegangen, weil sie anderen, stärkeren Platz machen mußten,
und diese Sieger im Kampfe um's Dasein waren nicht immer die edleren
oder im moralischen Sinne vollkommneren Formen.
Genau dasselbe gilt von der Völkergeschichte. Die
bewunderungswürdige Kultur des klassischen Alterthums ist zu
Grunde gegangen, weil das Christenthum dem ringenden
Menschengeiste damals durch den Glauben an einen liebenden Gott und
die Hoffnung auf ein besseres jenseitiges Leben einen gewaltigen neuen
Aufschwung verlieh. Der Papismus wurde zwar bald zur schamlosen
Karikatur des reinen Christenthums und zertrat schonungslos die
Schätze der Erkenntniß, welche die hellenische Philosophie
schon erworben hatte; aber er gewann die Weltherrschaft durch die
Unwissenheit der blindgläubigen Massen. Erst die
Reformation zerriß die Ketten dieser Geistes-Knechtschaft und
verhalf wieder den Ansprüchen der Vernunft zu ihrem Rechte.
Aber auch in dieser neuen wie in jenen früheren Perioden der
Kulturgeschichte, wogt ewig der große Kampf um's Dasein hin und
her, ohne jede moralische Ordnung.
Vorsehung. So wenig bei unbefangener und kritischer
Betrachtung eine "moralische Weltordnung" im Gange der
Völkergeschichte nachzuweisen ist, ebenso wenig können
wir eine "weise Vorsehung" im Schicksal der einzelnen Menschen
anerkennen. Dieses wie jener wird mit eiserner Nothwendigkeit durch
die mechanische Kausalität bestimmt, welche jede Erscheinung aus
einer oder mehreren vorhergehenden Ursachen ableitet. Schon die alten
Hellenen erkannten als höchstes Weltprincip die Ananke,
die blinde Heimarmene, das Fatum, das "Götter und
Menschen beherrscht". An ihre Stelle trat im Christenthum die
bewußte Vorsehung, welche nicht blind, sondern sehend ist, und
welche die Weltregierung als patriarchalischer Herrscher führt.
Der anthropomorphe Charakter dieser Vorstellung, die sich
gewöhnlich mit derjenigen des "persönlichen Gottes" eng
verknüpft, liegt auf der Hand. Der Glaube an einen "liebenden
Vater", der die Geschicke von 1500 Millionen Menschen auf unserem
Planeten unablässig lenkt und dabei die millionenfach sich
kreuzenden Gebete und "frommen Wünsche" derselben jederzeit
berücksichtigt, ist vollkommen unhaltbar: das ergiebt sich sofort,
wenn die Vernunft beim Nachdenken darüber die farbige Brille
des "Glaubens" ablegt.
Gewöhnlich pflegt bei dem modernen Kulturmenschen - geradeso
wie beim ungebildeten Wilden - der Glaube an die Vorsehung und die
Zuversicht zum liebenden Vater dann sich lebhaft einzustellen, wenn
ihm irgend etwas Glückliches begegnet ist: Errettung aus
Lebensgefahr, Heilung von schwerer Krankheit, Gewinn des großen
Looses in der Lotterie, Geburt eines lang ersehnten Kindes u. s. w. Wenn
dagegen irgend ein Unglück passirt oder ein heißer Wunsch
nicht erfüllt wird, so ist die "Vorsehung" vergessen; der weise
Weltregent hat dann geschlafen oder seinen Segen verweigert.
Bei dem ungeheueren Aufschwung des Verkehrs im 19. Jahrhundert hat
nothwenig die Zahl der Verbrechen und Unglücksfälle in
einem früher nicht geahnten Maße zugenommen; das
erfahren wir tagtäglich durch die Zeitungen. In jedem Jahre gehen
Tausende von Menschen zu Grunde durch Schiffbrüche, Tausende
durch Eisenbahn-Unglücke, Tausende durch Bergwerks-Katastrophen u. s. w.
Viele Tausende tödten sich alle Jahre
gegenseitig im Kriege, und die Zurüstung für diesen
Massenmord nimmt bei den höchstentwickelten, die christliche
Liebe bekennenden Kultur-Nationen den weitaus größten
Theil des National-Vermögens in Anspruch. Und unter jenen
Hunderttausenden, die alljährlich als Opfer der modernen
Civilisation fallen, befinden sich überwiegend tüchtige,
thatkräftige, arbeitsame Menschen. Dabei redet man noch von
sittlicher Weltordnung! Es soll durchaus nicht bestritten werden,
daß der heute noch herrschende und in den Schulen gelehrte
Glaube an eine "sittliche Weltordnung" - ebenso wie an eine "liebevolle
Vorsehung" - einen hohen Ideal-Werth besitzt. Er tröstet
die Leidenden, stärkt die Schwachen, erhebt im Unglück; er
befriedigt unser zweifelndes Gemüth und versetzt uns in eine
Ideal-Welt des "Jenseits", in welcher die Mängel des irdischen
Daseins im "Diesseits" überwunden sind. So lange der Mensch
kindlich und unerfahren genug bleibt, mag er sich mit diesen Gebilden
der Dichtung begnügen. Allein das fortgeschrittene Kultur-Leben
der Gegenwart reißt ihn gewaltsam aus jener schönen Ideal-Welt heraus
und stellt ihn vor Aufgaben, zu deren Lösung ihn nur
die vernünftige Erkenntniß der Wirklichkeit befähigt.
Unzweifelhaft wird die frühzeitige Anpassung an diese Real-Welt,
zweckmäßig in den Unterricht eingeführt und
auf die moderne Entwickelungslehre gestützt, den höher
gebildeten Menschen der Zukunft nicht allein vernünftiger und
vorurtheilsfreier, sondern auch besser und glücklicher machen.
Ziel, Zweck und Zufall. Wenn uns unbefangene Prüfung
der Weltentwickelung lehrt, daß dabei weder ein bestimmtes Ziel
noch ein besonderer Zweck (im Sinne der menschlichen Vernunft!)
nachzuweisen ist, so scheint nichts übrig zu bleiben, als Alles dem
"blinden Zufall" zu überlassen. Dieser Vorwurf ist in der
That ebenso dem Transformismus von Lamark und
Darwin wie früher der Kosmogenie von Kant
und Laplace entgegengehalten worden; viele dualistische
Philosophen legen gerade hierauf besonders Gewicht. Es verlohnt sich
daher wohl der Mühe, hier noch einen flüchtigen Blick
darauf zu werfen.
Die eine Gruppe der Philosophen behauptet nach ihrer
teleologischen Auffassung: die ganze Welt ist ein geordneter
Kosmos, in dem alle Erscheinungen Ziel und Zweck haben; es giebt
keinen Zufall! Die andere Gruppe dagegen meint
gemäß ihrer mechanistischen Auffassung: Die
Entwickelung der ganzen Welt ist ein einheitlich mechanischer
Prozeß, in dem wir nirgends Ziel und Zweck entdecken
können; was wir im organischen Leben so nennen, ist eine
besondere Folge der biologischen Verhältnisse; weder in der
Entwickelung der Weltkörper, noch in derjenigen unserer
organischen Erdrinde ist ein leitender Zweck nachzuweisen; hier ist
Alles Zufall! Beide Parteien haben Recht, je nach der Definition
des "Zufalls". Das allgemeine Kausal-Gesetz, in Verbindung mit
dem Substanz-Gesetz, überzeugt uns, daß jede Erscheinung
ihre mechanische Ursache hat; in diesem Sinne giebt es keinen Zufall.
Wohl aber können und müssen wir diesen unentbehrlichen
Begriff beibehalten, um damit das Zusammentreffen von zwei
Erscheinungen zu bezeichnen, die nicht unter sich kausal
verknüpft sind, von denen aber natürlich jede ihre Ursache
hat unabhängig von der anderen. Wie Jedermann weiß, spielt
der Zufall in diesem monistischen Sinne die größte Rolle im
Leben des Menschen wie in demjenigen aller anderen
Naturkörper. Das hindert aber nicht, daß wir in jedem
einzelnen "Zufall" wie in der Entwickelung des Weltganzen die
universale Herrschaft des umfassendsten Naturgesetzes anerkennen, des
Substanz-Gesetzes.
Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
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